Gottstein | Der Klang der Gegenwart | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 280 Seiten

Gottstein Der Klang der Gegenwart

Eine kurze Geschichte der Neuen Musik
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-15-962220-0
Verlag: Reclam Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Eine kurze Geschichte der Neuen Musik

E-Book, Deutsch, 280 Seiten

ISBN: 978-3-15-962220-0
Verlag: Reclam Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Freiheit in der Musik: musikalische Revolutionen und neue Klangwelten Die Neue Musik ist nicht in einem Augenblick entstanden: Spätestens ab 1950 haben Komponisten sich mehrfach eine neue Tonkunst vorgestellt, in Manifesten, in ihren Lebenswegen und ihren Kompositionen realisiert und damit eine ganz eigene, extrem farbige Bewegung angestoßen. Also eine westliche Erfindung nur für Spezialisten? Weit gefehlt! Björn Gottstein beleuchtet das Phänomen von seinen Anfängen bis heute in all seinen Facetten. Die Geschichte der Neuen Musik wird dabei sondiert (immer wieder kommen einzelne Komponisten zu Wort, wird ihr spezifisches Werk vorgestellt), kuratiert (das Buch versucht nichts weniger als einen Gesamtüberblick) und strukturiert (was hängt wie womit zusammen?) - eine mitreißende, faszinierende musikalische Entdeckungsreise von einem begnadeten Erzähler und Kenner der Materie und ein Muss auch für den Fan Klassischer Musik. Oliver Messiaen · Karlheinz Stockhausen · Gérard Grisey · Pierre Henry · George Crumb · Christian Marclay · Carsten Nicolai · Jennifer Walshe · Brian Eno · Steve Reich · John Zorn · Maryanne Amacher · Eliane Radigue · Pauline Oliveros · Rebecca Saunders · Marina Rosenfeld · Chaya Czernowin · Wolfgang Rihm · Helmut Lachenmann · György Kurtag · Salvatore Sciarrino · Hans Werner Henze · Harry Partch · Georg Friedrich Haas · Olga Neuwirth · AMM · Georges Aperghis · Peter Eötvös · Sofia Gubaidulina · Giacinto Scelsi · Iannis Xenakis · Christina Kubisch · Johannes Kreidler · Liza Lim · Misato Mochizuki

Björn Gottstein, geb. 1967, Redakteur für Neue Musik beim SWR in Stuttgart und seit 2015 Künstlerischer Leiter der Donaueschinger Musiktage.

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Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


1
Anfänge – trotzige Visionäre und überhebliche Propheten
Conlon Nancarrow ging es nicht gut. Er war 1939 schwer verwundet aus dem spanischen Bürgerkrieg zurückgekehrt. Er hatte als Mitglied der Lincoln-Brigade gegen das faschistische Franco-Regime gekämpft. Nun widmete er sich wieder seinem eigentlichen Beruf, dem Komponieren. In einem Konzert in New York wurde sein neues Septet uraufgeführt. Das Werk, komplex, aber keinesfalls unspielbar, war offenbar nur unzureichend geprobt worden, und die Aufführung wurde zum Fiasko. Gleichzeitig wurde Nancarrow politisch verfolgt: Man drohte ihm als überzeugtem Kommunisten und Widerstandskämpfer damit, seinen Pass einzubehalten. Es gab also gute Gründe, seinem bisherigen Leben den Rücken zu kehren. Nancarrow traf zwei Entscheidungen. Er emigrierte nach Mexiko-Stadt, wo er fortan zurückgezogen leben sollte. Und er kaufte ein mechanisches Selbstspielklavier, auch Player Piano, für das er fortan komponierte, um nicht mehr auf ausführende Musiker angewiesen zu sein. Diese zwei Entscheidungen sollten nicht folgenlos bleiben. Denn infolge dieses doppelten Rückzugs entstanden einige der ungewöhnlichsten und spektakulärsten Werke der jüngeren Musikgeschichte. Ein Selbstspielklavier wird mechanisch angetrieben. Dabei wird eine Papierrolle mit Löchern durch das Klavier gezogen. Ein Loch im Papier bedeutet, dass eine bestimmte Taste niedergedrückt wird und Musik erklingt. Das Instrument war eigentlich für Wirtshäuser und ähnliche Etablissements gedacht, damit Musik auch dann gehört werden konnte, wenn gerade kein Pianist zur Hand war. Nancarrow begann nun damit, seine musikalischen Ideen in solche Papierrollen zu stanzen. Keine Unterhaltungsmusik natürlich, sondern vielmehr Werke, in denen die Maschine die Rolle des Pianisten übererfüllte: Er komponierte halsbrecherische Tempi und vertrackteste Rhythmen. Zu seinen Studies for Player Piano gehören Kanons in hyperkomplexen Metren, aber auch durchgedrehte Boogie-Woogies. 40 Jahre lang komponierte Nancarrow nichts anderes. Da er zurückgezogen in Mexiko-Stadt lebte, wurde seine Musik entsprechend wenig bekannt. Erst in den 1980er Jahren wurden seine Arbeiten entdeckt und aufgeführt, und Nancarrow wurde zu einer Sensation. Revolutionen in der Musik können viele Gründe haben, Nancarrows Revolution war biographisch motiviert. Sie veranschaulicht, auf welch vielfältige Weise Neues in der Musik entstehen kann. Sie veranschaulicht aber auch, dass die Neue Musik nicht in einem einzigen Augenblick aus der Taufe gehoben wurde. Es gab viele Situationen in den 1940er Jahren, die zu einem radikalen Bruch mit der Vergangenheit führten. Wenn man heute über Neue Musik mit einem großen »N« spricht, dann ist damit nicht eine einzige Strömung, eine stringente und in sich abgeschlossene Entwicklung gemeint. Der Begriff Neue Musik ist ohnehin älter, denn der Frankfurter Musikkritiker Paul Bekker prägte ihn bereits 1919, um Musik zu beschreiben, die der Erneuerung des musikalischen Materials verpflichtet ist. Und natürlich gibt es auch bereits in dieser Zeit Umbrüche in der Musik. Doch was sich seit den 1940er Jahren ereignet hat, hat die Vorstellung davon, was Musik ist und sein kann, so grundlegend verändert, dass man hier von einer historischen Zäsur reden kann. Viele Komponierende haben in dieser Zeit eine neue Tonkunst imaginiert und in Manifesten, in ihren Lebenswegen und ihren Kompositionen umgesetzt. 1937 beendete der Komponist John Cage seinen Privatunterricht bei Arnold Schönberg in Los Angeles. Schönberg erinnerte sich später an diesen außergewöhnlichen Schüler, von dem er behauptete, er sei eigentlich gar kein Komponist, sondern ein genialer Erfinder. In diesem Jahr 1937 also (Cage war 25 Jahre alt) hielt er einen Vortrag in Seattle: The Future of Music – Credo. Der Vortrag wirkt im Rückblick regelrecht prophetisch. Der erste Satz lautet: »I BELIEVE THAT THE USE OF NOISE … TO MAKE MUSIC … WILL CONTINUE AND INCREASE UNTIL WE REACH A MUSIC PRODUCED THROUGH THE AID OF ELECTRICAL INSTRUMENTS.« Cage spricht über die Schönheit von Umweltgeräuschen, vom Klang eines Lkw bei 50 Meilen pro Stunde, vom Rauschen, wenn der Regler zwischen zwei Radiosendern gestellt ist, vom Regen. Er beschreibt, wie man mit solchen Klängen so komponieren kann, wie man vorher mit Noten komponiert hat, indem man ihre Tonhöhe und ihren Rhythmus manipuliert. Er denkt darüber nach, wie elektrische Instrumente der Zukunft aussehen könnten. Und fragt sich, ob man nicht den Begriff »music« als einen historischen ablegen sollte und stattdessen nur noch von »organization of sound« sprechen sollte. Gewiss, Cage hat all das nicht als Erster gedacht oder erfunden. Der Begriff »organization of sound« lehnt sich an den großen Vordenker der Moderne, den französisch-amerikanischen Komponisten Edgard Varèse, an, der von »son organisé« an Stelle von Musik sprach. Die ästhetische Würdigung des Geräuschs, vor allem von Maschinengeräuschen, findet man bereits bei den Futuristen und den Bruitisten am Anfang des 20. Jahrhunderts. Und zum Zeitpunkt des Vortrags war das Theremin (das ohne direkte Berührung gespielt wird bzw. dessen Tonhöhe durch bloße Handbewegungen verändert werden kann) bereits 17, das Ondes Martenot (das wie ein Klavier aufgebaut ist, mit dem man aber wie mit dem Theremin stufenlos Tonhöhen verändern konnte) neun Jahre alt: Die Epoche der elektronischen Musik und ihrer Instrumente hatte also bereits begonnen. Und trotzdem ist Cages Vortrag, den 1937 wohl nur wenige hörten und der erst 1958 im Druck erschien, einer der Schlüsseltexte der Neuen Musik. Zum einen, weil Cage so viele für die kommenden Jahrzehnte zentrale Punkte in seinem kurzen Text erkennt. Es ist, als habe er die später auf Musik drängend zukommenden Fragestellungen 1937 bereits vollkommen erfasst. Zum anderen, weil er im Indikativ schreibt. Sein Text weist wenige Angriffe, Invektiven oder Grübeleien auf. Cage stellt in The Future of Music klare Forderungen an die Musik der Zukunft. Nancarrow und Cage waren mit ihren Überlegungen nicht allein. Ähnlich wichtige Pioniere der US-amerikanischen Avantgarde der 1930er und 1940er Jahre waren Harry Partch, Henry Cowell und Lou Harrison – in einer Zeit, die dem offenen und freien Denken besonders gewogen war. Und in Europa? Auch hier öffnete sich das Denken nach 1945. Der Zweite Weltkrieg hatte viele Gewissheiten erschüttert. Vielen Komponierenden war klar, dass man nicht so wie vor dem Krieg würde weiterkomponieren können. Auf der Suche nach neuen Möglichkeiten unternahm Olivier Messiaen 1949 ein folgenreiches Experiment. Er wollte das, was Schönberg mit Tönen gemacht hatte, auf alle Aspekte der Musik übertragen. Schönberg hatte den zwölf Tönen Zahlen zugeordnet und aus diesen Zahlenreihen konstruiert, die dann mathematischen Verfahren unterzogen wurden. Diese Technik heißt ›Zwölfton-‹ oder auch ›Reihentechnik‹. Im Prinzip geht es darum, eine Ordnung herzustellen, in der kein Ton dominant ist, es also kein tonales Zentrum, also auch keine Tonart gibt. Messiaen ordnete nun auch andere Parameter des Klangs in Reihen an: die Dauer der Töne, die Lautstärke, die Art des Anschlags. Er selbst war von dem Verfahren nicht besonders überzeugt. Für ihn war das nur ein Experiment. Doch die Generation seiner Schüler war geradezu besessen von dieser Art zu komponieren. Jeder Ton, der erklingt, ist durch verschiedene Zahlenreihen vorherbestimmt. Man liest aus einer Zahlenreihe die Lautstärke ab, aus der nächsten, wie lange der Ton klingt. In Anlehnung an »Malen nach Zahlen« hat man das etwas spöttisch auch »Komponieren nach Zahlen« genannt. Das Ergebnis ist eine Musik, in der hörbare Zusammenhänge fehlen. Die Töne gleichen eher einzelnen Punkten. Entsprechend nannte man das später auch »punktuelle« oder »serielle Musik«. Zu Messiaens Schülern gehörten Pierre Boulez und Karlheinz Stockhausen. Gemeinsam mit Luigi Nono wurden diese Komponisten zu Wortführern der damals noch jungen Generation von Komponierenden. Da sie sich in Darmstadt bei den dortigen Ferienkursen trafen und dort auch Messiaens »Mode de valeurs et d’intensités« (»Modus der Werte und Intensitäten«) uraufgeführt worden war, wurden sie als »Darmstädter Schule« bezeichnet. Diese neue Methode des Komponierens erzeugt eine Musik, die nicht leicht zu hören ist. Zwar ist alles am Werk wohlstrukturiert. Da man die zahlenmäßigen Zusammenhänge aber hörend nicht erfasst, wirkt das Ganze doch einigermaßen diffus. Eine Anekdote aus Darmstadt bringt das Problem auf den Punkt. Dort hatte der belgische Komponist Karel Goeyvaerts ein derart punktuell...



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