E-Book, Deutsch, 183 Seiten
Grieser / Burchartz / Hopf Psychodynamische Psychotherapie mit Jugendlichen
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-17-032667-5
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 183 Seiten
ISBN: 978-3-17-032667-5
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Lange Zeit wurde die psychotherapeutische Arbeit mit Jugendlichen innerhalb der Psychoanalyse als schwieriges Unterfangen betrachtet. Heute ist die Arbeit mit Jugendlichen ein wichtiges Tätigkeitsgebiet für viele Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten. Dieses Buch stellt die Grundlagen der Psychotherapie mit Jugendlichen und ihrem Umfeld dar, angefangen bei den spezifischen Entwicklungsaufgaben und Krisen des Jugendalters, diagnostischen Überlegungen und typischen Krankheitsbildern, hin zu Fragen der konkreten Ausgestaltung der Behandlungssettings, der therapeutischen Beziehung, dem behandlungstechnischen Vorgehen und dem Einbezug von Bezugspersonen. Die theoretischen Überlegungen, technischen Hinweise und praktischen Beispiele zeigen auf lebendige Art, welchen Beitrag die Psychotherapie zur Entwicklung der inneren und äußeren Welt der Jugendlichen leisten kann.
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4 Die Entwicklungsaufgaben der Eltern
Der Einfluss der Eltern war in der psychologischen Forschung längere Zeit strittig. Manche Autoren vertraten die Meinung, dass in erster Linie der Einfluss der Gleichaltrigen für den Verlauf der Adoleszenz entscheidend sei. Doch zeigen mittlerweile nicht nur Befunde der Bindungsforschung, dass die Eltern weiter, sogar bis ins Erwachsenenalter hinein, relevante Bezugs- und Bindungspersonen für ihre Kinder bleiben. Je sicherer die Bindung zu den Eltern als primäre Bezugspersonen von den Jugendlichen erlebt wird, umso mehr Strategien der Emotionsregulation haben sie zur Verfügung (Beetz, 2013). Sichere Bindungen bleiben somit über die gesamte Kindheit und Adoleszenz wichtig für eine gesunde Entwicklung. Obwohl Jugendliche weniger auf die direkte Anwesenheit und die körperliche Verfügbarkeit der Eltern angewiesen sind, ist das Wissen, dass sie sich grundsätzlich auf die Unterstützung ihrer Eltern verlassen können, von hoher Relevanz. Eine Voraussetzung dafür besteht auf Seiten der Eltern darin, dass sie ihre elterliche Feinfühligkeit und Abstimmungsfähigkeit für den Erhalt der sicheren Bindung auch dann noch aufrechterhalten können, wenn die adoleszenten Autonomiestrebungen so intensiv werden, dass sie die Beziehungen zu den primären Bezugspersonen einer Zerreisprobe unterwerfen. Die Fähigkeit der Eltern, auch in sehr konflikthaften Phasen und Situationen eine partnerschaftliche Beziehung aufrechtzuerhalten, ist gerade deshalb von Bedeutung, weil die gemeisterten Konflikte nicht nur die Beziehung stärken, sondern auch die individuellen Kompetenzen des Jugendlichen (und seiner Eltern) fördern. Wichtig bleibt deshalb in solchen Situationen und Zeiten immer, dass es den Eltern und ihren Kindern gelingt, die Bezogenheit zu bewahren. Dies setzt voraus, dass die Erwachsenen mentalisierend mit der Situation umgehend können, was sich etwa darin äußern kann, dass sie auch während heftiger Auseinandersetzungen das Vertrauen behalten, dass man einander die eigenen Standpunkte mitteilen können wird (Diez Grieser & Müller, 2018). Midgley et al. (2017) arbeiten heraus, dass die Haltung der Eltern beziehungs- und mentalisierungsfördernd ist, wenn diese ein positives Interesse am mentalen Erleben des Kindes zeigen, emotional verfügbar sind und dem Kind Hilfestellungen geben, wenn es darum geht, den eigenen Reaktionen und denen der anderen einen Sinn zu geben. In Zeiten, in denen für die Kindheit sogenannte »Helikoptereltern« typisch zu sein scheinen, die ihre Kinder ständig beaufsichtigen und ihnen aus lauter Angst keine Autonomieentwicklung ermöglichen können, ist auch für den Ablösungsprozess der Adoleszenz die Rede davon, dass es oft die Eltern sind, die sich an die jugendlichen Kinder klammern und diesen die Ablösung und den Auszug aus dem elterlichen Heim erschweren oder gar unmöglich machen. Umgekehrt müssen die Eltern also zuerst ihre Kinder freigeben, sich weniger um sie kümmern, sich ihren eigenen Anliegen zuwenden, bevor sich die Jugendlichen von den Eltern lösen können. Für viele Eltern ist heute das Ziel nicht mehr, die Kinder beizeiten in die Selbstständigkeit entlassen zu können, sondern sie zehren selber von der emotionalen Beziehung, Nähe und Bindung zu ihren Kindern und sind dem Auszug der Kinder gegenüber deshalb durchaus ambivalent und nicht unbedingt förderlich eingestellt. Die Eltern bekommen in der Bewältigung der ambivalenten Gefühle, die der Jugendliche im Prozess der Ablösung ihnen gegenüber hat, die undankbare Rolle zugeteilt, vorübergehend vor allem als Träger der negativen Gefühle des Jugendlichen besetzt zu bleiben, während er die positiven Gefühle von seinen Eltern abzieht und seinen neuen Bezugspersonen schenkt (Mitscherlich, 1973). Die Eltern werden entidealisiert und kritisiert, repräsentieren das schale Alte, während die neuen Objekte draußen seine Zuwendung und sein Interesse zu mobilisieren vermögen. Aus all diesen Gründen können die Eltern die Entwicklung ihres jugendlichen Kindes dadurch am besten unterstützen, dass sie sich um ihre eigenen Entwicklungsaufgaben kümmern. Interessanterweise gleichen diese denen, vor denen ihre Kinder stehen, ziemlich ( Tab. 4.1, aus: Grieser, 2008): Tab. 4.1: Entwicklungsaufgaben der Adoleszenten und ihrer Eltern (aus: Grieser, 2008, S. 146) Es sollte nicht übersehen werden, dass zwar aus der Perspektive der Erwachsenen in der Adoleszenz die Adoleszenten schwierig werden, doch nicht ganz unberechtigt ist auch die entgegengesetzte, von den Jugendlichen oft polemisch angeführte Position, dass in dieser Phase in erster Linie die Eltern schwierig werden und damit den Jugendlichen das Leben schwermachen würden. Oft wird übersehen, welche wichtige Aufgabe jugendliche Kinder im Leben ihrer Eltern haben, welche Delegationen, narzisstische Funktionen, Sündenbockrollen sie tragen, die alle von den Eltern zurückgenommen werden müssen, wenn das Kind die Familie zu verlassen und sein eigenes Leben zu leben beginnt. In der Adoleszenz des ältesten Kindes der Familie, wenn dieses zwischen 12 und 16 Jahre alt ist, befindet sich die Beziehung der Eltern auf ihrem absoluten Tiefpunkt (Fend, 1990), sie sind erschöpft, belastet, in Frage gestellt. Verlässt das erste Kind das Haus, geht es dann mit der Zufriedenheit der Eltern mit ihrer Paarbeziehung wieder aufwärts. 4.1 Zur Rolle des Vaters
Die vielschichtige Rolle der Väter in der Adoleszenz wollen wir auf zwei Dimensionen beschränken: die Spiegelung des Jugendlichen und die Triangulierung seiner Beziehungen nicht nur zur Mutter, sondern auch zwischen Familie und außerfamiliärer Welt (vgl. auch Grieser, 2008). Väter spiegeln ihre Kinder anders als die Mütter, sie betonen im Allgemeinen stärker die Autonomie und Selbstständigkeit des Kindes. Die Väter trauen ihrem jugendlichen Kind schon früh Unabhängigkeit zu, Mütter nehmen hingegen stärker die Abhängigkeitsbedürfnisse des Kindes wahr. In einer Studie sahen Mütter »16-Jährige als so abhängig an wie Väter 12-Jährige« (Seiffge-Krenke, 2016, S. 25). Hemmen in der Extremausprägung Mütter damit die Autonomiebewegung ihres Kindes, so überfordern Väter ihre Kinder möglicherweise mit zu viel Autonomie. Steht die Mutter für Schutz und homöostatischen Ausgleich, so der Vater für Veränderung und die Bewegung weg von der Mutter, hinaus aus der Familie. Er wird damit oft als näher zur Welt außerhalb, der Welt der Gleichaltrigen stehend erlebt als die Mutter. Auch in der Adoleszenz kommt damit dem Vater wieder verstärkt eine triangulierende Funktion zu wie schon in der frühen Kindheit, der Zeit der frühen Triangulierung. Gerade dadurch, dass er vielleicht weniger präsent war als die Mutter, war er ein Modell für die Möglichkeit, sich von der Mutter zu entfernen und abzulösen. Auch wenn die jugendlichen Kinder weniger Zeit mit ihren Vätern verbringen als mit ihren Müttern und die Väter auch nicht die bevorzugten Gesprächspartner für intime Gespräche über die Sorgen und Nöte des Lebens sind (Seiffge-Krenke, 2016), so sind die Väter doch wichtige Orientierungsfiguren für den Weg hinaus in die Welt. Zudem sind sie bevorzugte Gesprächspartner, wenn es um politische oder philosophische Themen geht. Der Vater steht nicht nur stärker für Unabhängigkeit und die Orientierung nach außen, sondern hat auch einen stärkeren Einfluss als die Mutter darauf, was ihre Kinder da draußen in der Welt machen und wie anfällig sie für riskante Verhaltensweisen sind (Gallarin & Alonso-Arbiol, 2012). Die Entidealisierung des Vaters geschieht oft expliziter, die Konflikte werden mehr artikuliert, so wie auch der Rückzug von der körperlichen Beziehung zum Vater von beiden Geschlechtern stärker als der von der Mutter erfolgt. Besonders zwischen Vater und Sohn, aber auch zwischen Vater und Tochter kann sich eine quälende Distanz und eine gegenseitige vorwurfsvolle Gekränktheit breitmachen. Dies manifestiert sich als Rückzug zweier voneinander enttäuschter und sich missverstanden fühlender Menschen, die in ihren positiven Selbstanteilen vom anderen gespiegelt werden möchten und scheinbar nur Kritik, Vorwürfe und Ablehnung bekommen, die die Beziehungswünsche und positiven Beziehungsanteile überdecken. Die narzisstische Kränkung des Vaters, dass sein Kind andere Wege gehen möchte, als der Vater es gut fände, dass sein Kind weniger danach strebt, mit dem Vater Interessen zu teilen und Zeit zu verbringen als...