E-Book, Deutsch, 544 Seiten
Grossman Der Kindheitserfinder
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-446-25517-3
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 544 Seiten
ISBN: 978-3-446-25517-3
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Aaron Kleinfeld, immer ein bißchen langsamer und kleiner als seine Freunde, verfügt über eine bewundernswerte Beobachtungsgabe und eine blühende Phantasie. Und weil er mit Gideon und Zachi, die sich James-Bond-Filme ansehen und den Mädchen nachpfeifen, irgendwie nicht ganz mitkommt, zieht er sich immer mehr zurück. Seine Kinderwelt will Aaron um keinen Preis gegen die der Erwachsenen eintauschen, denn Erwachsenwerden ist eine Falle!
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1
Aaron stellte sich auf die Zehenspitzen, um besser sehen zu können, was unten geschah – wie sein Vater und seine Mutter hinausgingen, um am Ende des schwülen Hamsin-Tages ein wenig frische Luft zu schnappen. Sie sind so klein von hier aus. Er spürte den Geschmack von Staub auf den Lippen und in der Nase. Seine Augen glänzten. Es ist nicht schön, ihnen so zuzusehen. Wie – so. So von oben. Sie sind richtig winzig. Wie zwei Puppen. Die eine groß und dick und langsam, die andere klein und ganz spitz. Das ist nicht schön. Aber es ist auch komisch. Und was komisch ist, macht auch ein bißchen angst. Und es ist vor allem ärgerlich, daß auch Zachi und Gideon, die neben ihm stehen, seine Eltern so sehen. Aber sich von dem Anblick trennen, das kann er nicht. Los, kommt endlich, murrte Zachi, der seine dicke Nase an die Jalousie gedrückt hatte, sie wird gleich zurückkommen, und das wird unser Ende sein. Seht mal, flüsterte Aaron, da kommt auch Anderthalb Groschen. Er stirbt bald, sagte Gideon, schaut, wie gelb er ist, der Kammer, man sieht sogar von hier, daß er sterben wird. Die Mutter und der Vater blieben stehen, um mit Esther und Avigdor Kaminer von Eingang A zu sprechen. Fragt nicht, was das für Qualen sind, stöhnte Esther Kaminer. Der riesige Feigenbaum auf dem Bürgersteig zeigte und verdeckte sie abwechselnd, und das Gespräch gelangte nur in Fetzen zum Fenster im dritten Stock. Ein Wunder, daß er lebt, meinte sie und schüttelte den Kopf, der ihrem großen Mann bis zur Brust reichte, und die Mutter schnalzte mit der Zunge und sagte, man darf ihnen bloß nicht in die Hände fallen, sie brauchen uns nur, um für ihr Diplom zu lernen, und dabei zerschneiden sie uns in kleine Stücke; und der hochgewachsene Avigdor Kaminer, dessen Haupt stets gebeugt war, stand schweigend abseits und schaute mit verschlossener Miene auf seine plappernde Gattin, auf Vaters stämmige Beine, auf denen die kurzen Hosen spannten, auf die Reihe von Ameisen, die einen umgedrehten Käfer schleppten – und wie teuer das alles ist, klagte Esther Kaminer, all die Medikamente und Diäten, und daß man nach der Dialyse mit dem Taxi nach Hause fahren muß; mir scheint, die Kaminer kann kaum noch abwarten, daß ihr Mann stirbt, sagte die Mutter zum Vater, als sie weitergingen. Aaron sah, wie sich ihre Lippen bewegten, und wußte, daß es das war, was sie gesagt hatte. Er kostet sie schon zuviel, aber es sieht ganz so aus, daß sie nach ihm an der Reihe ist, denn außer all den Päckchen, die sie immer mit sich herumträgt und überall fallen läßt, fällt ihr jetzt auch noch das ganze Haar aus, und wieviel sie auch zusammenleiht und spart, man kann schon da und dort ihren Schädel sehen unter der Frisur. Der Vater nickt immer, wenn sie redet, auch wenn sie verstummt ist, und jetzt bückt er sich, um irgend etwas vom Bürgersteig aufzuheben, eine alte Zeitung oder eine Obstschale, das kann man schlecht von hier aus sehen, und die Mutter steht aufrecht da und schaut ihm zu. Faß mich ja nicht an, nachdem du diesen Dreck angerührt hast, hat sie bestimmt zu ihm gesagt, denn sie entzieht ihren Rücken seiner Hand, und schau mal, wer da kommt. Aaron sah das säuerliche Lächeln auf ihren Lippen, mal sehen, ob er uns überhaupt guten Tag sagen wird, dieser Snob, guten Tag, Herr Strasznow, wie geht es Ihrer Gattin? Da kommt dein Vater, sagte Aaron ohne jeden Ton in seiner Stimme. Los, wir gehen, meinte Gideon und rührte sich nicht von der Jalousie weg. Sein Vater: wie immer elegant gekleidet. Terylenhosen und eine Krawatte, auch an diesem schwülen Tag. Er ging mit seinen leicht tänzelnden Schritten an dem Vater und der Mutter vorbei, nickte, sein kleiner, fleischiger, stets zusammengekniffener Mund verzog sich einen Augenblick zu einer Miene des Widerwillens, das ist sein »Guten Tag«, es ist unter seiner Würde, aber den Vater drängte es plötzlich, ihn ein wenig aufzuhalten, »Kommen Sie von der … na, von der Universität?«, und Gideons Vater verzog wieder die Lippen; ich gehe, ich gehe, flüsterte Gideon lautlos; diese Miene ging jedem Wort seines Vaters voran wie das Räuspern einer verbitterten Seele, er brummte dem Vater und der Mutter irgend etwas zu, wandte sich ab und ging weiter; nicht mal zum Lüften – hu! ah! – öffnet er den Mund, der Herr Doktor, der Intelligenzler, der keinen Groschen nach Hause bringt, und seine Frau muß sich die Finger mit Tipparbeiten ruinieren, murrte die Mutter innerlich, verabschiedete sich jedoch höflich und mit freundlicher Miene von Herrn Strasznow und wich ein wenig zurück wie vor einer Kälte, die ihn begleitete. »Arik, merk dir – ich hab dir gesagt, daß wir verschwinden müssen«, sagte Gideon zu Aaron und entfernte sich von der Jalousie. »Aber wir haben doch noch gar nichts gesehen«, flüsterte Aaron, »was habt ihr euch denn so erschrocken?« Zachi und Gideon sahen einander an. »Hör mal, Arik«, fing Gideon wütend an und schaute auf seine Sandalenspitzen, »um die Wahrheit zu sagen … ich wollte es dir schon vorhin sagen, bevor wir reingingen …« – »Nicht jetzt!« brauste Aaron auf, und sein kleines Gesicht mit den scharfen Zügen lief rot an, »jetzt machen wir es genau so, wie wir es uns vorgenommen haben!« Er ging wieder ins Zimmer zurück, das jetzt noch wundersamer schien, Zachi und Gideon folgten ihm widerwillig, aber auch sie wurden augenblicklich wieder von dem leisen Atmen der geheimnisvollen Wohnung in Bann gezogen, und sie schritten schweigend über die weichen Teppiche und Brücken, die den Fußboden sprenkelten, schlüpften seitlich an dem schwarzen Wal vorbei, dem düsteren Flügel, der mit seiner aufgerissenen Kinnlade das ganze Wohnzimmer beherrschte; wer hätte ahnen können, daß mitten in ihrer Wohnsiedlung zwischen den dichtgedrängten, wie eine Linsensuppe dampfenden Wohnungen still und leise so ein bläulicher Eiswürfel schwebte. Aaron zeigte mit vorsichtigem Finger auf die drei schlanken Elfenbein-Neger, die auf einem der Bücherregale standen, blieb dann vor einer Gruppe kleiner Holzfiguren stehen, die wie eine Art Gemeinde auf der Kommode in der Ecke des Zimmers versammelt waren: nackte Männer und Frauen, die sich tanzend an den Händen hielten, ein kauender Junge mit in die Hand gestütztem Kinn, und ein Torso, der nur aus weiblichen Rundungen bestand – und dachte über seine Gitarre nach, die schon seit einem halben Jahr mit Sprüngen und gerissenen Saiten in ihrem Futteral lag; er hatte sich selber beigebracht, auf ihr zu spielen, er spielte sehr schön, seine Schwester Jochi meinte, wenn er spiele, habe er ein goldenes Leuchten in den Augen. Doch sie wollten ihm keine neue kaufen, und bis zu seiner Bar-Mizwa waren es noch anderthalb Jahre, und auch dann hatten sie andere Pläne für ihn. Ärgerlich ging er an den Wänden entlang, blieb mit in die Hüften gestützten Händen vor einem großen Bild stehen, einer Burg, die auf einen Felsblock gegossen war und mit ihm zusammen ins Meer fiel; Bilder hat die, nichts versteht man auf diesen Bildern, murrte er und ereiferte sich, seht euch das an, als hätte das irgendein Verrückter gemalt. Gideon bemerkte widerwillig, daß sein Vater das moderne Kunst nenne, und Aaron kam es vor, als hörte er dieses Wortpaar aus dem Mund von Gideons Vater, als breche es zwischen dessen Lippen hervor, ich würde einen Hammer nehmen und die Bilder mitsamt den Wänden zerschlagen, brauste er plötzlich auf, und seine beiden Freunde sahen ihn an, die betrügen einen damit, einfach so! Man sagt, daß das Kunst ist, aber es ist Betrug! Und als er einen hohlen, unreinen Klang im Inneren spürte, trat er zur Bekräftigung seiner Worte gegen die Fußbodenleiste und wich erschrocken zurück: es kam ihm vor, als brumme der Flügel und wolle ihn warnen. Jetzt laßt uns verschwinden, jammerte Zachi wimmernd, wir haben genug gesehen. Wir haben nichts gefunden, und wir haben immer noch keine Beweise. Alles Unsinn, was du da sagst, daß sie keinen Schatten hat, setzte Zachi mit quengelnder Stimme fort. Natürlich hat sie keinen Schatten, sagte Aaron geistesabwesend, während er die Bücher auf den Regalen betrachtete, dicke, große Bände, in englischer Sprache geschrieben. Tatsache ist, daß wir sie nie ohne einen Sonnenschirm im Sommer und einen Regenschirm im Winter gesehen haben, Tatsache ist, daß sie, wenn wir sie beobachtet haben, nur im Schatten von Häusern oder Zäunen oder Bäumen gegangen ist, sie täuscht so alle. Zachi schnaubte ärgerlich, trat von einem Bein aufs andere und drückte sie in seiner Not aneinander. In seinem großen Gesicht, das aussah wie eine geschälte Kartoffel, in die ein Paar schwarze Perlaugen gesteckt worden waren, waren Wut und Feindseligkeit. Er ging zur Jalousie, schaute zwischen den Lamellen durch und wich erschrocken zurück. Aaron, der die Bewegung gespürt hatte, eilte zum Fenster. Unten, zwischen den Blättern des Feigenbaums, tauchte ein dicklicher, schlaffer Mann auf und sah sich prüfend um. Gideon trat ebenfalls an die Jalousie. Der Mann ging zu einem winzigen grünen Fiat und stöberte in seinen Taschen. Obwohl Aaron ihn zum ersten Mal sah, wußte er sofort, wer er war, und spürte, wie sein Herz klopfte. Als er zehn Jahre alt war, hatte er zum ersten Mal gehört, daß sich Zachis Mutter, Malka Smitanka, einen Hausfreund hielt. Er verfolgte sie damals heimlich und beobachtete sie jedesmal aufmerksam, wenn sie das Haus verließ, sah von dem Hausfreund jedoch nichts. Der Mann zog seinen Hosengürtel zurecht, strich sich über das spärliche Haar und stieg ins Auto. Zachis Lippen murmelten die ganze Zeit über, vielleicht fluchte er, vielleicht rief er innerlich bis nach Afrika, bis zu seinem Vater, er solle sofort den Bulldozer stehenlassen, auf dem er für die Wasserwerkgesellschaft ›Mekorot‹ arbeitete, und im Eiltempo nach Hause zurückkommen. Die...