Grossman Kommt ein Pferd in die Bar
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-446-25189-2
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 256 Seiten
ISBN: 978-3-446-25189-2
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Für eine gute Pointe gab Dovele schon immer alles. Als Kind lief er oft auf den Händen. Er tat das, um seine Mutter zum Lachen zu bringen und damit ihm keiner ins Gesicht schlug. Heute steht er ein letztes Mal in einer Kleinstadt in Israel auf der Bühne. Er hat seinen Jugendfreund, einen pensionierten Richter, eingeladen. Im Laufe des Abends erzählt der Comedian zwischen vielen Witzen eine tragische Geschichte aus seiner Jugend. Es geht um Freundschaft und Familie, Liebe, Verrat und eine sehr persönliche Abrechnung auf dem Weg zu einer Beerdigung. Dem Kleinstadtpublikum ist das Lachen vergangen. Den Leser hält David Grossman mit diesem grandiosen Roman bis zur letzten Zeile gefangen.
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– Einen wun-der-ba-ren Guten Abend, Gu-uten A-abend Caesaree-aa, hier in diesem herrr-lichen Musentempel. Die Bühne ist noch leer. Die Stimme schallt von irgendwo aus den Kulissen. Es wird stiller im Saal, die Leute lächeln erwartungsvoll. Plötzlich fliegt ein mickriges, bebrilltes Männlein auf die Bühne, als habe jemand es hinausgeschmissen oder -gekickt. Ein paar Stolperschritte, fast knallt er auf die Bretter, sieht aus, als könne er sich gerade noch mit beiden Händen abfangen, dann reckt er mit einem Ruck den Hintern in die Höhe. Vereinzelte Lacher und Applaus. Noch immer kommen Leute aus dem Foyer in den Saal, schwatzen laut. Meine Damen und Herren, presst ein Mann hinter dem Beleuchtungspult durch die zusammengebissenen Zähne, bitte begrüßen Sie Dovele G.! Applaus! Der Mann auf der Bühne steht weiterhin mit nach oben gerecktem Hintern da. Die große Brille hängt ihm schief auf der Nase. Dann, ganz langsam, dreht er das Gesicht zum Saal, mustert das Publikum, lange und ohne mit der Wimper zu zucken. – Ach nee, knurrt er, das ist hier gar nicht Caesarea, was? Gelächter. Er richtet sich allmählich auf, wischt sich den Staub von den Händen. Hat mein Agent mich mal wieder verscheißert? Amüsiertes Schmunzeln. Zwischenrufe, Kommentare. Der Mann starrt fassungslos ins Publikum: Wie bitte? Was sagen Sie? Die Lady an Tisch sieben, ja genau, Sie, gratuliere zu den Lippen. Die Frau kichert und schlägt die Hand vor den Mund. Der Mann geht dicht an den Bühnenrand, beugt sich ein paar Mal vor und zurück. Kein Scheiß, Mylady, haben Sie eben gesagt Netanja? Seine Augen werden groß und größer, bis sie die Brillengläser ganz ausfüllen. Ich glaub’s ja nicht. Sie haben die Stirn, Sie haben echt die Frechheit, mir einfach so vor den Latz zu knallen, dass ich hier auf ’ner Bühne in Netanja bin? Ohne Schmu? Ich meine, ohne kugelsichere Weste, total ungeschützt? Er kreuzt die Hände über dem Gemächt. Das Publikum brüllt jetzt vor Lachen. Einige pfeifen. Noch immer kleckern Gäste herein, Paare, eine Gruppe junger Männer, vermutlich Soldaten auf Ausgang. Der kleine Saal füllt sich langsam. Wer sich kennt, winkt sich zu. Aus der Küche erscheinen drei Kellnerinnen in grellvioletten Shorts und Trägerhemdchen und schwärmen zwischen den Tischen aus. – Aber nochmal zu Ihnen, mein Schnullermündchen – er grinst der Frau an Tisch sieben ins Gesicht –, wir sind noch nicht fertig, wir zwei, wir müssen das dringend besprechen … denn Sie haben Niveau, das seh ich doch. Und Geschmack erst. Wirklich originell, wenn ich Ihre Frisur richtig interpretiere, Kuppelbaudesign, würd ich sagen – liege ich ganz falsch, wenn ich vermute, da war derselbe Designer am Werk wie bei den Moscheen auf dem Tempelberg oder beim Reaktor in Dimona? Gelächter. Und ich meine, ich rieche da auch einen Haufen Kohle … stimmt’s oder hab ich recht? Die Crème de la Crème der Gattung Blutsauger, ja? Ach nein? Bestimmt nicht? Dann will ich Ihnen mal was sagen. Ich seh nämlich noch etwas, Botox de luxe, zum Beispiel, und diese Brustverkleinerung … obwohl, die ist ein bisschen aus dem Ruder gelaufen. Also, ich persönlich, ich hätt dem die Hände abgehackt, diesem Chirurgen. Das können Sie mir glauben. Die Frau presst die Oberarme vor den Brustkorb, schlägt die Hände vors Gesicht und quiekt durch die Finger, als ob sie durchgekitzelt würde. Der Mann eilt beim Reden quer über die Bühne, reibt sich die Hände, mustert das Publikum. Er trägt Cowboystiefel mit hohen Hacken, seine Schritte klingen wie trockenes Getrappel. Eins müssen Sie mir noch erklären, mein Schätzchen, ruft er vom anderen Ende der Bühne, ohne die Frau anzusehen, wie kann denn eine kluge Frau wie Sie nicht wissen, dass man Menschen gewisse Dinge schonend beibringen muss, behutsam, wohlüberlegt. Mit so was kann man einen doch nicht einfach überfallen, so: Ey, Alter, das ist Netanja hier! Zack! Für mich ist das unterste Schublade. Da muss ein Mensch doch drauf vorbereitet werden, erst recht wenn er höchstens noch ’ne Viertelportion ist. Er zerrt sein verwaschenes T-Shirt hoch, und durch den Saal geht ein spontaner Seufzer. – Etwa nicht? – Er schwenkt den nackten Oberkörper nach rechts und links zu den Zuschauern seitlich der Bühne und grinst breit. Sieht man ja wohl, oder? Nur Haut und Knochen. Na ja, vor allem Knorpel. Wär ich ein Pferd, die hätten mich längst zu Leim verarbeitet, das könnt ihr mir glauben. Verlegenes Lachen, ein paar Zuschauer prusten angewidert. Und das merken Sie sich jetzt mal, mein Täubchen, gurrt er wieder die Frau an Tisch sieben an, damit Sie’s das nächste Mal wissen: Solche Nachrichten darf man nur ganz ganz behutsam an den Mann bringen. Da betäubt man den erstmal ein bisschen, nebelt ihm die Ohrläppchen ein: Glückwunsch, Dovele, du Schönster unter den Männern, du hast das große Los gezogen! Man hat dich auserwählt, bei einem Experiment in der Küstenebene dabei zu sein. Dauert auch nicht lange, eineinhalb Stunden, höchstens zwei, das ist die Maximalzeit, die man einen Menschen den Leuten hier ungeschützt aussetzen kann – Das Publikum lacht, und er schaut überrascht: Was lacht ihr denn, ihr Pfeifen. Der war über euch! Das Publikum lacht noch lauter, und er: Moment mal, damit wir uns richtig verstehen: Hat euch keiner gesagt, dass ihr hier nur die Vorgruppe seid, bevor wir das echte Publikum reinlassen? Pfiffe, Gebrüll, Gelächter. Lange Buhrufe aus mehreren Ecken des Saals; einige Leute schlagen auf die Tische, doch die meisten haben ihren Spaß. Ein weiteres Pärchen betritt den Saal, beide lang und dürr, flaumweiches, goldenes Haar hüpft auf ihrer Stirn, wohl ein junger Mann und eine junge Frau, vielleicht aber auch beides Männer, in schwarz-glänzender Montur, Motorradhelme unterm Arm. Der Mann auf der Bühne wirft ihnen einen Blick zu, und über seinem Auge wölbt sich eine kleine Falte. Er ist pausenlos in Bewegung. Alle paar Minuten stößt er beim Reden eine geballte Faust in die Luft, täuscht an wie ein Boxer, der seinem Gegner auszuweichen versucht, das Publikum amüsiert sich blendend, und er hält sich eine Hand über die Augen und sucht den Saal ab, der schon fast im Dunkel liegt. Er sucht mich. – Unter uns, meine lieben Freunde, jetzt müsst ich mir eigentlich die Hand aufs Herz legen und euch gestehen: Ich sterbe … für euch. Ich sterbe, Netanja, für dich! Stimmt’s? – Stimmt! antworten ein paar Jüngere aus dem Publikum. Und ich find es total geil, diesen Donnerstagabend mit euch zu verbringen, in diesem bezaubernden Industriegebiet. Noch dazu in einem Keller just über den attraktivsten Radonvorkommen der Region. Da reiß ich mir doch den Arsch auf mit Witzen am Meter, stimmt’s nicht? – Stimmt! grölt das Publikum. Nein, tut es nicht!, kontert der Mann auf der Bühne und reibt sich die Hände. Alles Fake, außer dem Arsch, weil, ehrlich gesagt, ich kann eure Stadt sowas von nicht ab. Macht mir eine Heidenangst, dieses Netanja. Jeder zweite auf der Straße sieht aus, als ob er im Zeugenschutzprogramm ist, jeder dritte hat irgendwen im Kofferraum liegen, frisch verpackt in schwarzer Plastikfolie. Eins könnt ihr mir glauben, wenn ich nicht für drei wunderbare Frauen und außerdem drei, vier, fünf Kinder Alimente zahlen müsste, fünf Finger machen eine chamssa, er streckt dem Publikum seine gespreizte Hand entgegen, ich schwör euch, ihr seht hier den ersten Mann der Weltgeschichte mit einer postnatalen Depression, und zwar einer fünffachen, na ja, genau genommen vierfach, zwei sind ja Hand in Hand gekommen, Zwillinge, mein ich. Aber eben doch fünffach, wenn wir die Depression nach meiner eigenen Geburt mitrechnen. Andererseits, ein Gutes ist dabei rausgesprungen, für euch, für Netanja, die Aufregendste unter den Städten, denn ohne meine fünf Vampire mit ihren Milchzähnchen stünde ich heut Abend nicht hier. Für die lausigen siebenhundertfünfzig Schekel, die Joav mir zahlt, ohne Quittung und ohne ein gutes Wort? Also dann, Leute, lasst uns heut Abend feiern, feiern, dass sich die Balken biegen, Applaus für Netanja, für die Königin Netanja! Die Zuschauer klatschen, etwas verstört über diese Wendung, doch sie lassen sich mitreißen vom herzlichen Gegröle im Saal und von dem zauberhaften Lächeln, das plötzlich in seinem Gesicht aufleuchtet und es völlig verändert. Der bitter asketische Gesichtsausdruck und auch der Hohn sind gewichen; im Blitzlicht eines Fotoapparats scheinen kurz die Züge eines sensiblen Intellektuellen auf, ein fast feinfühliges Gesicht, das in keinerlei Beziehung mit dem zu bringen ist, was dieser Mann da absondert. Sichtlich genießt er die Verwirrung, die er auslöst. Er dreht sich wie ein Zirkel um die eigene Achse, und als er einmal rum ist, ist sein Gesicht wieder bitter und verzerrt: Und nun höre, Netanja, welch erhabene Kunde ich für dich habe! Ihr werdet’s nicht glauben, aber heute hat die Vorsehung ein Geschenk für euch; genau heute, am zwanzigsten August, was ganz zufällig auch mein Geburtstag ist, danke, wirklich nett von euch – demutsvoll senkt er den Kopf –, ja, heute vor siebenundfünfzig Jahren wurde diese unsere Welt ein bisschen weniger lebenswert, danke, meine Süßen. Er stolziert die Bühne entlang, wedelt sich mit einem imaginären Fächer Luft zu. Wirklich nett von Ihnen, das war doch nicht nötig, jetzt übertreiben Sie aber. Der Kasten für die Schecks steht am Ausgang, Scheine dürfen Sie mir am Ende der Vorstellung an die Brust kleben, Sexcoupons sofort, bar auf Kralle. Einige Gäste heben die Gläser und stoßen auf ihn an. Weitere Pärchen betreten den Saal, die Männer klatschen beim Gehen und setzen sich an die Tische in der Nähe der früheren Bar; sie winken ihm zu, die Frauen rufen...