Grossman | Sei du mir das Messer | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 408 Seiten

Grossman Sei du mir das Messer

Roman
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-446-25520-3
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 408 Seiten

ISBN: 978-3-446-25520-3
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Jair sieht eines Tages eine fremde Frau, Mirjam, und ist von ihr hypnotisiert. Er schreibt ihr und die beiden beginnen, sich in Briefen gegenseitig Geschichten zu erzählen. Jair zumeist solche aus seiner Traum- und Seelenwelt, Mirjam scheinbar aus ihrem täglichen Leben. Bis sie ihm nach und nach verrät: Die Wahrheit sieht leider ganz anders aus. Ein Liebesroman in Briefen und eine Geschichte über das Verhältnis zwischen Mann und Frau und ihre unterschiedlichen Erwartungen an die Liebe.

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16.7. (Abend)
Hier stehe ich vor Ihnen, sagten Sie mir dort. Ja. Wissen Sie, ich bin mitunter ein bißchen schwer von Begriff. Beim ersten Lesen dachte ich, Sie bieten mir Ihre Kleider an, um meine Blöße zu bedecken, aber solch eine Idee paßt nicht zu Ihnen, ganz im Gegenteil. Später schien es mir, daß es eine Art einladendes Verführen war, extravagant, bizarr, etwas belustigend, ein wenig plump, ein verbaler Striptease. Aber auch wenn Sie den Brief derart begonnen haben sollten, änderte sich nach und nach Ihre Stimmlage. Da haben Sie Blöße, sagen Sie (oder so lese ich das jetzt), eine Blöße, die nicht wie ein Messer und nicht wie eine Wunde ist. Eine enthüllte verletzliche Nacktheit, etwas verschämt und verstohlen. Genau wie die Ihre. Keine makellose Nacktheit, die einer Frau meines Alters. Sehen Sie hin, sagen Sie, sie ist etwas beklommen, meine Nacktheit, und sie behilft sich mit diversen kleinen Tricks, um ihre Mängel zu verschleiern, aber sie ist auch sofort bereit, für den auf diese Machenschaften zu verzichten, der sie mit einem wohlwollenden Blick betrachten will. Hier ist eine Nacktheit, die von Kleidung Gebrauch macht (sagen Sie?), von Blusen, Kleidern, Büstenhaltern, Gürteln, so wie Menschen Worte benutzen, die Worte jener; Sie jedoch, komm her und faß an, fühle, hier ist eine Nacktheit, die auch heilen kann. Mirjam, zwanzigmal am Tag sage ich mir – sie will dir wirklich und wahrhaftig helfen. Und das ist in meinen Augen ein Wunder, denn tief in meinem Herzen begreife ich noch nicht, was Sie an mir finden, und ich kann kaum glauben, daß sie mir passiert, diese Beziehung zu Ihnen. Sagen Sie mal, was kann ich Ihnen geben? Und was gebe ich? Und was ist in mir, das Sie so für mich einnimmt? Bisweilen schreie ich mich in meinem Innern buchstäblich an: Hilf ihr wenigstens dabei, dir zu helfen, komm und stell dich vor sie, wie du bist, offen. Ohne all deine Spielchen und Fallbeile. Wovor hast du noch Angst. Lies, was sie schreibt, es ist mehr als deutlich … Und nicht genug, wenn ich jetzt nur versuche, diese Stelle in meinem Hirn zu finden, ohne Sie, ohne Ihre lesenden Augen, entzieht sie sich mir sofort, sie kühlt ab, sie wird gedrosselt. Das genau ist geschehen, als mein Brief versiegelt zurückkam, ohne daß Sie ihn gelesen hatten. Ich erfror. Ich dachte mir – nun, du bist verloren. Kürzlich schrieben Sie, wenn jemand ein starkes Gefühl von Ihnen negiere, sei Ihnen, als verleugne er Sie ganz und gar, als liquidiere er Sie regelrecht; damals schien es mir etwas übertrieben und schwülstig, aber als Sie mir den Brief zurückschickten und ich davon ausging, daß Sie mich nicht länger wollen, mich als für-Sie-empfundenes-Gefühl – konnte ich absolut nachvollziehen, was Sie mit »Verleugnen« meinten: Es gab ein paar Stunden, in denen ich regelrecht im Hohlraum meines Kopfes auf und ab lief, ohne jene Stelle zu finden oder auch nur den Weg zu ihr, und ich wußte, daß sie drauf und dran war, von neuem zu sterben, und ich befürchtete, daß ich, wenn Sie nicht mit mir dort sein wollten, es nie im Leben schaffen würde, allein den Weg zu finden. Ich weiß, daß ich hier murmele, aber ich weiß auch, daß Sie verstehen. Wer, wenn nicht Sie. Sie haben ein paar Andeutungen über die schlechten Jahre gemacht, die Jahre des inneren Sibiriens, die Ihrer ersten Ehe. Ich weiß nicht, was genau Ihnen in dieser Zeit passiert ist, aber als Sie jenes »persönliche Erz« beschrieben und daß Sie fühlten, wie Sie es durch Ihre pure Existenz entwerteten, da nie jemand danach verlangte, da nicht einmal einer auch nur die geringste Ahnung hatte, daß man es von Ihnen erbitten könnte … Drei, vier solcher Sätze haben Sie geschrieben, und auf einmal haben Sie mir einen Namen gegeben, Sie haben dem Mineral, das ich bin, einen Namen gegeben, diesem Mineral, das allein dadurch, daß es Sie berührte, einem beschleunigten Prozeß ausgesetzt wurde und Farbe, Wärme und Dichte änderte, ebenso seinen molekularen Würde-Ruchlosigkeit-Bau, was ist dem hinzuzufügen. Sie schreiben, wenn Sie nicht sicher wären, daß ich zu guter Letzt offen und mutig zu Ihnen käme, hätten Sie sich schon von mir getrennt. Ich weiß es, aber tief in meinem Innern fürchte ich auch, daß es Ihnen nicht gelingen würde. Ich möchte Ihnen schrecklich gern helfen, doch ich bin jeder Fähigkeit dazu beraubt. Verstehen Sie, beraubt kraft Gesetz, kraft meines beschissenen Schemas – etwas dort in dem weißen leeren Punkt im Zentrum des Seins läßt den Kopf hängen, jemand liegt dort tot darnieder. Mir bleibt nichts, als Ihre heroischen Wiederbelebungsversuche zu beobachten wie ein hilfloser Zuschauer, nicht mehr, und zu beten, daß Sie nicht aufgeben. 17.7.
Nur eine Notiz vom Tisch des Cafés. Hauptsächlich wegen des Vergnügens, Ihnen etwas aus Tel Aviv zu schicken. Ich hatte heute hier zu tun, im Norden, in der Gegend des Beit-Lessin-Theaters, ich war früh fertig, und anstatt sofort nach Hause zu fahren, bin ich ein bißchen herumspaziert, ich dachte, wie toll es doch wäre, wenn Sie bei mir wären. Nichts besonders Kühnes, sondern nur Hand in Hand mit Ihnen herumzulaufen, zusammen in einem Café zu sitzen. Ich habe sogar zwei Tassen Kaffee bestellt. Es ist nett, mit Ihnen zusammenzusein im Entspannungszustand. Sie beklagen sich hin und wieder, daß ich Sie zu sehr bedränge, als ob es irgendein »Ziel« gäbe, das ich mit Ihnen anpeilte (»Sie stehen unter Spannung, Sie sind ständig ›auf dem Sprung‹«). Apfelkuchen? Mit Pfeif-auf-Diät-Sahne? Gut, einen Teller und zwei Kuchengabeln. Die Kellnerin lächelt, und die Leute sehen herüber, sollen sie. Sie legen Ihre Hand auf meine, und wir frotzeln. Sie heben ein wenig den Saum und zeigen mir, unter dem Tisch, Ihre Schuhe, und Sie fragen, ob Sie noch so ein Paar kaufen sollten, sportlich, aber in kräftigem Orange. Ich habe Lust, mit Schuhen über die Stränge zu schlagen, sagen Sie, und ich verschlinge Ihre langen hellen Beine und sage, warum nicht, es würde zu Ihnen passen, erlauben Sie mir, sie Ihnen zu bezahlen? Sie lächeln mir zu und fragen, ob ich noch immer so vehement Ihre Brille ablehne, und ich sehe sie mir genau an, einen Moment – (Es verkohlt mir das Herz, als ich die Falle erkenne, die mir in Ihrem Gesicht auflauert, zwischen dieser Brille und diesen Lippen, und dennoch, sie ist zu wuchtig und zu streng …) Sie lassen mich quatschen und streicheln meine Hand, und ich bitte, und Sie sagen nein, und ich bitte wieder, und Sie sagen, Sie hätten es schon zweimal erzählt, was denn, frage ich listig, und Sie seufzen und erzählen erneut, wie es Ihnen gelang, die chinesische Studentin zu finden, die Sie vor Jahren an der Uni kennengelernt hatten, und wie sie Ihnen half, die Adresse des Verlages in Schanghai auszumachen. Und ich betrachte Sie und verschlinge jedes Wort von Ihren schönen Lippen, wie konnte es passieren, daß ich meinerseits nicht auf so etwas kam. Ich hätte darauf kommen müssen! Der Gedanke gefiel mir so sehr, erklären Sie, daß von der Milliarde Israelis wir beide die einzigen sein werden, die einmal pro Woche diese Zeitung beziehen. Und ich zitiere Sie stimmlos, mit den Lippen: »Schließlich sind auch die ›vier Milliarden Chinesen‹ nicht belegt«, und wir lachen beide, über Sie und über mich, Mir Jam und Ja Ir. Hören Sie mal: Hier hat gerade ein kleines Mädchen seinen Vater gebeten, seine Stimme so tief wie möglich zu senken. Der Vater produzierte eine Art »Bäh«, kräftig, ochsenähnlich, und sofort, aus allen Ecken des Cafés, stiegen leise Stimmen hoch, sehr verwandt, die aller Männer, die sich ebenfalls darin versuchten … Auch ich, was haben Sie denn gedacht. Sie wissen vielleicht, wie man diese Bäume mit der roten Blüte nennt, Mirjam? Sagen Sie mir, Jair, nach wem ist das Beit-Lessin-Theater benannt? Zuerst müssen Sie mir erzählen, wie Sie als Kind mit Anna gespielt haben, Mirjam. Ich habe es schon erzählt, Jair. Was macht es Ihnen aus, es noch einmal zu erzählen, Mirjam. Ich kann mich wirklich nicht erinnern, ob ich schon von den Fahrten nach Haifa erzählte, zu Bayers Musikalienladen in der Herzlstraße im Beit ha-Kranot? (Sie haben es erzählt, aber ich schweige.) Ich habe Ihnen doch von dem wunderbaren Notenheft geschrieben, das wir dort erstanden, mit den Impromptus von Chopin und dem Militärmarsch von Schubert, ich erinnere mich nur nicht daran, ob ich die Melodie oder die Begleitung spielte, aber Schluß jetzt, das genügt, ich habe das alles doch schon erzählt! Es stimmt, aber Sie haben es mir noch nie in Tel Aviv erzählt, und nie in diesem lila Kleid (dessen Oberteil sehr eng und halb durchsichtig ist, und unten, halten Sie mich fest, der Volant!), und überdies höre ich Ihnen mit Freude zu, wenn Sie über Musik sprechen. Oder Anna wird auf einmal vorbeigehen, mit einem ihrer schwindelerregenden Strohhüte, und wir werden sie einladen, sich zu uns zu setzen. Sie wird Platz nehmen, ihre Beine werden kaum bis zum Boden reichen, und sie wird ihren schlitzohrigen Blick zwischen uns beiden hin und her wandern lassen und alles verstehen. Kein Wort wird fallen, aber alles Notwendige wird in Erfahrung gebracht werden, und ich werde spüren, daß man mich hier in irgendeinen engen, sehr erlesenen Kreis aufnimmt, und ich werde mich vielleicht nicht einmal davor fürchten, daß wir einen Mitwisser haben, denn auf Anna – wie Sie immer wieder betonen –, auf Anna ist Verlaß (aber erzählen Sie ihr nichts, noch nicht). Ich beneide Sie um solch eine Freundin. Eine Busenfreundin. Ich? Mir? Solch einen Freund, wie Anna für Sie? Schön wär’s. Da sind diverse Ersatzmänner, aus der Armee,...


Loos, Vera
Vera Loos, 1955 in Saarlouis geboren, ist Literaturübersetzerin und bildende Künstlerin. Sie hat angewandte Sprachwissenschaft und Kunstgeschichte an der Universität des Saarlandes und der Universität Nantes studiert. Sie hat zahlreiche Romane aus dem Hebräischen übersetzt, u. a. von David Grossman, Batya Gur, Amos Oz und Meir Shalev. Vera Loos lebt und arbeitet in Saarbrücken.

Grossman, David
David Grossman wurde 1954 in Jerusalem geboren und gehört zu den bedeutendsten Schriftstellern der israelischen Gegenwartsliteratur. 2008 erhielt er den Geschwister-Scholl-Preis, 2010 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, 2017 den internationalen Man-Booker-Preis für seinen Roman Kommt ein Pferd in die Bar. Bei Hanser erschienen zuletzt Diesen Krieg kann keiner gewinnen (2003), Das Gedächtnis der Haut (2004), Die Kraft zur Korrektur (2008), Eine Frau flieht vor einer Nachricht (Roman, 2009), Die Umarmung (2012), Aus der Zeit fallen (2013), Kommt ein Pferd in die Bar (Roman, 2016), Die Sonnenprinzessin (2016) und Eine Taube erschießen (Reden und Essays, 2018).

David Grossman, 1954 in Jerusalem geboren, ein dezidierter Verfechter einer friedlichen Lösung des Nahostkonflikts, gehört wegen seiner differenzierten politischen Haltung und ungewöhnlichen Erzählphantasie zu den herausragenden Schriftstellern der jüngeren Generation.



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