E-Book, Deutsch, 616 Seiten
Grossman Stichwort: Liebe
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-446-25521-0
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 616 Seiten
ISBN: 978-3-446-25521-0
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Alle haben geglaubt, Großvater Anschel sei von einer 'Nazi-Bestie' umgebracht worden, doch eines Tages steht er, aus einer Irrenanstalt entlassen, vor der Tür: ein alter, frierender Mann, der unverständliches Zeug vor sich hin murmelt. Als müßte er immer wieder (wie damals im Lager) dem Obersturmbannführer neue Abenteuer der berühmten Kinderbande erzählen, Geschichten, die ihn als Schriftsteller berühmt gemacht haben. Eine schier unglaubliche Geschichte - und doch nur die Hälfte dieses mit mehreren internationalen Preisen ausgezeichneten Romans. Die andere gehört ganz dem neunjährigen Momik, der herauszufinden versucht, was der Großvater denn da murmelt, erzählt, erlebt haben könnte.
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Das geht so: Zuerst decken die Mutter und Momik ganz schnell den Tisch, und die Mutter holt die großen Töpfe aus dem Kühlschrank, wärmt das Essen auf und bringt die Portionen herein. Von dem Augenblick an wird es gefährlich. Die Eltern essen mit aller Kraft. Sie fangen an zu schwitzen und ihre Augen treten hervor, und Momik tut so, als esse er, während er sie die ganze Zeit vorsichtig beobachtet und sich fragt, wie aus Großmutter Henny eine so dicke Frau wie die Mutter hat herauskommen können und die Mutter und der Vater überhaupt einen so spindeldürren Jungen wie ihn bekommen konnten. Er kostet nur von der Spitze der Gabel, das Essen bleibt ihm im Hals stecken, weil er so angespannt ist, und das ist eben so, die Eltern müssen jeden Abend sehr viel essen, um stark zu bleiben. Einmal haben sie es schon geschafft, dem Tod zu entkommen, aber beim zweiten Mal wird er bestimmt nicht auf sie verzichten. Momik zerbröckelt das Brot in kleine Kugeln und ordnet sie in der Form eines Rechtecks an. Dann macht er einen noch größeren Teigball und teilt ihn genau in zwei Hälften und dann noch einmal in zwei. Und noch einmal. Man braucht die Hände eines Herzchirurgen für diese Feinarbeit. Und noch einmal in zwei. Er weiß, daß man ihm beim Abendessen deswegen nicht böse sein wird, denn niemand achtet auf ihn. Großvater im großen Wollmantel erzählt sich und Herneigel seine Geschichte und saugt dabei an einer Brotscheibe. Die Mutter ist schon ganz rot vor lauter Anstrengung. Sie kaut so fest, daß ihr Hals unter der Kinnlade nicht mehr zu sehen ist. Auf der Stirn des Vaters steht der Schweiß. Sie wischen die Töpfe mit großen Brotstücken aus, die sie dann hinunterschlingen. Momik schluckt Spucke, seine Brille beschlägt. Die Mutter und der Vater verschwinden und tauchen wieder hinter den Töpfen und Pfannen auf. Ihre Schatten tanzen hinter ihnen an der Wand. Plötzlich scheinen sie auf dem warmen Dampf der Suppe davonzuschweben, und er schreit fast auf vor Angst, Gott hilf ihnen, bittet er innerlich auf hebräisch und übersetzt es sofort ins Jiddische, damit Gott es auch versteht, mir soll sajn far dajne bejndelech, mich soll es treffen und nicht deine Knochen, wie die Mutter immer zu sagen pflegt. Und dann kommt endlich der Augenblick, in dem der Vater die Gabel beiseite legt und einen langen krechz ausstößt und um sich schaut, als merke er erst jetzt, daß er bei sich zu Hause ist, einen Sohn hat und da ein Großvater sitzt. Der Kampf ist zu Ende, sie haben noch einen Tag gewonnen. Da springt Momik auf und rennt zum Wasserhahn in der Küche und trinkt und trinkt. Jetzt kommen das Reden und die lästigen Fragen, aber wie kann man mit jemandem böse sein, der gerade durch ein Wunder gerettet wurde? Also erzählt ihnen Momik, daß er seine Hausaufgaben gemacht hat, morgen anfangen wird, sich auf die Bibelprüfung vorzubereiten, und der Lehrer wieder gefragt hat, warum ihm seine Eltern nicht erlauben, auf den Ausflug zum Berg Tabor mitzukommen (es ist ein neuer Lehrer, der noch nicht Bescheid weiß); inzwischen steht der Vater auf, setzt sich an den Tisch im Wohnzimmer und öffnet seinen Gürtel, plötzlich quillt sein Körper wie eine Flutwelle heraus und füllt das ganze Zimmer und drängt Momik bis zur Küche, und der Vater streckt die Hand aus und beginnt am Radio zu fummeln. Das macht er immer so: Er wartet, bis das Radio sich erwärmt hat, und beginnt dann, am Knopf zu drehen. Warschau Berlin Prag London Moskau, er hört kaum zu, dreht gleich weiter, weiter, Paris Bukarest Budapest, er hat überhaupt keine Geduld, von Land zu Land, von Stadt zu Stadt, er hört nicht auf zu drehen, und nur Momik errät, daß der Vater auf eine Mitteilung aus dem Land Dort wartet, die ihn aus seinem Exil zurückrufen wird, damit er endlich wieder der Kaiser sein kann, der er in Wirklichkeit ist, damit er nicht mehr der sein muß, der er hier ist, aber bisher hat man ihn noch nicht gerufen. Und schließlich gibt er auf und kehrt langsam zum Sender Kol Israel zurück, hört sich die Sendung »Die Knesset und ihre Ausschüsse« an und schließt die Augen, es sieht aus, als ob er schliefe, aber er hört jedes Wort, verlaßt euch drauf, und zu allem, was dort gesagt wird, macht er eine böse Bemerkung, überhaupt ist Politik eine Sache, die ihn fuchsteufelswild und gefährlich macht, und Momik steht im Kücheneingang und hört, wie die Mutter beim Abtrocknen mit monotoner Melodie die Messer und Gabeln zählt, und beobachtet heimlich die Hände des Vaters, die zu beiden Seiten des Sessels herunterhängen. Die Finger sind leicht angeschwollen und mit grauen Haaren bewachsen, aber niemand weiß, wie es sich anfühlt, wenn sie einen berühren, denn sie tun es nicht. Nachts liegt Momik wach im Bett und denkt nach. Das Land Dort muß ein wunderschönes kleines Land gewesen sein, mit Wäldern ringsum und blitzenden Eisenbahnschienen und schönen, bunten Waggons und Militärparaden und einem mutigen Kaiser und einem königlichen Jäger und einem klojz und einem Viehmarkt und durchsichtigen Tieren, die in den Bergen schimmern wie Rosinen im Kuchen. Das Problem ist nur, daß ein Fluch auf dem Land Dort liegt. Von hier an wird alles unklar. Eine Art Zauberbann ist plötzlich auf die Kinder und die Erwachsenen und die Tiere gelegt worden und hat alle erstarren lassen. Das hat die Nazi-Bestie getan. Sie ist durch das Land gezogen und hat mit ihrem Atem einfach alles erstarren lassen, so wie die Schneekönigin in der Geschichte, die Momik gelesen hat. Momik liegt im Bett und phantasiert, und die Mutter arbeitet in der Diele an ihrer Maschine. Ihr Fuß bewegt sich auf und ab. Schimek hat ihr das Pedal höher gestellt, weil sie sonst nicht drankommt. Im Land Dort sind alle mit einer ganz dünnen Glasschicht bedeckt, so daß sie sich nicht bewegen können, und man kann sie nicht anfassen, und es ist so, als würden sie leben, aber sie leben nicht, und es gibt nur einen Menschen auf der Welt, der sie retten kann, und das ist Momik. Momik ist fast wie Doktor Herzl, aber anders. Er hat sogar eine blau-weiße Fahne für das Land Dort gemacht, und zwischen die beiden blauen Streifen hat er eine große pulke gemalt, an deren Ende er den Rückbrenner eines Supermystére angebracht hat, und darunter steht: »Wenn ihr wollt, ist es kein Märchen«, aber er weiß trotzdem nicht, was er machen soll, und das ärgert ihn ein bißchen. Und manchmal kommen sie nachts in sein Zimmer und stehen an seinem Bett. Sie wollen sich von ihm verabschieden, bevor sie mit den Alpträumen anfangen. Dann wird Momik ganz angespannt vor lauter Anstrengung, sich schlafend zu stellen und wie ein gesunder und glücklicher Junge auszusehen, dem es sehr, sehr gut geht und der immer lächelt, sogar im Schlaf, oij luli luli, was für lustige Träume hier geträumt werden, und manchmal hat er eine richtig Einsteinsche Idee, zum Beispiel, wenn er so tut, als spreche er im Schlaf, und sagt, Wirf mir den Ball zu, Jossi, wir werden das Spiel gewinnen, Danny, und ähnliche Dinge, um sie glücklich zu machen, und einmal, nach einem besonders schweren Tag, als der Großvater nach dem Abendessen hat hinausgehen wollen und man ihn in seinem Zimmer einsperren mußte und er zu schreien anfing und die Mutter weinte, an diesem schweren Tag hat sich Momik schlafend gestellt und für sie die Nationalhymne gesungen, und das hat ihn so mitgerissen, daß er ins Bett gemacht hat, er hat alles getan, um ihnen zu zeigen, daß sie sich um ihn keine Sorgen zu machen brauchen und ihre Ängste und Sorgen nicht an ihn verschwenden müssen, sie sollen ihre Kräfte besser für die wirklich wichtigen Dinge aufheben, für das Abendessen und für ihre Alpträume und für das viele Schweigen, und da, gerade als er endlich einschläft, hört er von weitem, aber vielleicht träumt er das schon, wie Chana Zitrin zu Gott ruft, er solle sich ihr doch endlich zeigen, und er hört auch das leise Heulen der Katze, die unten im Keller verrückt geworden ist, und Momik nimmt sich vor, sich noch mehr anzustrengen. Er hatte zwei Brüder. Oder fangen wir lieber so an: Einmal hatte er einen Freund. Dieser Freund hieß Alex Tuchner. Er kam im vergangenen Jahr aus Rumänien und konnte nur ein paar Worte Hebräisch. Die Lehrerin Netta setzte ihn neben Momik, weil Momik ein gutes Beispiel geben würde und auch, weil er Klassenbester in Hebräisch war, und vielleicht auch, weil sie wußte, daß er sich nicht über Alex lustig machen würde. Als Alex sich neben Momik setzte, fing die ganze Klasse an zu lachen, weil beide Brillenschlangen waren. Alex Tuchner war ein kleiner, aber sehr starker Junge. Jedesmal, wenn er etwas ins Heft schrieb, traten die Muskeln auf seinem Arm hervor. Er hatte borstiges, gelbes Haar, und obwohl er eine Brille trug, sah sie nicht so aus, als sei sie zum Lesen gedacht. Er zappelte die ganze Zeit auf seinem Platz herum, und er redete nicht viel. Wenn er aber doch redete, dann rollte er das »r« so komisch wie die alten Leute, zu denen die Kinder »Polacken« sagten. Momik und Alex redeten kaum ein Wort miteinander. Aber dann beschloß Momik, endlich etwas zu tun, und im Naturkundeunterricht steckte er Alex einen Zettel zu und fragte ihn, ob er Lust hätte, ihn morgen nach der Schule zu besuchen. Alex zuckte mit den Achseln und sagte, meinetwegen. Momik konnte den Rest des Tages nicht mehr stillsitzen. Nach dem Abendessen fragte er die Mutter und den Vater, ob er einen Freund nach Hause bringen dürfe, die Eltern sahen einander an und fingen an, Fragen über Fragen zu stellen, wer der Freund sei und was er von Momik wolle, und ob er einer von uns sei oder einer von ihnen, und ob er nicht so einer sei, der stehle und überall im Haus herumstöbere, und was denn seine Eltern machten. Momik erzählte ihnen alles, und als sie schließlich meinten, es sei...