E-Book, Deutsch, Band 5844, 160 Seiten
Reihe: HERDER spektrum
Grün / Robben Grenzen setzen, Grenzen achten
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-451-82620-7
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Wege zu einem glücklichen Miteinander
E-Book, Deutsch, Band 5844, 160 Seiten
Reihe: HERDER spektrum
ISBN: 978-3-451-82620-7
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Neinsagen ist nicht leicht. Oft haben wir Angst vor den Konsequenzen oder ein schlechtes Gewissen. Doch wer nicht Nein sagen kann, wer immer allen Erwartungen nachkommen will, der wird seine Grenzen bald schmerzhaft spüren und vielleicht sogar krank werden. Nur wer seine eigene Mitte hat, kann über seine Grenzen hinauswachsen. Und wer seine Grenze kennt, kann auf den anderen zugehen und ihm wirklich begegnen. Egal ob in der Partnerschaft, im Beruf oder in der Erziehung, es braucht einen guten Ausgleich von Sich-Abgrenzen und Sich-Hingeben damit Begegnung gelingt. Ein klares und inspirierendes Buch, voller spiritueller und psychologischer Impulse. Damit Leben – und Zusammenleben – gelingt.
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Einleitung
In der Begleitung begegnen wir immer wieder dem Thema der Grenze. Es gibt viele Ratsuchende, die darunter leiden, dass sie sich einfach nicht abgrenzen können. Sie können nicht nein sagen, sondern stehen unter dem inneren Druck, alle Wünsche, die an sie herangetragen werden, zu erfüllen. Sie meinen, sie müssten allen möglichen Erwartungen anderer Menschen entsprechen. Sie haben Angst, nein zu sagen, weil sie befürchten, sich sonst nicht mehr zugehörig zu fühlen oder weil sie denken, Ablehnung zu erfahren, wenn sie etwas verweigern. Andere essen grenzenlos: Sie nehmen ihre eigene Grenze nicht wahr. Und sie leiden darunter, dass sie sich selbst keine Grenze setzen können. Wieder andere haben die Fähigkeit verloren, sich gegenüber Menschen in ihrer Umgebung abzugrenzen. Ihre Grenzen zerfließen. Sie nehmen sofort wahr, was die anderen fühlen. Aber das ist keineswegs nur positiv. Denn ihre eigenen Gefühle mischen sich ständig mit denen der anderen. Sie sind den Stimmungen ihrer Umgebung ausgesetzt und lassen sich davon bestimmen. Manchmal haben sie sogar den Eindruck, dass sie sich auflösen. So leben sie schutzlos. Wer die Lebensgeschichten solcher Menschen untersucht, merkt bald, dass die Ursachen dafür oft weit zurückliegen. Grenzenlose Menschen haben meist in der Kindheit eine Missachtung ihrer Grenzen erfahren. Solche Erfahrungen sind für die Betroffenen verletzend. Sie tun nicht nur weh, sie haben oft auch problematische Konsequenzen und lang anhaltende Nachwirkungen: Wir brauchen alle unseren Schutzraum. Aber da ist zum Beispiel die Mutter ohne zu klopfen ins Zimmer ihrer Tochter eingetreten, hat in deren Abwesenheit in den Schubladen gekramt oder ihr Tagebuch gelesen. Es zeigt sich immer wieder: Wer in der Kindheit solche Grenzverletzungen erlitten hat, tut sich nicht selten sein Leben lang schwer in seinen Beziehungen. Die Beispiele lassen sich fortsetzen. Was sie alle zeigen: Unser Leben kann nur gelingen, wenn es innerhalb bestimmter Grenzen gelebt wird. Wie aber gelingt menschliches Leben einer Person, das ja immer ein Leben in Beziehungen ist? Ohne die Fähigkeit, sich abzugrenzen, kann man seine eigene Person nicht wahrnehmen und sein Personsein nicht entwickeln. Schon ein Blick auf die Wortbedeutung deutet das an: „Person“ heißt ursprünglich „Maske“; das ist etwas, was ich vor mich halte. Durch die Maske hindurch kann ich Kontakt zum anderen aufnehmen. Das lateinische Wort „personare“ heißt „durchtönen“. Durch meine Stimme, durch das Sprechen erreiche ich die andere Person, auf diese Weise geschieht Begegnung. Damit aber Begegnung gelingt, braucht es einen guten Ausgleich von Grenze und Grenzüberschreitung, von Schutz und Sich-Öffnen, von Sich-Abgrenzen und Sich-Hingeben. Ich muss um meine Grenze wissen. Erst dann kann ich sie immer wieder überschreiten, um auf den anderen zuzugehen und ihm zu begegnen, ihn in der Begegnung zu berühren und darin möglicherweise einen Augenblick von Eins-Werden zu erfahren. Begegnung geschieht, so gesehen, immer an der Grenze. Ich muss bis an meine Grenze gehen, bis zum Äußersten, das mir möglich ist, um beim anderen anzukommen. Wenn Begegnung gelingt, sind Grenzen nicht mehr starr und trennend. Dann werden Grenzen fließend, dann geschieht an der Grenze und über die Grenze hinweg Eins-Werden. Aber Begegnung ist nichts Statisches, sondern immer etwas, was im lebendigen Vollzug geschieht. Nach der Begegnung geht jeder in seinen Bereich zurück, bereichert von der Erfahrung an der Grenze. Der richtige Umgang mit den Grenzen ist für den französischen Schriftsteller Romain Rolland sogar der entscheidende Schlüssel zum Glück, wenn er sagt: „Glück heißt seine Grenzen kennen – und sie lieben.“ Es geht also in seiner Sicht nicht nur um die Kunst, sich abzugrenzen, oder darum, seine Grenzen zu kennen. Wir sollen sie auch lieben. Das heißt nichts anderes als: Wir sollen einverstanden sein mit unserer Begrenztheit, dankbar sein für die Grenzen, die wir an uns und an den andern erfahren. Der Schlüssel zum Glück liegt darin, sich in seiner eigenen Begrenztheit zu lieben und auch die Menschen mit ihren Grenzen zu lieben. Das fällt nicht immer leicht, da wir von uns lieber Bilder von Unbegrenztheit entwickeln. Doch für Romain Rolland gilt es als ausgemacht: Wer sich mit seinen Grenzen aussöhnt und liebevoll mit ihnen umgeht, dessen Leben gelingt, der erfährt Glück. Viele Menschen leiden heute an Überforderung. Das kann viele Gründe haben. Ein immer wieder anzutreffender Grund: Überforderte und ausgebrannte Menschen haben ihre Grenze nicht beachtet. Sie leben über ihre Verhältnisse und merken irgendwann, dass sie ihr inneres Maß verloren haben. Ohne das rechte Maß aber gelingt das Leben nicht. Es gibt aber auch Menschen, für die etwas anderes zutrifft: Vor lauter Sich-Abgrenzen entdecken sie ihre Kraft gar nicht und sie wachsen nie über ihre eigene Grenze hinaus. Im Gegenteil: Sie bleiben in ihrer Enge stecken. Von solchen Menschen sagen wir, sie seien sehr begrenzt. Sie sehen nicht über ihren engen Gesichtskreis hinaus. Sie sind kaum belastbar. Sie sind unfähig, ihre eigenen Grenzen, aber auch die ihrer Gruppe, auszuweiten, um neues Leben zuzulassen. Wer über das Thema „Grenzen“ spricht, wird auch immer wieder mit aktuellen Fragen konfrontiert. In letzter Zeit wird etwa das Thema des sexuellen Missbrauchs zunehmend diskutiert, ein lange tabuisiertes Problem. Auch dabei handelt es sich immer um Nichtbeachtung von Grenzen. Auch unser eigener Körper ist ja eine Grenze, und körperliche Distanz gehört ebenso zu unserem Leben in der Gemeinschaft wie Nähe. Nähe ist dabei immer auch Ausdruck von Vertrauen. Vertrauen kann aber missbraucht und verletzt werden. Unsere Sprache kennt die Formulierung, dass einem jemand „zu nahe kommt“, wenn Grenzen überschritten werden. Missbrauch ist vor allem die Versuchung von Menschen, die in einer stärkeren Position sind: von Vätern, Onkeln, älteren Brüdern, von Seelsorgern, Therapeuten, Ärzten und Lehrern. Sie nehmen weder ihre eigenen Grenzen noch die der ihnen Anvertrauten wahr und missbrauchen Nähe und Vertrauen. Umgekehrt erleben wir freilich in der Begleitung auch Menschen, die unsere eigenen Grenzen nicht wahrhaben wollen. Sie können ein Nein nicht akzeptieren. Sie versuchen, mit allen Mitteln ihre eigenen Erwartungen durchzusetzen. Und sie wollen nicht verstehen, dass auch wir Grenzen haben, die wir nicht ständig ausweiten möchten. Auch Fragen der persönlichen Lebensgestaltung stehen in einem größeren gesellschaftlichen und politischen Zusammenhang: In einer sich globalisierenden Welt, die immer weniger Grenzen kennt, fällt es den Menschen offensichtlich ebenfalls schwer, zu ihren Grenzen zu stehen. Wir erleben zwar einerseits, wie befreiend es ist, wenn wir etwa innerhalb der EU von einem Land in das andere fahren können, ohne uns den früher oft so langwierigen und unangenehmen Grenzkontrollen unterziehen zu müssen. Auf der anderen Seite erleben wir auch die Gefahren der Grenzaufhebung. Die Identität wird unklar. Durch die offenen Grenzen haben zudem Kriminelle größere Chancen, und es gibt nicht nur einen Zugewinn an Freiheit, sondern es wachsen bei vielen Menschen auch Angst und Unsicherheit. In einer Epoche zunehmender Beschleunigung und ständiger Wachstumsforderung ändert sich zudem auch das Lebensgefühl. Alles gleichzeitig, alles sofort und jederzeit. So lautet das geheime Grundgesetz in einer Nonstop-Gesellschaft, ein Gesetz, nach dem viele heute leben. Pausenlos jagen die Menschen nach dem Glück oder nach dem, was sie dafür halten. Unsere Zeit leidet an der Maßlosigkeit und Grenzenlosigkeit. Das spürt man nicht nur im privaten Leben, sondern immer öfter auch im beruflichen Umfeld, wo der Druck im schwieriger werdenden wirtschaftlichen Umfeld zu steigenden Belastungen führt, die oft die Grenzen des Zuträglichen überschreiten. Viele meinen, sich immer mehr aufbürden zu müssen, um sich zu beweisen. Oder sie erfahren schmerzlich, wie ihnen von Vorgesetzten immer mehr an Arbeit zugemutet wird. Für viele gibt es auch keine Zeitgrenzen mehr. Alles lässt sich gleichzeitig erledigen: Beim Reisen telefoniert man, um andere zu informieren, wo man gerade ist. Man lässt sich nicht auf die Fremde ein. Man fährt in die Fremde und möchte doch den Kontakt nach Hause. So verwischen sich die Grenzen. Man überschreitet die Grenze in die Fremde nicht mehr, sondern löst sie auf. Solche Grenzenlosigkeit – in welchen Zusammenhängen auch immer sie auftaucht – tut dem Menschen nicht gut. Häufig macht sie sogar krank. Manche Therapeuten meinen, dass die heute so rapid zunehmende Krankheit der Depression ein Hilfeschrei der Seele gegen die Grenzenlosigkeit sei: Die Depression zwingt den Menschen, sich auf sich selbst zurückzuziehen. Sie soll ihn sozusagen vor dem Zerfließen schützen. Eine andere Grenzenlosigkeit zeigt sich im Konsum. Es muss immer mehr geben, alles muss uns sofort zur Verfügung stehen, jederzeit, sobald wir ein Bedürfnis danach verspüren. Das hat durchaus ein Doppelgesicht: Wenn wir alles kaufen können, ist es schwer, die eigene Grenze zu erfahren. Immer mehr Menschen verschulden sich. Sie können sich keine Grenzen in ihrem...