E-Book, Englisch, 296 Seiten
Gugutzer / Englert Sport im Film
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-7445-0732-5
Verlag: Herbert von Halem Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Zur wissenschaftlichen Entdeckung eines verkannten Genres
E-Book, Englisch, 296 Seiten
ISBN: 978-3-7445-0732-5
Verlag: Herbert von Halem Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Lange Zeit von den Sozial- und Kulturwissenschaften ignoriert und als bloße Mainstream-Unterhaltung stigmatisiert, erlangt der Sportfilm zunehmend wissenschaftliche Aufmerksamkeit. Der interdisziplinär angelegte Band verdeutlicht das vielfältige und vielschichtige, gleichwohl noch nicht annähernd ausgeschöpfte wissenschaftliche Analyse- und Reflexionspotenzial des Sportfilms. Die Beiträge der national und international renommierten Autorinnen und Autoren fokussieren im Besonderen den Sportspielfilm mit seinen zahlreichen Subgenres wie Football-, Basketball-, Box-, Olympia- und Kampfsportfilm. Das steigende Interesse am Sportfilm resultiert aus der wachsenden Einsicht, dass es sich hierbei um ein Genre handelt, das pointiert gesellschaftliche Zustände, kulturelle Ideologien sowie politisch-ökonomische Strukturen reflektiert und kritisiert. Der Sportfilm thematisiert historische Ereignisse, gesellschaftliche Entwicklungen wie auch individuelle und kollektive (Anti-)Helden. Er gibt Aufschluss über kulturspezifische Besonderheiten des Sports und dessen Verflechtung mit anderen gesellschaftlichen Handlungsfeldern. Darüber hinaus inszeniert er zeitgeisttypische und zugleich allgemeingültige (Körper-)Ideale, Werte, Konflikt- und Handlungsmuster. Der Sportfilm reproduziert damit nicht nur gesellschaftliche und sportliche Wirklichkeit, sondern konstruiert sie im Medium einer emotional wirkmächtigen Bildsprache gleichermaßen mit.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
Weitere Infos & Material
TULLIO RICHTER-HANSEN
He Got Game. Der Sportfilm als Genre
Zunächst scheint der Fall klar: Wenn sich ein Spielfilm um Sport dreht, gehört er dem Genre „Sportfilm“ an. Ebenso wie in einem Western Cowboys zu sehen seien, zeige der „Sportfilm“ Sportler bei ihrem Tun. Wie aber verhält es sich, wenn der Protagonist ein Trainer oder – wie etwa in Moneyball (2011) – Manager ist? Ist es stattdessen alleine das sicht- und hörbare sportliche Ereignis selbst oder vielmehr dessen fiktionalisierte Reimagination, die einen „Sportspielfilm“ konstituiert? Wie sind demnach Filme einzuordnen wie Cars (2006) oder Speed Racer (2008), in denen der Automobilsport zentral thematisiert wird, die mitunter jedoch anderen Filmgenres (etwa der Komödie bzw. dem Actionfilm) zugeordnet werden? Inwieweit der Begriff „Sportfilm“ – aus filmwissenschaftlicher Perspektive – als Genre verstanden werden kann, wird anhand von Spike Lees Film He Got Game diskutiert, der sich aufgrund seiner Plot- und Inszenierungsstruktur zur Veranschaulichung der Problematik besonders eignet. Die theoretische Grundlage bildet im Wesentlichen die Genretheorie des amerikanischen Filmwissenschaftlers Rick Altman. Aus Gründen der Übersichtlichkeit beschränkt sich die Betrachtung auf (US-amerikanische) Spielfilmproduktionen, lässt also insbesondere den Dokumentarfilm außer Acht. 1. Genretheorie Kategorisierungen in Genres gehören dem Alltag kultureller Praxis an. Selbst medienübergreifende Etikettierungen wie „Krimi“ oder „Horror“ halten einer strengen wissenschaftlichen Prüfung indes nicht uneingeschränkt stand.9 Für die weitaus weniger verbreitete Bezeichnung „Sportfilm“ soll daher eine grundsätzliche Skepsis den Ausgangspunkt der Überlegungen bilden. Genre bedeutet Gattung oder Art und beschreibt somit zunächst nicht mehr als eine bestimmte Gruppe von Entitäten, zumeist aus dem weiten Feld der Kunst, die unter mindestens einem spezifischen Aspekt Gemeinsamkeiten aufweisen. Die Genretheorie ist – wenn auch zunächst nicht als solche bezeichnet –beinahe so alt wie die frühsten Reflektionen von Kunst und fußt auf dem Klassifikationssystem Aristoteles’. In Adaption und Weiterentwicklung vor allem literaturwissenschaftlicher Ansätze ist die Genretheorie im 20. Jahrhundert auch in der Film- und Medienwissenschaft aufgegriffen worden. Eine der bislang umfangreichsten Theorien zum Filmgenre hat Rick Altman (1999) vorgelegt, der aus einer kritischen Diskussion historischer Positionen sein komplexes System der Genrekommunikation entwickelt. Nach der Frühphase des Kinos sei, so Altman, um 1910, als das Filmangebot erstmals die Nachfrage überstiegen hatte, eine filmische Genre-Terminologie entstanden. Aus Gründen der Verständigung habe man begonnen, Begrifflichkeiten aus Literatur und Theater zu entlehnen oder schlicht die zentrale Thematik oder Produktionspraktik des jeweiligen Films zu benennen. Eine bewusste Genrefilm-Produktion ist hingegen erst mit der Etablierung des Hollywood-Studiosystems in den 1930er Jahren entstanden. Altman stellt hier die Begriffe „Filmgenre“ und „Genrefilm“ einander gegenüber (Altman 1996: 253f.): Das eher passive, von außen zugeschriebene Filmgenre sei somit dem aktiveren, bewusst hervorgebrachten Genrefilm unterzuordnen.10 Auf dem Weg zu einer dezidierten Genrefilm-Produktion findet nach Altman ein mehr oder minder linearer Prozess statt, der sich durch eine sprachliche Kette veranschaulichen lässt und von einer systematischen Substantivierung zunächst vorangestellter Adjektive geprägt ist: drama ? comic drama ? comedy ? romantic comedy ? romance ? musical romance ? musical...11 Etabliert sich ein bestimmtes System zwischen Produzent und Rezipient, nennt Altman mehrere von einem Filmstudio hervorgebrachte Filme, die demselben oder zumindest einem ähnlichen Prinzip folgen, zunächst „cycles“ (Altman 1999: 60ff.). Ein solcher Zyklus, auch „Minieinheit“ (Altman 1996: 258) genannt, bildet somit die Vorstufe für ein mögliches Genre. Erst wenn auch andere Studios „cycles“ aufgriffen, könnten daraus übergreifende, substantivierte Genres entstehen. Auch wenn Altman die finanziellen Vorzüge einer Festigung klar abgegrenzter Genres für Filmproduzenten hervorhebt, weist er zugleich auf ein geradezu gegenteiliges Bestreben vieler Studios hin: Da durch ein allzu eingrenzendes Genre-Vokabular ganze Zuschauergruppen abgeschreckt werden könnten, liege gerade die Vermischung und Neuanordnung verschiedener Genres im Interesse der Produzenten (Altman 1999: 128f.) – ein Phänomen, das sich auch heute noch auf Plakaten und in Filmvorschauen beobachten lässt. Der Schritt vom „cycle“ zum Genre gilt für Altman jedoch keinesfalls ausschließlich für die absichtsvolle Genrefilm-Produktion. Der wesentlich häufigere Fall einer – zumeist retrospektiven – Herausbildung von Genrebegriffen durch Filmzuschauer („critics“) laufe ähnlich, also schrittweise ab (ebd.: 77). Neue Genre-Klassifikationen entstehen, so Altman, jedoch nicht alleine aus den rezipierten Filmen selbst, sondern durch aktive Teilhabe des Publikums. Das filmische Genre erscheint hier nicht nur als Prozess, sondern gleichsam als „complex situation“, die in ständigem Wandel begriffen ist (ebd.: 84). Viele vorangegangene Genretheorien konzentrieren sich entweder auf Gemeinsamkeiten von Filmen in der Semantik (einzelne inhaltliche oder inszenatorische Bausteine) oder der Syntaktik (zusammenhängende Strukturen des Plots oder der Ästhetik). Altman führt die beiden scheinbar gegensätzlichen Ansätze zunächst zu einem dualen Zugang zusammen. Diesen „semantic/syntactic approach“ (Altman 1986), der sich also auf die Produktionsebene des Films konzentriert, erweitert Altman schließlich um eine entscheidende dritte Dimension, ebenfalls linguistisch-semiotisch beeinflusst „pragmatic“ genannt (Altman 1999: 207ff.). Auf der Zuschauerebene der Genrepraxis finde innerhalb einer jeweils spezifischen Gemeinschaft, einer „constellated community“, eine rezeptionsinterne Kommunikation, „lateral communication“, statt (ebd.: 162). Each genre is simultaneously defined by multiple codes, corresponding to the multiple groups who, by helping to define the genre, may be said to ‚speak‘ the genre. When the diverse groups (…) are considered together, genres appear as regulatory schemes facilitating the integration of diverse factions into a single social fabric. (ebd.: 208) Im Sinne von Altmans semantisch-syntaktisch-pragmatischem Ansatz ist das Genre als multidiskursives Konstrukt zu betrachten, als vielschichtiges System, das unterschiedliche Gruppierungen mittelbar und unmittelbar Beteiligter einschließt, die sich auch untereinander potenziell different verhalten. Gerade die aktive Rolle aller in die Herausbildung und Weiterentwicklung ordnender Begrifflichkeiten involvierten Parteien unterstreicht insofern die immense kulturelle Signifikanz der Genrepraktik. 2. He Got Game Am Beispiel von Spike Lees Spielfilm He Got Game (1998) kann nun die Systematik Altmans überprüft und die Eignung der Genrezuschreibung „Sportfilm“ ausgelotet werden. Lee ist seit Do the Right Thing (1989) einer der renommiertesten afroamerikanischen Filmemacher und ein – in den USA – sehr bekannter Sportfan. Lees Herz gehört dem Basketballsport12, er gilt als „celebrity basketball fan par excellence“ (Aftab 2005: 231), um genau zu sein: der New York Knicks, als deren prominentester Anhänger er weithin angesehen wird.13 In zahllosen Werbespots und zuletzt mit der Dokumentation Kobe Doin’ Work (2009) hat sich der Regisseur mit seiner privaten Vorliebe auch professionell auseinandergesetzt. Mit He Got Game, seiner zwölften Regiearbeit, stellt Lee 1998 den Sport dann auch erstmals ins Zentrum eines Spielfilmes. Denzel Washington spielt einen Mann, Jake Shuttlesworth, der nach dem tragischen Tod seiner Ehefrau im Gefängnis sitzt. Unverhofft scheint für Shuttlesworth eine vorzeitige Entlassung möglich, sofern es ihm gelingt, seinen Sohn, den besten Nachwuchsbasketballer des Landes, davon zu überzeugen, auf das Lieblingscollege des New Yorker Gouverneurs zu wechseln. Jesus Shuttlesworth, dargestellt von Basketballprofi Ray Allen, steht ohnehin unter immensem Druck: Sein Onkel, seine Freundin sowie zahlreiche Trainer und Agenten wollen an der wichtigsten Entscheidung in Jesus’ Lebens teilhaben: Als lukrative Alternative zur soliden Schulausbildung winkt das schnelle Geld einer frühen Profikarriere.14 Auf einem überwachten Freigang hat Vater Jake eine Woche Zeit, Jesus auf die Alma Mater des Gouverneurs zu lotsen, obgleich das Verhältnis zu seinem Sohn nicht erst seit dem Tod der Ehefrau problematisch ist. Der Sport scheint den Kern von He Got Game darzustellen. Bereits die feierliche Titelsequenz, die verschiedene im Freien spielende Jugendliche, zumal teilweise in Slow Motion, zeigt, ist eine Art „Werbeclip für den Volkssport Basketball“ (Scheiber 2006: 215). Von diesem richtungsweisenden Vorspann an fliegen die Lederbälle fast unaufhörlich durch die sorgfältig komponierten Kameraeinstellungen des Films. Ohne Zweifel zelebriert Lee in zahlreichen Nahaufnahmen, Zeitlupen und Wiederholungen die Ästhetik des Basketballsports. Gerade in seinen Sportszenen offenbart der Film „viele formale Auffälligkeiten“ (Stauff 2010: 252) – etwa als sich Jesus’ Highschool-Team vorstellt: Abwechselnd...