Halík | Der Nachmittag des Christentums | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 240 Seiten

Halík Der Nachmittag des Christentums

Eine Zeitansage
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-451-82689-4
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Eine Zeitansage

E-Book, Deutsch, 240 Seiten

ISBN: 978-3-451-82689-4
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



„Wir leben nicht in einer Ära des Wandels, sondern erleben den Wandel einer Ära.“ Diese Erkenntnis von Papst Franziskus ist längst zum geflügelten Wort geworden. Nachdem Tomáš Halík mit „Die Zeit der leeren Kirchen“, einer ebenso tief greifenden wie verständlichen Analyse der Kirche unter Pandemie-Bedingungen, die Bestsellerliste erstürmte, erscheint im Frühjahr 2022 sein Opus magnum, zu dem er lange innerlich unterwegs war. Es beschreibt die aktuelle Situation der Kirchen im säkularisierten Westen als den Nachmittag des Christentums: eine Zeit der Erschütterung, nicht zuletzt durch Corona, die aber eine neue Solidarität ermöglicht. So wird das „Mittagstief“ der Kirchen zur Geburtsstunde eines reiferen, weniger selbstbezogenen Christentums, das endlich seine Bestimmung für die Welt erfüllt.

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2.
Der Glaube als Erfahrung des ­Geheimnisses
Der Glaube und der Nichtglaube leben in einer weit tieferen Dimension des Menschen als lediglich in dem bewussten und der Vernunft zugänglichen Gebiet; sie leben auch in den unterbewussten und unbewussten Strukturen seines seelischen Lebens, auf die sich die Tiefenpsychologie konzentriert. Die Vorstellung, dass der Glaube etwas ist, das wir leicht verstehen und womit wir bald fertig werden können, das wir schnell in vorgegebene Kategorien einordnen und einfach empirisch messen können, hat schon viele Missverständnisse und Irrtümer verursacht. Die Antworten auf Umfragen in Zeitschriften, demoskopische Forschungsergebnisse oder die Angaben bei Volkszählungen sagen nicht viel über den Glauben aus. Viele Menschen haben heute das Bedürfnis, der Antwort auf die Frage, ob sie an Gott glauben oder nicht glauben, ein »aber« hinzuzufügen. Auch ich beantworte diese Frage: Ich glaube, aber vielleicht nicht an den Gott, den Sie meinen. Den Glauben, wie ich ihn in diesem Buch verstehe, finden wir nicht nur im Leben der Menschen, die sich selbst als im religiösen Sinne gläubig bezeichnen, sondern auch in einer impliziten, anonymen Form in der geistigen Suche von Männern und Frauen jenseits der sichtbaren Grenzen der religiösen Doktrinen und Institutionen. Auch die säkulare Spiritualität gehört zur Glaubensgeschichte.13 Mit diesem weiten Verständnis des Glaubens beabsichtige ich jedoch nicht, den Begriff des Glaubens zu einer vagen Gestalt verschwimmen zu lassen durch die banale Aussage, dass »jeder an etwas glaubt« und dass auch ein Nichtgläubiger in gewissem Sinne ein Gläubiger ist. Ich spreche vom »Unglauben der Gläubigen« und vom »Glauben der Ungläubigen«; mit der Rede vom Glauben der Ungläubigen beabsichtige ich jedoch nicht, die Welt der Nichtgläubigen arrogant zu kolonisieren, ihrem eigenen Selbstverständnis den Respekt zu verweigern, ihnen etwas unterzujubeln, was ihnen fremd ist. Ich möchte nur einen weiteren Kontext des Phänomens des Glaubens zeigen; das, was der Glaube ist und was er nicht ist, muss notwendigerweise immer wieder durch ein aufmerksames Studium verschiedener Formen des Glaubens und des Nichtglaubens gesucht werden. Der Glaube und der Nichtglaube sind keine vom Beobachter unabhängig existierenden »objektiven Realitäten«. Es sind verschiedene Deutungen der Welt, und auch diese werden unterschiedlich gedeutet. Diese Deutungen sind vor allem vom Beobachter abhängig, von seinen »Vorverständnissen«, die von seiner Kultur, seiner Sprache, von seinen Erfahrungen, von seinem Blickwinkel und seinen (meistens nicht reflektierten) Absichten geprägt sind. Die gegenwärtige geistig-geistliche Situation kann man als einen Niedergang der Religion, als eine Krise des Glaubens oder der Kirche oder als eine religiöse und spirituelle Renaissance, als eine »Rückkehr der Religion« charakterisieren, als eine Verwandlung der Religion in Spiritualität oder in politische identitäre Ideologien, als Pluralisierung der Religion oder als Individualisierung des Glaubens, eventuell als Chance zu einer neuen Evangelisierung. Für all diese Deutungen können wir zahlreiche Argumente finden, und empirische Forschungen können diese stützen. Gewicht gewinnen diese Deutungen in dem Augenblick, wenn sie die Haltungen und das praktische Handeln derjenigen motivieren, die sie annehmen. Auf der theoretischen Ebene existiert natürlich eine Pluralität, ja sogar ein legitimer Konflikt der Deutungen; das bedeutet jedoch nicht, dass alle gleichwertig sind. Ihr Wert zeigt sich jedoch vollständig erst im Augenblick ihrer Konkretisierung im menschlichen Handeln. Hier gilt der biblische Grundsatz: Man erkennt sie an ihren Früchten. Den Glauben und den Nichtglauben kann man – besonders heute, angesichts der Kultur einer globalisierten Welt, in der sich verschiedene spirituelle Strömungen und Haltungen stets gegenseitig beeinflussen – nicht ganz eindeutig voneinander unterscheiden und trennen; in den Gedanken vieler heutiger Menschen durchdringen sie sich nämlich gegenseitig. Der Dialog zwischen dem Glauben und dem Nichtglauben ist heute nicht mehr die Angelegenheit zweier strikt voneinander getrennten Gruppen; er geschieht im Geist und im Herzen der einzelnen Menschen. Die heutigen Verwandlungen des Glaubens erfordern es offenbar, dass viele Kategorien der traditionellen Religionssoziologie und -psychologie modifiziert werden. Die Kategorien »Glaube und Unglaube«, »gläubig und ungläubig«, wie sie frühere Generationen verstanden haben, sind nicht mehr in der Lage, die Buntheit und die Dynamik des geistig-geistlichen Lebens unserer Zeit zu erfassen und zum Ausdruck zu bringen; undurchdringliche Mauern zwischen den Gläubigen und den Nichtgläubigen, zwischen dem Glauben und der Skepsis sind gefallen, ähnlich wie manche scheinbar unerschütterlichen Mauern auf der politischen und kulturellen Bühne. Wenn wir unsere vielfältige und sich schnell ändernde Welt verstehen wollen, müssen wir viele allzu statische Kategorien ablegen. Das geistig-geistliche Leben des Einzelnen und der Gesellschaft ist ein dynamisches energetisches Feld, das sich ständig verwandelt. *** Theologisch gesehen ist die erste Quelle (»das Subjekt«) des Glaubens Gott selbst: Er hat den Menschen als sein Abbild geschaffen und in die Struktur unseres Menschseins die Sehnsucht nach sich hineingelegt, das Streben des Abbildes nach seinem Urbild. Manche theologischen Schulen unterscheiden verhältnismäßig strikt zwischen der »natürlichen« menschlichen Sehnsucht nach dem Absoluten und der »übernatürlichen« Antwort Gottes, dem Geschenk der Gnade. Andere behaupten, dass im Menschen schon diese Sehnsucht selbst als »Gnade« wirkt, als die Energie Gottes, die den Menschen für das größte Geschenk öffnet und disponiert, für die Selbstmitteilung Gottes. Dieser Durst nach dem Absoluten erwacht in den einzelnen Menschen mit verschiedener Intensität, in unterschiedlichem Alter, unter jeweils anderen Umständen; er kommt zu ihnen auf verschiedenen Wegen und in unterschiedlichen Gestalten. Er kann sich als ein innerer Impuls zu einer geistig-geistlichen Suche äußern, als Frage nach dem Sinn, und er kann durch die Erziehung oder die Kultur angeregt werden. Die geistig-geistliche Suche erscheint manchmal auch in scheinbar völlig nichtreligiösen Formen als Sehnsucht nach dem Guten, nach der Wahrheit und der Schönheit (die jedoch traditionelle Attribute Gottes sind) oder nach der Liebe und nach dem Sinn. Manchmal arbeitet sie lange still in den Tiefen des Unbewuss­ten und quillt dann auf in den Augenblicken, die als eine Erleuchtung, ein Erwachen oder eine Umkehr beschrieben werden. In der Sehnsucht nach der Tiefe, nach einem tieferen Sinn des Lebens spricht eine rufende und berufende Stimme zum Menschen – und der Mensch hört ihr zu oder nicht, er versteht und deutet sie auf eine je verschiedene Art und Weise und antwortet auf eine je verschiedene Art und Weise auf sie. Dieses Rufen kann jedoch vom Menschen überhört und dieses Fragen von ihm selbst oder von seiner gesellschaftlichen Umgebung ins Unbewusste verdrängt werden. Ich bin überzeugt, dass Gott zu jedem spricht; zu jedem jedoch auf eine andere Art, die dem Maß seiner Fähigkeit, zuzuhören und zu verstehen, entspricht. Diese Fähigkeit ist uns jedoch nur ansatzweise gegeben, es ist notwendig, dass der Mensch sie pflegt und entwickelt. Dabei kann die Kultur helfen, in der er lebt, sie muss es aber nicht. Manche Kulturen hielten die Sorge um die Seele für ihre Hauptaufgabe und ihren eigentlichen Sinn, andere scheinen gegenüber dieser Dimension des Menschseins gleichgültig zu sein. Nach der traditionellen christlichen Lehre kommt Gott durch das Wort, durch das Wort der biblischen Verkündigung und durch das Wort, das in der Geschichte Fleisch annimmt – durch Christus und durch die Kirche, die auf vielerlei Arten dem Menschen dieses Wort vermittelt. Jedoch kann die Antwort Gottes auch still und von innen kommen, sogar anonym. Im Glaubensakt – vor allem im Ereignis des Glaubens im Leben eines konkreten Menschen – lässt sich nur theoretisch zwischen der Transzendenz und der Immanenz unterscheiden, zwischen Gott als demjenigen, der »ganz anders« ist und alles übersteigt, und Gott, der tiefer in uns ist als unser eigenes Ich, der das »Ich unseres Ichs« ist. Durch die freie Antwort des Menschen auf den Ruf Gottes wird der dialogische Charakter des Glaubens vollendet. Unsere Antwort ist unser persönlicher Glaube – und zwar sowohl seine existenzielle Seite, der Akt des Glaubens (fides qua, faith), als auch der Inhalt unseres persönlichen Glaubens, seine Artikulation in der Gestalt unserer Glaubensüberzeugungen (fides quae, belief). Fides qua und fides quae, der Akt des Glaubens und der Inhalt des Glaubens, gehören zusammen. Während jedoch »der Gegenstand des Glaubens« im Akt des Glaubens als eines »ontologischen Ur-Vertrauens« verborgen und implizit im Akt des Glaubens anwesend sein kann, gilt das Umgekehrte nicht. Die bloße »religiöse Überzeugung« ohne den Glauben als eine existenzielle Orientierung, eine Lebenshaltung, kann man nicht als einen Glauben im biblischen und im christlichen Sinne dieses Wortes ansehen. Die fides quae, die »Überzeugung«, verleiht dem Glauben im Sinne der fides qua Worte und damit die Möglichkeit, sich verbal und intellektuell auszudrücken und mit anderen zu kommunizieren. Die fides qua (faith) ohne die fides quae (belief) ist vielleicht »stumm«,...


Halík, Tomáš
Tomáš Halík, geb. 1948, wurde 1978 heimlich zum Priester geweiht und war enger Mitarbeiter von Kardinal Tomášek und Václav Havel. Er ist Professor für Soziologie an der Philosophischen Fakultät der Karls-Universität Prag, Pfarrer der Akademischen Gemeinde Prag, Rektor der Universitätskirche St. Salvator und Präsident der Tschechischen Christlichen Akademie. Benedikt XVI. verlieh ihm den Ehrentitel Päpstlicher Prälat. 2010 erhielt er den Romano-Guardini-Preis. 2014 wurde er mit dem Templeton-Preis ausgezeichnet.

Tomáš Halík, geb. 1948, wurde 1978 heimlich zum Priester geweiht und war enger Mitarbeiter von Kardinal Tomášek und Václav Havel. Er ist Professor für Soziologie an der Philosophischen Fakultät der Karls-Universität Prag, Pfarrer der Akademischen Gemeinde Prag, Rektor der Universitätskirche St. Salvator und Präsident der Tschechischen Christlichen Akademie. Benedikt XVI. verlieh ihm den Ehrentitel Päpstlicher Prälat. 2010 erhielt er den Romano-Guardini-Preis. 2014 wurde er mit dem Templeton-Preis ausgezeichnet.



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