E-Book, Deutsch, 460 Seiten
Hamann Die Bildung der Geisteswissenschaften
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-7445-0804-9
Verlag: Herbert von Halem Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Zur Genese einer sozialen Konstruktion zwischen Diskurs und Feld
E-Book, Deutsch, 460 Seiten
ISBN: 978-3-7445-0804-9
Verlag: Herbert von Halem Verlag
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Julian Hamann widmet sich der Entstehung und Entwicklung der Geisteswissenschaften: Wer oder was sind die Geisteswissenschaften? Woraus leitet sich ihre Geschichte ab, wie ist es um ihre Zukunft bestellt? In der Beantwortung dieser und anderer Fragen findet die diskursive Bildung der Geisteswissenschaften statt. Über permanente, mitunter konfliktreich aufeinander bezogene Selbstverständigungen nehmen Geisteswissenschaftler Konstruktionen dessen vor, was die Geisteswissenschaften sind und was sie nicht sind, woraus sich ihre Identität historisch ableitet und worauf sie in Zukunft fußen soll, was sie leisten und was sie nicht leisten können oder welcher Gestalt ihr Verhältnis zur Gesellschaft sowie zu anderen Disziplinengruppen wie den Natur- und den Sozialwissenschaften ist. Für die (Wissenschafts-)Soziologie ist dieses Forschungsfeld bisher weitgehend Neuland. Die materialreiche Untersuchung rekonstruiert den Prozess der diskursiven Bildung der "Geisteswissenschaften" anhand des geisteswissenschaftlichen Diskurses über "Bildung" vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart. Mit einer innovativen Verbindung von Diskurs- und Feldanalyse kann gezeigt werden, wie sich die Transformation geisteswissenschaftlicher Bildungsbegriffe vollzieht, wie dieser Wandel mit den tief greifenden Veränderungen des Feldkontextes zusammenhängt und was der trotz dieser Veränderungen über mehr als 200 Jahre hinweg stabil bleibende, identitäre Kern der Geisteswissenschaften ist.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Sozialwissenschaften Soziologie | Soziale Arbeit Spezielle Soziologie Wissenssoziologie, Wissenschaftssoziologie, Techniksoziologie
- Sozialwissenschaften Pädagogik Pädagogik Philosophie der Erziehung, Bildungstheorie
- Interdisziplinäres Wissenschaften Wissenschaften Interdisziplinär Geisteswissenschaften
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2 Der Bildungsdiskurs im Feldkontext: Grundprämissen und Operationalisierungen
Vor jeder empirisch vorgehenden sozialwissenschaftlichen Forschung steht ein Primat der Theorie. Das bedeutet, dass empirische Forschung nicht frei von theoretischen Prämissen sein kann, weil die Beobachtung der Wirklichkeit immer bereits von theoretischen Vorannahmen vorstrukturiert ist. Solche theoretischen Grundprämissen steuern die Wahrnehmung nicht nur bei der Wahl und beim Zuschnitt des Untersuchungsgegenstandes, sondern auch bei der Auswahl der zur Analyse verwendeten Konzepte, Begriffe und Werkzeuge. Schließlich unterliegen auch die Anwendungsregeln der Analyseinstrumente theoretisch fundierten Regeln. Somit ist die gesamte Forschungspraxis, von der Auswahl des Untersuchungsgegenstandes über die Formulierung der Fragestellung bis zum Verständnis und zur Anwendung einzelner Forschungstechniken und -methoden durchdrungen von theoretischen Prämissen (vgl. Bourdieu 2006: 258-259; Diaz-Bone 2006: 77-78; 2005; siehe auch Bachelard 1988: 9). Auch für vornehmlich empirische Forschungsarbeiten ist es daher notwendig, ihre theoretischen Prämissen nicht implizit zu lassen oder gar überhaupt nicht zu reflektieren, sondern sie zu explizieren. Dadurch wird nicht nur zur Transparenz und Nachvollziehbarkeit der Arbeit beigetragen. Die Offenlegung der eigenen theoretischen Vorannahmen ist auch eine Voraussetzung für Forschung, die ihre eigenen blinden Flecken und Ungleichgewichte reflektieren und erst dadurch adressieren kann. Von dieser knapp skizzierten Position ausgehend werden im Folgenden die theoretischen Grundprämissen dargestellt, die der theoriegeleiteten Realitätskonstruktion zugrunde liegen. Dabei richtet sich der Fokus auch auf die Forschungsmethoden, mit denen von diesen theoretischen Prämissen ausgehend die im Zentrum des Forschungsinteresses stehenden empirischen Phänomene sichtbar gemacht wurden. Dem explorativen Charakter der Untersuchung Rechnung tragend, wurde ein Großteil der Konstruktion der hier beschriebenen theoretischen und methodischen Architektur in den Forschungsprozess hinein verlagert und in mehreren reflexiven Schleifen kritisch geprüft und überarbeitet (vgl. Strauss 1987: 532; Merkens 2008: 296). 2.1 Feldkontext: Grundprämissen und ihre Operationalisierungen Es ist vermutlich Bourdieus Wissenschaftsverständnis geschuldet, dass er nie eine Standarddefinition seiner theoretischen Begrifflichkeiten verfasst hat. Immer wieder hat er seine Orientierung an praktischen Problemstellungen hervorgehoben und seinen nahezu handwerklichen, an Produktivität und empirischen Erkenntnissen interessierten Zugang zur Wissenschaft unterstrichen (vgl. z.B. Bourdieu 2001d: 80; 2006: 260-262). Bourdieus theoretische Konzepte sind seinem Verständnis und seiner Praxis sozialwissenschaftlicher Arbeit nach in erster Linie Mittel zum Zweck der empirischen Untersuchung sozialer Wirklichkeit. Diesem Verständnis folgt auch die vorliegende Studie. Das im Folgenden skizzierte Gefüge theoretischer Konzepte und Begriffe wird daher nicht als fester Fahrplan für eine unvermittelt an Bourdieu anschließende Untersuchung verstanden. Im Zentrum steht nicht das Vorhaben, eine möglichst orthodox verfahrende feldtheoretische Arbeit abzufassen. Forschungsleitend ist vielmehr das Erkenntnisinteresse am empirischen Untersuchungsgegenstand: dem geisteswissenschaftlichen Bildungsdiskurs und seiner Einbettung in einen materiellen und symbolischen Kontext.13 Geleitet von diesem empirischen Erkenntnisinteresse kann sich die Arbeit, je nach den analytischen und forschungspraktischen Erfordernissen und Einschränkungen, die sich beispielsweise durch die Quellenlage einer soziohistorischen Fragestellung oder durch die spezifische Konstruktion des Gegenstands ergeben, mehr oder weniger orthodox im Rahmen des Bourdieuschen Theoriegebäudes bewegen, ohne dabei inkohärent zu werden. Die hier dargestellten theoretischen Prämissen bilden daher eher einen Baukasten heuristischer Werkzeuge, die sich erkenntnisleitend und strukturierend zur Analyse der soziohistorischen Transformation des geisteswissenschaftlichen Bildungsdiskurses einsetzen lassen. Auch wenn eine explizite Systematisierung seiner theoretischen Begriffe nie erfolgt ist, lassen sich aus Bourdieus Arbeiten einige allgemeine Kennzeichen einer theoretischen Architektur herausarbeiten. Weil die invarianten, also über alle empirische Anwendungen hinweg gültigen Eigenschaften (vgl. Müller 2005: 36) feldtheoretischer Konzepte in der einschlägigen Sekundärliteratur ausführlich behandelt werden, kann hier direkt ein spezifizierter, bereits auf den Untersuchungsbereich zugeschnittener Überblick über die zentralen Begriffe und Konzepte und ihre Verwendung im konkreten Kontext der Analyse gegeben werden.14 Bevor die diskursanalytischen Prämissen zum geisteswissenschaftlichen Bildungsdiskurs als zentralem Untersuchungsgegenstand thematisiert werden, wird der Blick auf den Kontext gerichtet, in den der Diskurs eingebettet ist. Er wird in Anlehnung an Bourdieus Konzept des Feldes konstruiert. Der feldtheoretische Zugang eignet sich besonders, weil so zum einen der institutionelle Rahmen geisteswissenschaftlicher Selbstbeobachtung erfasst werden kann. Von besonderer Bedeutung ist ein solcher Fokus, weil der Untersuchungsgegenstand keine quer zur institutionellen Ordnung der Universität liegende Intellektuellenschicht darstellt, sondern in den relativ starren institutionellen Strukturen des (geistes-)wissenschaftlichen Feldes verankert ist.15 Zum anderen ist es gerade für Analysen intellektueller Zusammenhänge wichtig, sensibel für die symbolische Dimension sozialer Praktiken und Strukturen zu sein. So besteht die Möglichkeit, der der wissenschaftlichen Interesselosigkeit zugrundeliegenden Ökonomie Rechnung zu tragen. Diesen Anforderungen des Forschungsgegenstandes kann entsprochen werden, wenn der Diskurskontext feldtheoretisch und -analytisch gefasst wird. Wie alle Felder sind auch wissenschaftliche Felder als relativ autonome, mit eigenen Gesetzen ausgestattete Mikrokosmen im Makrokosmos des sozialen Raumes eingegliedert (Bourdieu 1987: 219-220; 1998a: 15-23; 1998b: 18). Zwischen dem sozialen Raum, dem universitären Feld und einzelnen wissenschaftlichen Feldern wie dem geisteswissenschaftlichen Feld postuliert Bourdieu (1992a: 90) eine strukturelle Homologie, die ein Passungs- und Reproduktionsverhältnis zwischen den jeweiligen Strukturen ausdrückt. Dieses Postulat wird sich im Laufe der Arbeit gleich auf mehreren Ebenen empirisch bewähren müssen: für materielle und symbolische Verteilungsstrukturen des geisteswissenschaftlichen Feldes, für eine Passung zwischen den Strukturen dieses Feldes und jenen des universitären Feldes und des sozialen Raums wie auch für das Verhältnis zwischen Feldstrukturen und der symbolischen Dimension diskursiver Auseinandersetzungen (vgl. Kapitel 7). Von den Strukturen des sozialen Raumes und des universitären Feldes sowie der in ihnen stattfindenden Verschiebungen sollen den folgenden empirischen Kapiteln vorangestellte einleitende Bemerkungen einen groben Eindruck vermitteln. Wissenschaftliche Felder lassen sich als strukturierte Produktionsräume verstehen, in denen materielle und symbolische Güter produziert werden. Die grundlegende Feldstruktur ergibt sich aus der Verteilung dieser Ressourcen, die wiederum aus den Ergebnissen vorhergegangener Kämpfe um eben jene Güterverteilung hervorgeht. Damit verweist die gegenwärtige Allokation materieller und symbolischer Ressourcen nicht nur als Möglichkeitsrahmen der Akteure in die Zukunft, sondern ist auch mit der Vergangenheit verknüpft – ein Umstand, durch den diachrone Perspektiven analytisch besonders gewinnbringend werden (z.B. Bourdieu 1992a; 2001b; vgl. auch Gorski 2013). Von Bourdieu werden die Ressourcen in einem Feld mit dem Begriff des Kapitals erfasst. Mit der Erweiterung eines auf ökonomische Verteilungsverhältnisse fokussierten Kapitalbegriffs16 zielt er auf eine „allgemeine Wissenschaft von der Ökonomie der Praxis“ (Bourdieu 1992b: 51), die in der Lage sei, den „ethnozentrischen Naivitäten des Ökonomismus“ zu widersagen und „das ökonomische Kalkül unterschiedslos auf alle, sowohl materielle wie symbolische Güter auszudehnen, die rar scheinen und wert, innerhalb einer bestimmten gesellschaftlichen [und von Bourdieu in der Regel als Feld analysierten, JH] Formation untersucht zu werden“ (Bourdieu 2009: 345). Klassischerweise wird die Struktur wissenschaftlicher Felder daran anschließend zum einen durch unterschiedliche Kapitalvolumina dargestellt, mit denen die generelle quantitative Verfügbarkeit von Kapital für einzelne Akteure oder Institutionen beschrieben ist. Zum anderen zeichnen sich die Verteilungskämpfe um Kapital entlang der Kapitalstruktur ab, die durch die „strukturale Zwiespältigkeit“ (Bourdieu 1998b: 36) von weltlicher (oder nicht-spezifischer) und wissenschaftlicher (oder spezifischer) Macht gekennzeichnet ist (Bourdieu 1992a: 132-149; 1998b: 31-38). Die wissenschaftlichen Feldern eigene Form wissenschaftlicher Macht wird dabei als Sonderform des symbolischen Kapitals begriffen. Sie beruht auf der Anerkennung, den die wissenschaftlichen Wettbewerber auf der Basis ihrer Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata gewähren. Akkumuliert wird wissenschaftliches Kapital durch Äußerungen und Positionierungen wie beispielsweise Entdeckungen oder Publikationen, deren Beitrag zum Fortschritt der Wissenschaft anerkannt ist. Über den diesen Produkten zuerkannten Wert erfolgt dann die Zuschreibung einer sachlichen Befähigung (Bourdieu 1998b: 21-24). Das zweite, nicht-spezifische Ordnungsprinzip wissenschaftlicher Felder ist weltliches Kapital. Weil damit...