Hartmann / Vogel | Zukunftswissen | Buch | 978-3-593-39026-0 | sack.de

Buch, Deutsch, 303 Seiten, Format (B × H): 142 mm x 214 mm, Gewicht: 388 g

Hartmann / Vogel

Zukunftswissen

Prognosen in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft seit 1900
1. Auflage 2010
ISBN: 978-3-593-39026-0
Verlag: Campus

Prognosen in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft seit 1900

Buch, Deutsch, 303 Seiten, Format (B × H): 142 mm x 214 mm, Gewicht: 388 g

ISBN: 978-3-593-39026-0
Verlag: Campus


Vom Gutachten der 'Fünf Weisen' bis zur Schätzung des Bevölkerungswachstums – Prognosen sind ein wichtiger Bestandteil unseres täglichen Lebens, in Krisenzeiten mehr denn je. In diesem Band diskutieren Autorinnen und Autoren verschiedener Disziplinen Grenzen und Reichweiten des Blicks in die Zukunft. Wie bewegt er unsere Gesellschaft? Von wem werden Prognosen benutzt und welche Interessen stehen hinter solchen wissenschaftlichen Bildern der Zukunft? In historischer Perspektive wird diesen Fragen anhand von Prognosen zur Umweltentwicklung und Bevölkerung, Verkehrs- und Städteplanung sowie am Beispiel wirtschafts- und biowissenschaftlicher Vorhersagen nachgegangen.
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Inhalt

Einleitung
Prognosen: Wissenschaftliche Praxis im öffentlichen Raum
Heinrich Hartmann/Jakob Vogel

Teil 1: Prognostische Planung und Praxis

Kalkulierte Solidarität: Chancen und Grenzen sozialstaatlicher Prognosen (1900-1970)
Martin Lengwiler

Die Vermessung der Zukunft: Empirische Wirtschaftsforschung und ökonomische Prognostik nach 1945
Alexander Nützenadel

Prognostik zwischen Boom und Krise: Die Prognos AG und ihre Zukunftsprognosen für die Entwicklung der Bundesrepublik in den 1960er und 1970er Jahren
Elke Seefried

Aufbruch in eine neue Zukunft? Biowissenschaftliche Prognosen in der DDR und der Bundesrepublik in den 1960er und 1970er Jahren
Andreas Malycha/Ulrike Thoms

Teil 2: Akteure der Prognostik

Normieren und Errechnen: Zur Korrelation von Bevölkerungsprognosen und Musterung vor 1914
Heinrich Hartmann

"Zukunftswissen": Die Kritik Robert René Kuczynskis an der englischen statistischen Registrierungspraxis
Ursula Ferdinand

Handeln im Angesicht der Krise: Zukunftswissen und Expertise deutscher Verkehrswissenschaftler in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
Anette Schlimm

Teil 3: Methoden und Bilder

Utopia war gestern: Gedachte urbane Zukünfte zwischen Stadtutopie, Prognose und Szenario
Annett Steinführer

Die kausale Mechanistik der Prognosen aus dem Computer
Gabriele Gramelsberger

Bilder des demografischen Wandels
Eva Barlösius

Teil 4: Utopien und Visionen

Zukunft schreiben: Prognostische Wissensfiguren in der fiktionalen Literatur des frühen 20. Jahrhunderts
Anne Seitz

Nachhaltige Zukunft: Kommende Generationen und ihr kulturelles Erbe
Stefan Willer

Apokalyptik als Profession? Ängste, Prognosen und die internationale Umweltbewegung
Frank Uekötter

Autorinnen und Autoren 301


Prognosen: Wissenschaftliche Praxis im öffentlichen Raum
Heinrich Hartmann/Jakob Vogel

Am 14. April 2009 - mitten in der weltweiten Finanzkrise - teilte das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) mit, dass es von der Veröffentlichung der für den Folgetag geplanten Konjunkturprognose absehen werde. Traditionelle Erklärungsmuster würden der Schwere der Krise nicht gerecht, die wissenschaftlichen Methoden der Vergangenheit hätten versagt. "Die Prognostiker neigen dazu, sich an anderen zu orientieren und ihre Vorausschätzungen innerhalb eines Rahmens abzugeben, von dem sie annehmen, dass er von der Wissenschaftsgemeinde akzeptiert wird. Dieses Imitationsverhalten verhindert, dass eine von der ›Herde‹ stark abweichende Konjunkturanalyse erstellt wird", begründete das Institut seinen Schritt. Die Börse reagierte prompt - mit steigenden Kursen. Die "Nicht-Prognose" des DIW wurde offenbar als ein Hoffnungszeichen verstanden, denn das Institut stimmte nicht in den Chor der Auguren ein, die ein hoffnungsloses Bild der Finanzkrise zeichneten.

Das Beispiel verdeutlicht, wie stark Zukunftswissen unser Handeln in der Gegenwart beeinflusst. Doch es zeigt auch, dass kein einfacher Zusammenhang von Ursache und Wirkung existiert: Auch das Nichtwissen um die Zukunft kann die Menschen in ihrem Handeln beeinflussen, ebenso wie ein Zukunftswissen andere als die intendierten Folgen haben kann. Klassische Konzeptionen einer wissenschaftlichen Erschließung der Zukunft berufen sich seit Auguste Comtes "savoir pour prévoir" auf einen positivistischen Wissensbegriff: Die kritische Analyse der Gegenwart erlaube in einem gewissen Rahmen ein wissenschaftliches Vorhersagen der Zukunft. Die Zukunft wird damit zum inhärenten Teil des aktuellen Wissens. Wie in einer Differentialgleichung wird sie durch die Bestimmung des gegenwärtig "zu Wissenden" mitverhandelt. Erfahrung und Erwartung stehen jedoch nicht dichotomisch einander gegenüber, sondern bilden, wie Reinhart Koselleck gezeigt hat, ein ineinander verschränktes Begriffspaar. Denn auch die Zukunft des Gegenwärtigen hat ihre Geschichte. Insofern ist die Geschichte des Zukunftswissens nicht die Geschichte einer empirischen Analyse der Gegenwart auf der einen Seite und der Zukunft auf der anderen, sondern die Geschichte ihrer Verschränkung. Die Veränderung dieser Beziehung, das "Sprengen des Erfahrungsraumes", führt wie in dem angeführten Beispiel der Finanzkrise dazu, dass sich die Zukunftserwartungen und mithin die Grundlage eines in die Zukunft gerichteten Wissenssystems verändern. Gehen wir von einer solchen Verschiebung im Spannungsfeld von Erfahrung und Zukunft aus, wird es nicht verwundern, dass die Zukunftsvorstellungen insbesondere in jenen Zeiten Kapriolen schlagen, in denen die ihnen bislang zugeordneten Erfahrungsräume wegbrechen. Das Ausmaß wie auch die Formen, in der sich gesellschaftliche Veränderung vollzieht, bestimmen dabei die Art und Weise, in der das Zukunftswissen formuliert wird. Insofern entspricht die technokratisch mathematisierte Form der Prognostik, der die meisten Beiträge dieses Bandes nachgehen, den Dynamiken einer modernen, sich industrialisierenden Gesellschaft des 20. und 21. Jahrhunderts.

Doch der vorliegende Band will auch zeigen, dass diese Entwicklung nicht zielgerichtet verlief, da Prozesse wissenschaftlichen Erkenntnisgewinns nicht immer auf einer stetig wachsenden wissenschaftlichen Rationalität beruhten. In diesem Sinne beleuchten die einzelnen Aufsätze aus unterschiedlichen Perspektiven die Veränderungen, die sich im Verlauf des 20. und frühen 21. Jahrhunderts bei der Formulierung von Zukunftswissen ergeben haben. Sie analysieren das komplexe Beziehungsgeflecht zwischen historischem Moment, sozialem Erfahrungsrahmen und der Konstruktion empirischer Wissensbestände, in das sich die Entstehung, Verhandlung und Verwendung des Zukunftswissens einbettet. Denn erst der Blick auf die breiteren gesellschaftlichen Zusammenhänge, in denen die Vorstellungen der Zukunft wie auch ihrer wissenschaftlichen Methoden formuliert werden, erlaubt ein vertieftes Verständnis der Genese des Zukunftswissens und seiner Umsetzung.

Gesellschaft und Politik steuern tatsächlich nicht nur die Produktion von Prognosen über eine "Ökonomie der Aufmerksamkeit", die bestimmten Themen mehr als anderen eine hohe gesellschaftliche Bedeutung zuschreibt. Vielmehr tragen sie auch zum Wandel von Inhalt, Form und Repräsentation des Wissens um die Zukunft bei. Die Prognosen haben sich auf diese Weise im Laufe der Zeit auch in ihrer gesellschaftlichen Bedeutung deutlich gewandelt. Verantwortlich sind hierfür sowohl innerwissenschaftliche Gründe, etwa die wachsende Bedeutung der Mathematisierung und Statistik, als auch die veränderten politischen Erwartungen, die sich in der modernen Medienöffentlichkeit ergaben. Öffentliches Interesse kann dabei einerseits als Motivation und auslösendes Moment für neue wissenschaftliche Zielsetzungen gelten. Es kann aber andererseits auch Anlass für wissenschaftliche Netzwerke sein, ihre Erkenntnisse zu schützen, zu verklausulieren oder nicht zu veröffentlichen. Das oben angeführte Beispiel der Konjunkturprognose deutet bereits dieses komplexe Verhältnis zwischen Öffentlichkeit und wissenschaftlicher Praxis an. Der Band zielt also mit seinen Beiträgen darauf, das Verhältnis der Wissenschaft zu Politik, Wirtschaft und Öffentlichkeit in der sogenannten "Wissensgesellschaft" historisch genauer zu verorten.


Heinrich Hartmann, Dr. phil., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Seminar der Universität zu Köln.

Jakob Vogel ist dort Professor für die Geschichte Europas und des europäischen Kolonialismus.



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