E-Book, Deutsch, 200 Seiten
Haupt Der Golf
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-95762-003-3
Verlag: Lago
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Wie das legendäre deutsche Auto geboren wurde. Ein fast wahrer Krimi
E-Book, Deutsch, 200 Seiten
ISBN: 978-3-95762-003-3
Verlag: Lago
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Der Golf ist mehr als einfach nur ein Auto, er ist eine Ikone. Als ein Meilenstein in der deutschen Nachkriegsgeschichte rettete er fast im Alleingang den VW-Konzern vor dem sicheren Ruin. Binnen kürzester Zeit wurde er zum beliebtesten Auto Deutschlands, stellte die Erfolge des legendären Käfers in den Schatten und avancierte zum Synonym für eine ganze Generation. Doch nur wenige kennen die Geschichte, die dahinter steckt, nämlich ein Wirtschaftsthriller, wie ihn das Deutschland des Kalten Krieges noch nie erlebt hatte. Wie konnten die mutlosen Entscheider n Wolfsburg, die nicht vom längst veralteten Käfer lassen wollten, von dem neuen Modell überzeugt werden? Wie stark waren ostdeutsche Ingenieure an den zentralen technischen Innovationen des Golfs beteiligt? Und wie viel Porsche steckte eigentlich im ersten Golf? Heiko Haupt verknüpft die noch weitgehend unbekannten Fakten der Golf-Entstehung mit der Lebensgeschichte der beteiligten Personen zu einem spannenden Wirtschaftskrimi im Deutschland der 1960er- und 1970er-Jahre. Nicht nur Golf-Fahrer werden dieses Buch nicht mehr aus der Hand legen können, bis die letzte Seite verschlungen ist und alle Geheimnisse gelüftet sind.
Autoren/Hrsg.
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Kapitel 2: Endgültig
2. Januar 1970: Von Formen und Intrigen
Wenn man es nicht besser wüsste, könnte man denken, man wäre aus Versehen nach Turin gereist, dachte Burkhard Gentz, als er die Ausstellungshalle auf dem Wolfsburger Werksgelände betrat. An allen Wänden hingen Bilder des Fiat 128, mal war das ganze Auto zu sehen, mal waren es Details des neuen Erfolgsmodells der Italiener, das seit Anfang 1969 auf dem Markt war.
Gentz empfand es immer noch als höchst seltsam, dass Vorstandschef Rolf Witt einen derart wichtigen Termin ausgerechnet auf dieses Datum gelegt hatte. Der 2. Januar war ein Freitag und damit der einzige Arbeitstag zwischen Neujahr und dem schon morgen beginnenden Wochenende. Aber Witt zeigte seit geraumer Zeit immer offener, dass er seine eigenen Pläne und Ansichten hatte und dass er die auch durchsetzen wollte – selbst wenn dazu der komplette Vorstand und andere Führungskräfte auf einen eigentlich freien Tag verzichten mussten.
Was hier an diesem 2. Januar stattfand oder noch stattfinden sollte, war das Resultat einer Geschichte, die im Herbst des Vorjahres begonnen hatte, erinnerte sich Gentz. Ende Oktober – die Deutschen hatten gerade mit Willy Brandt zum ersten Mal einen Sozialdemokraten zum Bundeskanzler gewählt – reiste die Vorstandsriege im firmeneigenen Learjet zum Turiner Automobilsalon. Einerseits natürlich, um dort die Volkswagen-Fahne hochzuhalten. Vor allem aber hatte Witt die Direktive ausgegeben, dass alle die Augen offen halten sollten – und zwar bei der Konkurrenz. Die Vorstandsmitglieder sollten sich an den Ständen konkurrierender Hersteller umschauen, deren Designs und Modelle bewerten – mit dem Hintergedanken, auf diese Weise frische Ideen für die Gestaltung der angedachten neuen Modellriege aus eigenem Haus zu sammeln, was Gentz schon damals etwas befremdlich empfand. Schließlich wurde in der Entwicklungsabteilung immer noch an unterschiedlichsten Projekten gefeilt, weitere waren hinzugekommen. Immer noch wusste niemand wirklich, aus welcher dieser Entwicklungen am Ende etwas werden würde. Da gab es Entwicklungsaufträge, die einen in Größe und Platzangebot vergleichbaren Käfer-Nachfolger ergeben sollten, dann aber doch wieder die Vorgaben sprengten und eine Modellkategorie höher einzustufen waren. Andere hielten zwar die Vorgaben ein, wuchsen dann jedoch technisch zu einem aufwendigen Produkt heran, das sich rechnerisch nicht mehr zu einem Preis anbieten ließ, der im Konkurrenzumfeld des Käfers zu Hause war.
Mal ganz abgesehen davon, dass der von Porsche im Volkswagen-Auftrag vorangetriebene Entwicklungsauftrag für einen möglichen Käfer-Nachfolger eine überraschende Eigendynamik entwickelt hatte. Witt überlegte mittlerweile tatsächlich, ob dieses Auto zusätzlich zu einem möglichen von VW selbst entwickelten Nachfolger in das Programm aufgenommen werden sollte. Er überlegte nicht nur, es schien sogar so, als wäre das bereits beschlossene Sache. Dabei war das, was Porsche da an Entwicklung vorantrieb, alles andere als ein Allerweltsauto für die Massen. Es war ein Exot, bei dem das Thema Vernunft an zweiter oder noch weiter zurückliegender Stelle stand. Äußerlich wirkte der kleine Porsche zwar wenig ungewöhnlich, lehnte sich an den modernen Maßstab kleiner Autos mit schrägem Heck und Heckklappe an. Unter der unspektakulären Außenhaut jedoch verbarg sich Technik, die man so nicht kannte. Der Motor fand seinen Platz nicht im Heck, wie beim Käfer, oder unter der vorderen Motorhaube, wie bei nahezu allen anderen gängigen Automobilen. Porsche montierte das Aggregat unter der Rücksitzbank – ein Mittelmotor, wie er sonst nur in waschechten Sportwagen vom Schlage eines Ferrari oder Lamborghini zum Einsatz kam. Eine ungewöhnliche und aufwendige Konstruktion – die nicht ohne Probleme war, wie Gentz wusste. Rolf Witt jedoch ließ sich beim Vorantreiben dieses Projektes nicht beirren. Für ihn waren Fragen, ob der Motor in seiner Position die nötige Kühlung bekommen würde oder ob die Passagiere durch den dicht unter ihnen platzierten Motor heiße Hintern bekämen, ebenfalls nicht vorrangig. Er vertrat die Ansicht, dass so ein Auto ein würdiger Erbe des Käfers sein konnte, der sich technisch jedenfalls radikal vom Rest der Automobilwelt unterschied.
Doch das war ein Thema, über das an einem späteren Tag gesprochen werden würde. Heute hatte Witt seine Mannschaft aus einem anderen Grund zusammengetrommelt. Grund für die geforderte Anwesenheit aller Führungskräfte war das Ergebnis der Konkurrenzbeobachtungen auf dem Turiner Autosalon Ende Oktober. Denn als damals alle über ihre Beobachtungen und ihre Design-Favoriten berichteten, stellte sich sehr schnell heraus, dass dabei immer wieder ein Name auftauchte. Den überwiegenden Teil besonders gut benoteter Karosserien hatte ein gewisser Giorgetto „Giorgio“ Giugiaro entworfen. Eine Name, der den deutschen Vorstandszungen zunächst einige Verrenkungen abforderte, als sie ihn auszusprechen versuchten – bis ihnen ein italienischer Kollege klarmachte, dass ein eingedeutschtes „Dschordschetto Dschudscharo“ die Aussprache verrenkungsfrei erlaubte.
Zurück aus Turin, holte man erst einmal Informationen ein, wer dieser Giugiaro denn überhaupt war. Und staunte nicht schlecht, als man mehr über den Mann erfuhr. Der italienische Designer war gerade einmal zweiunddreißig Jahre alt und hatte trotzdem bereits eine erstaunliche Karriere absolviert. Mit nicht einmal achtzehn Jahren wurde er von Fiat angeworben und wechselte wenig später zum weltbekannten Autodesigner Bertone. Im Alter von vierundzwanzig zeichnete er sein erstes Serienmodell – seitdem hatte er Formen für fast alle Automarken entwickelt, die Rang und Namen hatten: Alfa Romeo, Fiat, Maserati, BMW und so weiter und so fort. Vor drei Jahren eröffnete Giugiaro sein eigenes Designstudio, nannte es Italdesign und setzte seine Erfolgsgeschichte fort.
Diesen Mann also hatte man anrufen lassen und zu einem Gespräch nach Wolfsburg gebeten, das nun an genau diesem 2. Januar stattfinden sollte.
Dass die Wände übersät waren mit Bildern des Fiat 128 und nicht mit den Plänen aktueller Entwicklungen aus Wolfsburg, hatte einen simplen Grund: Während der Gespräche in der Vorstandsetage ergab sich in den vergangenen Monaten, dass der kompakte Fiat im Grunde das Auto war, an dem man hier so intensiv feilte. Er besaß alles, was man von den Modellen der eigenen Zukunft erwartete. Im 128 trieb ein moderner Vierzylinder-Motor im Bug die vorderen Räder an, mit seiner Länge von nicht einmal vier Metern war er kürzer als der Käfer, bot innen aber trotzdem einer kompletten Familie genug Raum. Nicht zuletzt existierte im Heck auch noch ein geräumiger Kofferraum. Vor allem aber hatte Fiat die Konstruktion und das Produktionsverfahren so perfektioniert, dass man das neue Modell zu Preisen verkaufen konnte, die kaum über denen des betagten Käfer lagen. Optisch machte das Ding auch was her, dachte Burkhard Gentz beim Anblick der Abbildungen.
Im selben Moment bemerkte er, wie sich an dem Stimmengewirr in der Halle etwas änderte, plötzlich verstummten die Menschen. Er war da – und sah so aus, wie man sich im Norden Deutschlands den typischen Italiener vorstellte: von der Größe her eher durchschnittlich, aber mit sonnengebräunter Haut und dichtem schwarzen Haar, das er eine Spur länger trug, als man es in Vorstandsetagen für angemessen hielt.
Anders als bei hochrangigen geschäftlichen Treffen üblich, war die Begrüßungszeremonie recht schnell erledigt. Wie für ihn üblich, mochte sich Rolf Witt nicht mit langem Geschwafel aufhalten und kam direkt zur Sache.
„Herr Giugiaro, wir möchten, dass Sie für uns ein Auto zeichnen. Einen Nachfolger für den Käfer. Was wir uns vorstellen, ist ein Auto wie dieses.“ Wobei er mit der Hand auf die Bilder des Fiat 128 zeigte. „Allerdings wünschen wir uns den Wagen noch etwas kompakter und außerdem bevorzugen wir ein Schrägheck, der Innenraum sollte etwa dem unseres Käfers entsprechen. Das wäre die eine Sache. Daneben erwarten wir von Ihnen noch den Entwurf einer größeren Limousine für unser kommendes Modellprogramm.“
Das versammelte Volkswagen-Team blickte den Italiener an. Irgendwie, dachte Burkhard Gentz, hatte ich erwartet, dass der Mann Freudensprünge machen würde, weil er gerade im Begriff war, einen Auftrag von einem der immer noch größten Autobauer der Welt zu bekommen. Eigentlich müsste er jetzt einen Block Papier aus der Tasche ziehen und darauf spontan erste Entwürfe kritzeln, die mit der Realität eines Serienmodells kaum etwas gemein hatten und eher Ausdruck künstlerischer Kreativität wären – eben das, was man von einem extrovertierten jungen Designer erwartete.
Was Giorgetto Giugiaro tatsächlich tat, hatte hingegen niemand erwartet. Er zeichnete nicht und erging sich auch nicht in ausufernden Ausführungen über Kotflügelformen oder das ideale Design eines Kühlergrills.
Stattdessen fragte Giugiaro. Er stellte viele Fragen, überraschende Fragen. Der junge Italiener wollte mehr über die bei Volkswagen genutzten Produktionsverfahren wissen, fragte nach den eingesetzten Maschinen und sogar nach den Abständen zwischen den Schweißpunkten. Burkhard Gentz zog im Geiste den Hut vor dem Mann. Das war jemand, der nicht einfach aus Liebe an der Form Autos designte – er kannte sich auch bestens mit Produktionsverfahren aus. Damit, welchen Einfluss die Art der Herstellung auf mögliche Formen nahm. Nicht zuletzt deswegen war schon in diesen Augenblicken klar, dass Giugiaro den Auftrag beziehungsweise die Aufträge bekommen würde – auch wenn man pro forma vorerst noch andere Kandidaten auf der Liste ließ, die ihre Vorschläge...