E-Book, Deutsch, 208 Seiten
Hemel Kritik der digitalen Vernunft
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-451-81977-3
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Warum Humanität der Maßstab sein muss
E-Book, Deutsch, 208 Seiten
ISBN: 978-3-451-81977-3
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Digitale Transformation ist mehr als eine technologische Innovation. Sie hat gewaltige soziale, politische und kulturelle Auswirkungen. Was bedeuten diese Veränderungen für uns Menschen und für unsere Zukunft? Was bedeutet digitale Identität? Gibt es so etwas wie eine Maschinenwürde oder gar eine digitale Religion? Welche Herausforderungen bieten digitale Arbeit und Politik? Und wie sollen wir ethisch mit der digitalen Welt umgehen?
In seinem Buch zeigt Ulrich Hemel, dass eine Frage im Zentrum stehen muss: Fördert oder hemmt ein Werkzeug der digitalen Welt Menschlichkeit? Dieses Prinzip angewandter digitaler Humanität ist der Leitstern, dem wir in der digitalen Transformation folgen sollten. Denn die Verantwortung für unsere Zukunft liegt bei uns Menschen selbst.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
1. Philosophische Grundfragen der Digitalität
Die digitale Transformation durchzieht mittlerweile alle Lebensbereiche. Von der Produktion bis zur Logistik, vom Handel bis zu Dienstleistung, den Beruf ebenso wie den Alltag: Wir leben vernetzt und hängen von digitalen Strukturen in einem Ausmaß ab, das wir uns vor wenigen Jahren nicht hätten träumen lassen. Das Eindringen des Digitalen in die Lebenswelt
Mein Großvater, geboren 1896, Volksschullehrer im hessischen Bürstadt, liebte Reisen. Abgesehen von wenigen Fernreisen hatte er dabei einen Radius von etwa 100 km. Er nutzte öffentliche Verkehrsmittel und das Fahrrad. Autofahren lernte er nie. Fotografieren auch nicht. Aber er malte mit Aquarellfarben, und zwar Städte und Landschaften, vom nahen Rhein bis zu den Pyramiden in Ägypten. Mit der digitalen Welt hatte er nichts zu tun. Mein Vater, geboren 1927, nutzt das Telefon und fuhr zeitlebens Auto. An der digitalen Welt will er nicht teilhaben. Dadurch ist er nicht Mitglied der familieninternen WhatsApp-Gruppe. Wobei durchaus darüber diskutiert wird, dass die Datenschutzbestimmungen von WhatsApp unseren Ansprüchen nicht genügen. Achselzuckend stellen die teilnehmenden Familienmitglieder allerdings fest, dass der praktische Nutzen überwiegt. Zu den kleinen Widersprüchen der digitalen Welt gehört es also, dass wir die familieninterne Kommunikation in dieser WhatsApp-Gruppe über unsere Datenschutzbedenken stellen. Ich bin 1956 geboren und ein typischer „Digital Immigrant“. Mit diesem in der jüngeren Generation schon gar nicht mehr gebräuchlichen Begriff bezeichnete man Angehörige der Übergangsgeneration zwischen analoger und digitaler Welt. Immerhin gibt es das Internet erst seit 1991. Als ich 1988 gemeinsam mit meinem Freund Hans-Ferdinand Angel die Firma „EcclesiaData GmbH“ gründete, weil ich an das Zukunftspotenzial des PC auch im Bereich kirchlicher Organisationen glaubte, kamen wir zu früh und wichen auf andere Zielgruppen aus. Zu den Widersprüchen digitaler Immigrants gehört es bisweilen, dass sie zwischen analoger und digitaler Welt hin und her wechseln. Das geht auch mir so und gehört zur typischen Lebenslage meiner Alterskohorte. Eines Morgens vor fünf Jahren war mein jüngerer Sohn Daniel (geboren 1991) zu Besuch. Wir entschieden beim Frühstück, dass wir ins Kino gehen wollten. Ich zückte die gedruckte Tageszeitung, er sein Smartphone. Die Information über das Kinoprogramm war die gleiche, die Geschwindigkeit auch. Mein Enkelsohn Justus, geboren 2013, hat im Alter von 7 Jahren noch kein Handy. Manchmal tippt er Nachrichten auf dem Smartphone meines Sohnes, also seines 1983 geborenen Vaters Stefan. Justus ist in eine digital geprägte Welt hineingeboren, aber seine Eltern achten darauf, dass er in seiner frühen Kindheit durch Primärerfahrungen geprägt wird, nicht durch deren Abbildung auf einem Bildschirm. Er weiß also aus erster Hand, wie ein Wald riecht und wie Schmetterlinge fliegen. Andererseits durfte ich 2018 eine sehr neue und moderne Kindertagesstätte mit einem wunderschönen Ausblick in einen Park besuchen und fragte das Personal nach den Auswirkungen der digitalen Revolution. Eine Erzieherin erklärte mir: „Draußen war ein Eichhörnchen zu sehen. Ein Vierjähriger ging zum Fenster und machte eine Wischbewegung zur Bildvergrößerung. Er war erstaunt, dass das nicht klappte.“ Diese Generationenerzählung soll zeigen: Die Welt hat sich radikal verändert, und sie wird sich weiter verändern. Aber was bedeutet dies für den einzelnen Menschen in der Generationenfolge einer Familie? Was bedeutet es für die Arbeitswelt? Was für den gesellschaftlichen Zusammenhalt insgesamt? Und wie sieht es aus, wenn wir die Welt als ganze betrachten? Vieles spricht dafür, dass wir immer noch am Anfang stehen. Die Veränderung wird weitergehen, nach allen Vorzeichen rasanter und schneller, als wir es uns vorstellen können. Das geht bis zu unserem Selbstverständnis: Menschen haben die neue Aufgabe, sich nicht nur gegenüber Tieren, sondern auch gegenüber Künstlicher Intelligenz (KI) oder „Artificial Intelligence“ (AI) abzugrenzen. Digitale Verunsicherung und digitaler Konformitätsdruck
Die Frage nach der „Vernunft“ des Digitalen ist nicht nur rhetorisch so gestellt. Sie verweist auf ein zugrunde liegendes Gefühl tiefer Verunsicherung: Wer sind wir Menschen, wenn Maschinen uns womöglich überflüssig machen? Wie gehen wir mit dem Trend zu immer größerer Konformität um, den man „Digital Mainstreaming“ nennen kann? Wie können wir frei leben, wenn wir stets und ständig überwacht werden, etwa über unsere Bewegungsdaten und Bewegungsprofile, unsere Suchabfragen, unser Zahlungsverhalten, unseren digitalen Konsum? Immerhin wird schon die Abschaffung des Bargelds diskutiert, und zwar mit dem Argument der Verhinderung von Geldwäsche. So als ob jede Zahlung mit Bargeld unter den Schatten des Verdachts fiele! Das kleine Beispiel „Abschaffung von Bargeld“ zeigt auf, wie massiv sich die digitale Welt auf den Alltag auswirkt. Aber auch hier gibt es zwei Seiten. So konnte ich Anfang 2020 an einer Tankstelle mein Benzin nicht wie üblich mit der Kreditkarte, sondern nur mit Bargeld bezahlen. Die Kassiererin fragte mich, ob das denn ein Grund sei, anderswo zu tanken – und ich bejahte. Denn Bargeld muss ich aus dem Geldautomaten ziehen, was Aufwand und Mühe ist. Die Kreditkarte ist unmittelbar verfügbar, und am Ende des Monats habe ich eine Aufstellung über meine Ausgaben. Bequemlichkeit hat aber auch hier ihren Preis: Denn dann weiß nicht nur ich, was ich gezahlt habe, sondern auch das Kreditkartenunternehmen. Wie meine Daten dann in Big-Data-Auswertungen eingehen, weiß keiner. Aber im Alltag verdrängen wir es. Vernunft und Verstand in der digitalen Welt
Ist die digitale Welt vernünftig, kann Vernunft digital sein? Das ist die Leitfrage dieses Kapitels, und sie führt hin zum Thema dieses Buches. Selbst bei einem ganz einfachen Beispiel wie dem Tanken mit Kreditkarte entstehen Fragen, die sich aus der digitalen Durchdringung des Alltags ergeben. Was daran vernünftig ist, kann nicht losgelöst von eigenen Perspektiven und Interessen beantwortet werden. Das aber ist genau ein Teil des Dilemmas. Denn natürlich ist es praktischer und unter diesem Blickwinkel vernünftig, wenn ich mir einmal im Monat meine Benzinkosten ansehe. Wenn ich bar zahle, müsste ich mir das separat aufschreiben, Belege sammeln, Listen führen und dergleichen. Das Digitale wird also Teil der Alltagsvernunft! Wobei ausgebildete Philosophen anmerken würden, es könne sich hier höchstenfalls um ein Phänomen des alltäglichen Verstandes handeln, denn es geht um den „common sense“. Im angelsächsischen Sprachgebrauch ist damit insbesondere die Pragmatik des Einsatzes unserer Denk- und Handlungsfähigkeit in Abgrenzung zu einer umfassend verstandenen kognitiven Rationalität gemeint. Die weiter oben erwähnte Abschaffung des Bargelds verhindert Geldwäsche beim Kauf von Autos und Wohnungen, etwa wenn große Beträge in bar über den Tisch gehen. In Großbritannien gibt es bereits ein Gesetz, das zu Erklärungen verpflichtet, wenn große Summen Geld von einem Konto bewegt werden. Das Digitale ist hier nicht einfach Teil der Vernunft. Es wird Teil einer immer enger werdenden sozialen Kontrolle. Eine Kritik der digitalen Vernunft wird daher stets die Balance aus sozialer Kontrolle und Alltagserleichterung, aus Befreiung und Beherrschung, aus individueller Einzigartigkeit und genormtem Gruppenverhalten berücksichtigen müssen. Digitale Fragen sind nicht nur Fragen der Zweckmäßigkeit, sondern auch Fragen sozialer Macht und Ohnmacht. Die digitale Frage ist ja tatsächlich in vielerlei Hinsicht eine soziale und eine politische Frage, ob es auf den ersten Blick so wirkt oder nicht. Dafür möchte dieses Buch den Blick schärfen. Überlegungen darüber, was genau „digitale Vernunft“ sein soll, werden Gegenstand der folgenden Kapitel sein. Dabei ist digitale Vernunft von „Künstlicher Intelligenz“ zu unterscheiden und wird qualitativ gedeutet. Wir haben uns ja längst daran gewöhnt, dass gut programmierte und selbst lernende Computerprogramme besser Schach und besser Go spielen als die weltbesten Spieler. Reden wir dann von „intelligenten Anwendungen“ oder von „digitaler Vernunft“? Sollen wir eine „digitale Vernunft“ von einem „digitalen Verstand“ abgrenzen, oder geht eine solche Unterscheidung zu weit? Gibt es sinnvoll abgrenzende Gegenbegriffe zum Terminus „digitale Vernunft“, etwa digitale Unvernunft, digitaler Wahnsinn, digitale Naivität? Ist am Ende unsere Vernunft grundsätzlich schon „digital“? Oder deuten wir bloß aufgrund aktueller technischer Neuerungen unser menschliches Erkenntnisvermögen nach dem Bild der gerade aktuellsten Maschine? Schließlich hatten die Fortschritte der Präzisionsmechanik dazu geführt, dass Gott im 17. Jahrhundert auch mit dem obersten und perfekten Uhrmacher verglichen wurde. Unvernünftige Aspekte des Menschseins
Und wenn wir von „Vernunft“ und „vernünftig“ sprechen, wie gehen wir in Anwendung auf die digitale Welt mit den nicht so vernünftigen, mit den nicht nur emotionalen, sondern rundum irrationalen und widersprüchlichen Anteilen menschlichen Handelns und Lebens um? Wäre die Vernunft dann nur ein abgegrenzter Bereich inselhafter Anwendungen für eine rationale Weltgestaltung? Dann wäre eine rundum vernünftige Welt eine Welt der Perfektion, die zu einem breiteren Fundament rationaler Lebensgestaltung führen könnte....