E-Book, Deutsch, 192 Seiten
Henning Bis du wieder gehst
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-641-28510-4
Verlag: Luchterhand Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 192 Seiten
ISBN: 978-3-641-28510-4
Verlag: Luchterhand Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Seit zehn Jahren hat Henry Kaplan nichts von seiner Mutter gehört. Bis zu dem Anruf aus dem Uni-Klinikum Frankfurt. Seine Mutter sei auf dem Bahnhof zusammengebrochen und liege auf der Intensivstation. Im Koma. Henry sei als Notfallkontakt verzeichnet. Und so fährt der Antiquar aus dem Schwarzwald nach Hessen, ans Krankenbett der Mutter. Es wird eine Reise, die Mut von ihm verlangt und zugleich schmerzhafte Erinnerungen weckt. Henry war vier Jahr alt, als seine Mutter ihn das erste Mal verlassen hat. Ohne ein Wort ist sie in ein wartendes Taxi gestiegen und davongefahren. In ein Leben ohne ihn. Nach ein paar Monaten bei der Großmutter kommt er ins Heim. Eines von vielen traumatischen Erlebnissen. Kann man die Zeit kommentarlos zurückdrehen? Das lebenslange Gefühl von Verlassenheit, die Enttäuschungen und Kränkungen beiseiteschieben? Henry Kaplan begreift, dass dieser Moment auch eine Chance ist. Dass er womöglich erst frei sein wird, wenn er ihr vergibt.
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VI
Am nächsten Mittag wurde ich von den Fehlzündungen eines Wagens unten auf der Straße unsanft geweckt. Zum Fenster drang die sich draußen bereits wieder stauende, von Benzin- und Asphaltgeruch begleitete Hitze des neuen Tages herein.
Die Zeitungen schrieben von einem Jahrhundertsommer, und wohin man blickte, waren geschlossene Fensterläden und heruntergelassene Rollläden zu sehen. In den Vorgärten planschten Kleinkinder in für sie aufgestellten Kunststoff-Wasserbassins, vor den Geschäften standen Schalen mit Wasser für die ebenfalls unter der Hitze leidenden Hunde.
Weil ich in meinen Kleidern geschlafen hatte, hatte ich stark geschwitzt. Ich strich mir die klebrigen Strähnen aus der Stirn, setzte mich auf und sah mich im Raum um. Auf dem kleinen Kirschholz-Sideboard gegenüber stand ein gerahmtes Schwarz-Weiß-Porträt von mir. Es zeigte mich als jungen Mann in den Zwanzigern, mit in der Mitte gescheitelten kinnlangen Haaren und dem Ohrring, den ich damals noch trug. Ich war zum Zeitpunkt der Aufnahme endlich als Kriegsdienstverweigerer anerkannt worden und würde in wenigen Monaten eine Stelle in einer Gießener Jugendherberge antreten.
Woher hatte sie ausgerechnet Foto, das ein Freund 1994 aufgenommen hatte? Hatte sie hinter mir her spioniert? Alte Weggefährten von mir kontaktiert, darunter der Fotograf? Und sich das Foto erbettelt?
Ich erinnerte mich, dass sie mich einmal, ohne dass ich aber auch nur mit einem Wort auf ihren Wunsch eingegangen wäre, um ein Foto gebeten hatte. Die Vorstellung, gemeinsam mit den gerahmten Bildern ihrer drei Ehemänner Teil einer Art Galerie der Verflossenen und Verlorenen zu bilden, hatte mir damals überhaupt nicht behagt.
Doch nun, viele Jahre später, stand ich genau da, wo ich nicht hatte landen wollen, nämlich an der Seite ihrer Verflossenen als der , als den sie mich anderen gegenüber offenbar bezeichnete.
Ich erhob mich und ließ den Rollladen, den ich in der Nacht hochgezogen hatte, um die etwas abgekühlte Nachtluft hereinzulassen, wieder bis auf eine Handbreit herunter, nahm den Rahmen mit dem Foto in die Hand und sah es mir an. Und plötzlich war es, als reiste ich angestoßen durch die Fotografie in meiner Erinnerung in das Jahr 1994 zurück, in den Spätsommer jenes Jahres, in dem ich, eben dreiundzwanzig geworden, meine erste große Liebe Mariam traf.
Ich hatte mich damals, nachdem ich mit zweijähriger Verspätung gerade so das Abitur bestanden hatte, eine Zeit lang ziellos treiben lassen, hatte gejobbt, war herumgereist bis zum Beginn meines Ersatzdienstes und hatte damals nur Augen für Mariam gehabt. Jede freie Minute verbrachte ich an ihrer Seite, am liebsten in ihren Armen. Im Radio liefen Hits von Wet Wet Wet, Ace Of Base und Chris Rea, doch wir hörten immerzu America und Pink Floyd, wenn wir beieinanderlagen, nachdem wir uns geliebt hatten, und Pläne machten. »A Horse With No Name« und »Shine On You Crazy Diamond«. Im Rückblick schien es ein endloser Sommer der Liebe gewesen zu sein, den ich in Mariams Armen verbrachte. Damals dachte ich nicht eine Sekunde lang an meine Mutter. Warum auch?
Hans rief mich zu dieser Zeit öfter an, das weiß ich noch, und fragte manchmal, ob ich etwas von ihr gehört hätte.
»Du musst Geduld mit ihr haben!«, hatte er erstaunlich einfühlsam gesagt. »Irgendwann findet ihr schon zusammen!«
»Kann sein!«, hatte ich ihm daraufhin geantwortet. Aber auch: »Wieso sollte ich das wollen?«
Ich stellte das Foto zurück an seinen Platz, lief in die wegen der heruntergelassenen Rollläden dämmrige Küche und suchte in den Schränken nach Kaffeepulver und Filter. Am Vorabend hatte ich auf der Anrichte eine Kaffeemaschine entdeckt.
Eine Viertelstunde später saß ich geduscht und in frischen Kleidern am Tisch und trank in kleinen Schlucken den frisch gebrühten Filterkaffee. Ich nahm das Handy, wählte die Nummer der Klinik, in der Hans seit Jahren untergebracht war, und ließ mir ihn an den Apparat holen.
Zuvor hatte ich ihn jahrelang in der alten, aus steinstarrenden Isolierhäusern bestehenden Anstalt besucht. Die »Geschlossene Abteilung«, in der er manchmal wochenlang festsaß, wenn er einen Schub hatte, hatte sich in einem dunklen, trutzigen Gebäudetrakt befunden, der in der schönen Landschaft der Bergstraße ruhte und doch wie ein Fremdkörper gewirkt hatte. 2008 war beschlossen worden, die ganze Anstalt zu schließen und den Klinikbetrieb in neue Gebäude zu verlegen.
Wiederholt hatte das Pflegepersonal Hans überhart angepackt (so erzählte er es mir jedenfalls), ihn geschlagen und getreten, wenn er sich weigerte, seine Tabletten zu nehmen oder ihre Anweisungen ignorierte. Manchmal schien es mir, als trüge er die Wunden und Blutergüsse wie Auszeichnungen für seinen nicht zu brechenden Widerstand.
»Hallo!«, sagte er ein wenig atemlos, als er am Apparat war.
»Ich bin in Frankfurt, Hans, und würde dich gern sehen! Wie wäre heute Nachmittag? So gegen vier?«
Er fragte nicht, »Wieso bist du in Frankfurt?« Und auch nicht: »Was ist passiert?«
Stattdessen sagte er: »Ist gut!«
Ich stellte mir vor, wie Hans dort drüben schwer atmend stand und den Hörer ans Ohr hielt. Hans war nie einer gewesen, der viele Worte machte. Das Reden überließ er den anderen. Hans war früh aus der Spur geraten, genau wie ich. Wenn auch auf andere Weise. Trotzdem verband uns diese Tatsache mehr, als wir uns eingestehen wollten.
Ob er noch manchmal darüber nachdachte, wie sein Leben wohl verlaufen wäre, hätte ihn die Krankheit nicht auf ein holpriges Nebengleis geführt, fernab der eigentlich von ihm angestrebten Route?
Es klickte, und die Leitung war tot.
»Hans?«, rief ich irritiert. »Hallo!? Bist du noch da?«
Ich sah auf das Display. Gesprächsdauer: 29 Sekunden. Ich versuchte es noch ein paarmal, doch es nahm niemand mehr ab.
Ich trank den letzten, kalt gewordenen Rest Kaffee, erhob mich und begann, mich ein wenig genauer in der Wohnung umzusehen. In einer Schublade des Wohnzimmerschranks fand ich neben mehreren, fest mit gewöhnlicher grauer Schnur zu einem Packen verschnürter Briefe, einer Urkundenmappe, vergilbten Rechnungen sowie Bedienungsanleitungen diverser Elektrogeräte einen Roman von Siegfried Lenz und mehrere Fotoalben. Ich nahm die Briefe und die Alben, lief damit hinüber in die Küche und setzte mich erneut an den Tisch.
Durch die spaltbreiten Öffnungen des heruntergelassenen Rollladens drang das Sonnenlicht herein und malte gleißend helle Streifen auf die abgewetzte Resopaltischplatte.
Ich schlug das erste der drei Alben auf, auf dessen mit Kunstleder überzogener Frontseite eine Art Schnalle appliziert war, und begann darin zu blättern.
Von den mithilfe cremefarbener Fotoecken fixierten Aufnahmen blickte mir auf den starren Seiten eine jugendliche Version meiner Mutter entgegen: schlank und erkennbar scheu, mit pechschwarzen schulterlangen Haaren und vollen Wangen. Zweifellos eine schöne Frau!
Und im nächsten Moment war es, als bewegte ich mich in das Jahr 1967 zurück – und das Wenige, das ich aus ihren spärlichen Erzählungen behalten hatte, begann hier und da auf den Bildern Gestalt anzunehmen: windschiefe, schlecht verputzte Häuser in der hügeligen Landschaft der Magdeburger Börde, vor denen man sie, die damals gerade mal fünfzehnjährige junge Frau, die vielleicht von einem Spaziergang in die nahen Felder heimkehrte, abgelichtet hatte.
Dort also war sie einst aufgewachsen, in Oschersleben, dort kam sie her, aus Sachsen-Anhalt, wo sie ihre Jugend zwischen Hakel und Hohem Holz zugebracht hatte. In einfachsten Verhältnissen, wie sie mir einmal erzählt hatte: Außenklosett, Küche mit Eckbank, zwei niedrige Zimmer für drei, Warmwasseranschluss nicht vorhanden. Ihre obrigkeitshörige Mutter hatte als Näherin in einer Kleiderfabrik gearbeitet. Sprach Ulbricht im Radio, schloss sie andächtig die Augen. Der saufende Stiefvater war von Beruf Friseur gewesen. Jahrelang hatte der Kerl die Ziehtochter sexuell missbraucht. Bis ihn endlich ein Herzinfarkt erledigte und sie, als sie von seinem Tod erfuhr, vor Freude anfing zu weinen.
Ihren leiblichen Vater, der als Ingenieur im Flugzeugwerk Dresden gearbeitet und an der Konstruktion der Baade 152, dem ersten Passagierjet der DDR, beteiligt gewesen war, hatte sie schon als kleines Mädchen aus den Augen verloren. Es hieß, er sei einer Russin nach St. Petersburg gefolgt. Seine Spuren verloren sich im Dunkel der Geschichte. Am Tag des erfolgreichen Erstflugs der Baade im Dezember 1958 war meine Mutter gerade mal sechs Jahre alt gewesen. Wer einmal verlassen wurde, verlässt später andere.
Ich versuchte, mir beim Betrachten der alten Schwarz-Weiß-Aufnahmen vorzustellen, wie die junge Frau, fast noch ein Mädchen, aus diesem Ort in Sachsen-Anhalt weggekommen war. Wie hatte sie das gemacht? Wie war sie von dort weggekommen?
War sie heimlich geflohen, nachts? Mit ein paar Sachen im kleinen Koffer und dem letzten Zug vor Fahrplanschluss in Richtung Berlin oder Hamburg? Auf direktem Weg in die Arme meines Vaters?
Oder per Anhalter? »Nehmen Sie mich bitte mit – ganz gleich wohin! Alles ist mir recht!«
Oder hatte ihr bei der Flucht in den Westen jemand geholfen? Ihren Ost-Dialekt hatte sie irgendwann abgelegt. Doch ihr Loblied auf Bohnenkaffee, Markenbutter und Nylonstrümpfe sang sie bis zum Schluss in der Tonlage der in den Westen übergelaufenen Ex-Genossin.
Ich blätterte das Album noch eine Zeit lang durch, ließ meinen Blick aber bald immer gelangweilter von...