Henning Die Chronik des verpassten Glücks
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-641-15814-9
Verlag: Luchterhand Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 448 Seiten
ISBN: 978-3-641-15814-9
Verlag: Luchterhand Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Autoren/Hrsg.
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Das wenige Minuten vom Hauptbahnhof Kraków Glowny entfernte Hotel Orion erwies sich als ein Ort, an dem die Zeit stehengeblieben zu sein schien. Warlo stand in dem weitläufigen, mit alten Mahagoni- Stilmöbeln vollgestellten und dadurch eigenartig museal wirkenden Hotelzimmer am Fenster, ließ seinen Blick über den bereits beleuchteten Barbakan mit seinen Spitztürmen schweifen und hatte plötzlich das sowohl irritierende als auch anheimelnde Gefühl, wieder im einst ebenso geräumigen Wohnzimmer seiner Großmutter Vera zu stehen. Der knöchelhohe, rostbraune und sichtbar verfilzte Teppichboden schluckte genau wie damals, wenn er vor ihr auf und ab ging, jedes Geräusch seiner Schritte. Und das sachte, gleichmäßige Ticken der Standuhr in dem kleinen Flur, der das graublau gekachelte Badezimmer mit dem Schlafraum verband, erzeugte ein beinahe ähnlich einschläferndes Gleichmaß, wie es der neben dem Bett der Großmutter auf dem Nachttisch stehende Wecker getan hatte. Nur die rhythmisch flackernde, unterhalb seiner Fenster an der Außenwand in riesigen Lettern angebrachte Leuchtreklame Hotel Orion, die in kräftigen Bündeln ihren orangeroten Schein ins Zimmer warf, störte die fast meditative Ruhe. Warlo zog die Fotos aus der Tasche und legte sie auf den kleinen Nachttisch, ließ sich im Halbdunkel rücklings auf das mit einer schweren dunklen Tagesdecke überzogene Bett fallen und streifte die Schuhe ab (die mit einem trockenen Ploppen im Teppich versanken), schloss die Augen und atmete die schwere, leicht nach Nikotin und Raumspray riechende Luft. Wisniewski war am Bahnhof in ein Taxi gestiegen und nach Stare Miasto in Richtung Altstadt abgefahren, wo sich sein Buchladen befand. Zuvor hatten sie sich für den nächsten Morgen verabredet, um gemeinsam nach Sosnowiec zu fahren. Nun war Warlo allein. Er hatte Hunger, doch die Vorstellung, zum Telefonhörer greifen und in schlechtem Englisch einen Snack bestellen zu müssen, schreckte ihn ab. Er breitete die Arme aus und atmete mit geschlossenen Augen ein paarmal tief ein und aus und konzentrierte sich dabei auf das Auf und Ab seines Brustkorbs. Von draußen drangen gedämpft die Geräusche des Abends herein. Untermalt davon bildete sich aus dem Dunkel plötzlich Pawels Gesicht heraus, und die Zeit machte einen Sprung zurück in den Sommer des Jahres 1969. Sie waren in Jugoslawien, es war Nacht, und Pawel, braungebrannt und nur mit Shorts und seinen Ledersandalen bekleidet, umklammerte wegen des Sturms, der inzwischen seit mehr als einer Stunde tobte, das ächzende Gestänge ihres Hauszelts, damit es nicht wegflog. Begleitet von heftigen Stößen, den sogenannten Reffoli, wütete die Bora, dieses Sturmmonster, mit nicht nachlassender Gier und fegte in diesen Minuten mit einer Geschwindigkeit von über 200 km/h von Triest herkommend alles weg, was nicht niet- und nagelfest war. Innerhalb kürzester Zeit verwandelte sie die Nordwestküste Kroatiens alle Jahre wieder in ein Schlachtfeld. Tags darauf würden sie, genau wie in den Jahren zuvor, in denen sie nach Jugoslawien gefahren waren und Camping gemacht hatten, die entstandenen Schäden besichtigen können: scheinbar spielend aus ihrer festen Verankerung gerissene und am Steinufer zerschellte Schnell- und Segelboote. Dutzende zerstörter Zelte, umgekippte Wohnwagen und entwurzelte Feigenbäume, die kleinere Zelte unter sich begruben. Am Mittag noch waren sie mit ihren Netzen unter einem wolkenlos blauen Himmel in den nahen Bergen unterwegs gewesen, um Felsenhexen, südliche Zitronenfalter, Segelfalter und Spanische Fahnen zu jagen, ehe sie in der Nacht, so war es jedenfalls geplant gewesen, zwischen Zeltstangen befestigte Bettlaken mit ihren von zuhause mitgebrachten Halogenscheinwerfern anstrahlen würden, um die riesigen Oleander-, Winden- und Ligusterschwärmer anzulocken. Doch dann war die Bora gekommen, schnell und übermächtig, und Pawel hatte ihn gemeinsam mit der Großmutter ins Auto verfrachtet. Lange hatten sie gebannt hinaus in die immer wieder sekundenlang von Serien wütender Blitze magisch erhellte Nacht gestarrt und nur dann und wann ein Wort gewechselt. Die Lichtkegel der Taschenlampen der ruhelos über den Platz irrenden Camper hatten die Szenerie zusätzlich gespenstisch erhellt. Bis das Tosen abebbte, der Sturm in Richtung Süden weiterzog und Warlo, der nicht eine Sekunde lang ein Auge zugemacht hatte, beobachtete, wie Pawel von einem Mann eine offensichtlich schwere Kiste in Empfang nahm, die sich am nächsten Morgen beim heimlichen Blick in den Kofferraum des Opel Rekord als eine Ansammlung ölig glänzender Handfeuerwaffen erwies. Pawel hatte die Waffen im Schutz der stürmischen Nacht von Milan, dem Campingplatzbetreiber, gekauft; mehr als zwei Dutzend funktionstüchtiger jugoslawischer 9 x 19 mm-Parabellum Militärpistolen vom Typ Zastavas CZ99, die er anschließend über die Grenze nach Deutschland schmuggelte und, wie Warlo aus einem später zufällig mitangehörten Telefonat erfuhr, über einen Frankfurter Mittelsmann an eine Gruppe polnischer Nationalisten in Warschau, sogenannte Autonome, weiterverkaufte. Warlo riss die Augen auf und starrte mit stockendem Atem an die stuckverzierte, wegen der zahlreichen winzigen Schatten an eine Mondkraterlandschaft erinnernde Zimmerdecke. Denn die Erinnerung an Pawels damaligen Waffenkauf schien plötzlich auf gespenstische Weise mit den Fotos aus der Pralinenschachtel zu korrespondieren. Offenbar hatte er auch damals noch mit den ultrarechten Kreisen in Polen sympathisiert. Es war, als fügten sich die ersten beiden Teile eines größeren, vor langer Zeit zersprengten Puzzles ineinander. Warlo begann nun trotz der im Raum herrschenden Temperatur von höchstens 15 Grad leicht zu schwitzen. »Das wird ganz einfach die Übermüdung sein«, sagte er sich beschwichtigend. »Kein Wunder bei der langen Fahrt!« Doch wie lange erfolgreich in Schach gehaltene böse Geister sprangen ihn auf einmal aus sämtlichen Ecken des halbdunklen Zimmers vergessene oder aus irgendeinem Grund verdrängte Erinnerungen an Pawel an. Sie taten es mit einer solchen Heftigkeit, dass Warlo in dem Wunsch, die wie mit einem Glühdraht aus der Schwärze des Vergessens herausgeschnittenen Bilder zu verscheuchen, ein paarmal reflexartig mit der rechten Hand vor dem Gesicht herumwedelte. Weil das aber nicht half, sprang er auf, zog in einer einzigen fließenden Bewegung die altmodische, vom Rauch ungezählter Zigaretten braun gewordene Nylongardine beiseite und machte das Fenster ganz auf. Sofort strömte in unsichtbaren Wellen die kalte, von den tausend Aromen der Nacht erfüllte Nachtluft herein, und Warlo fühlte, wie der eben noch beklemmende Widerhall seines rasenden Pulsschlags ganz hinten im Rachen nachließ. Er lief ins Bad und betätigte den Schalter der kreisrunden Deckenlampe. Ein Ruck, ein kurzes Flackern, und es wurde hell. Über das alte, ungewöhnlich breite Specksteinwaschbecken gebeugt klatschte er sich so lange immer wieder das eisig aus dem Hahn herausspringende Wasser ins Gesicht, bis es brannte. Zehn Minuten später saß Richard Warlo auf seinem Bett, hielt im matten Schein der kleinen Wandleuchte den mausgrauen Telefonhörer ans Ohr gedrückt und bat die Dame von der Rezeption, ihn mit folgendem Anschluss in Deutschland zu verbinden: 0049–221–3?726?837. Marcin erwachte von der Kälte, die seinen nackten, vom Wasser aufgeweichten Körper umgab. Er blinzelte überrascht und hob die linke, schrumpelig gewordene Hand aus der milchigen Brühe. Sein mächtiger, feucht glänzender Bauch erinnerte ihn an den fetten, aufgeblähten Leib einer vollgefressenen Made, und seine speckigen schlaffen Beine wirkten, verzerrt durch das trübe Wasser, monströs. Wie er diesen Anblick hasste. Sein Blick wanderte hinunter zu der Innenseite seines linken Arms und der daran angebrachten Tätowierung, einem verwaschenen blauschwarzen Kreuz, von dessen Querbalken Tränen auf den angedeuteten Erdhügel fielen, auf dem es stand. Umflattert wurde das Kreuz von einem dichten Schwarm gen Himmel aufsteigender Vögel, sich in Spiralen windende, kleiner werdende geschwungene Vs. »Das sollen Krähen sein!«, hatte Marcin seiner Schwester geantwortet, als sie das Tattoo entdeckte. Er hatte es sich vor Jahren von einem Chinesen namens Thien stechen lassen, der in der Nähe des Bahnhofs ein kleines Studio betrieb, Tattoo-Dragon. Dieser Thien war kürzlich nachts auf der Aleja Walentego Rodzenskiego zwischen Sosnowiecz und Kattowice mit seinem Wagen von der Spur abgekommen und gegen einen Baum geprallt. Er sei, so hatte es in dem Artikel der Katowice gestanden, sofort tot gewesen. Marcin hatte lange das Bild des zerstörten Wagens in der Zeitung angesehen, langsam den Ärmel seines Hemdes hochgeschoben und an den kleinen brennenden Schmerz gedacht, den der Chinese ihm damals mit seiner Nadel zugefügt hatte. Er fuhr mit dem Finger über die Tränen und murmelte halblaut: »Eine ist für dich, mein Freund!« Er musste plötzlich wieder an den Tod denken, dieses große, gespensterhafte Etwas, von dem alle Welt immerzu redete und das doch kein Mensch kannte. Wenn er in der Wanne lag und seinen nackten, unförmigen Körper sah, stiegen dunkle Gedanken in ihm auf, Gedanken an sein eigenes, in ferner Zukunft liegendes Ende. Als Katholik, als guter Katholik, wie er fand (auch wenn er sich nicht daran erinnern konnte, wann er das letzte Mal in der Kirche gewesen war), hätte er eigentlich an die trostspendende Wiederauferstehung des Fleisches glauben müssen. Damit...