Hess | Tagebuch eines Sexsüchtigen | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 192 Seiten

Hess Tagebuch eines Sexsüchtigen


1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-86787-801-2
Verlag: Bruno Books, Salzgeber Buchverlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)

E-Book, Deutsch, 192 Seiten

ISBN: 978-3-86787-801-2
Verlag: Bruno Books, Salzgeber Buchverlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)



'Tagebuch eines Sexsüchtigen' schildert einen Monat im Leben eines schwulen New Yorkers. Jede Nacht ist der mysteriöse Verfasser der Tagebucheinträge über Grindr und Manhunt auf der Suche nach hemmungslosem Sex. Doch als die nächtlichen Dates die Leere in seinem Leben nicht mehr zu füllen vermögen, ist der Erzähler gezwungen, sich seiner Sucht zu stellen und seinem Leben eine neue Richtung zu geben. 'Tagebuch eines Sexsüchtigen' ist ein ebenso poetischer wie mitreißender Roman, der süchtig macht - schonungslos ehrlich, sprachlich brillant und mit viel schwarzem Humor.

Scott Alexander Hess schreibt neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit regelmäßig für die Huffington Post. 'Tagebuch eines Sexsüchtigen' ist sein literarisches Debüt. Für seinen zweiten Roman 'Bergdorf Boys' erhielt er den Rainbow Book Award. Scott Alexander Hess lebt in Manhattan.

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9. Dezember
Mein Morgen beginnt mit: »Ich will dein Schwein sein, erzieh mich und lass mich deine Pisse trinken.« Es ist eine Nachricht von, nun ja, von ihm. Bei den Textmännern ist es am schwierigsten, den Überblick zu behalten: Es gibt weder Bilder noch Namen. Aber dieser hier schreibt schon seit zwei Monaten, dass er bare durchgenommen werden will, am besten von mehreren und gleich mit dem ganzen Unterarm. Ich frage mich, ob er wirklich »38, durchtrainiert und gut bestückt« ist, wie es in seinem Profil heißt. Oder ein alter, fetter Sack, der an irgendeiner furchtbaren Krankheit leidet und seine Fantasien nur noch in Nachrichten wie dieser hier ausleben kann. Ich stehe auf und gehe ein paar Schritte durch das Dunkel. Meine Wohnung liegt auf der Rückseite des Hauses. Das ist einerseits ein Segen, weil es so ruhig ist. Andererseits fast ein Fluch, weil kaum Licht reinkommt. Aber mich stört die Dunkelheit nicht – ich finde die gruftartige Atmosphäre beruhigend. Noch ganz schwach auf den Beinen, fühle ich mich wie ausgehöhlt. Ich male mir aus, dass sich letzte Nacht ein hübscher Serienmörder in meine Wohnung geschlichen, mich im Schlaf ausgeweidet und meinen Brustkorb mit parfümiertem Sägemehl ausgestopft hat, um mich dann wieder zuzunähen und die Narbe mit Max-Factor-Concealer zu kaschieren. Solche Fantasien habe ich am frühen Morgen oft. Sie machen mir nichts. Während ich allmählich zu mir komme, erinnere ich mich nach und nach an den fiesen kleinen Latinobengel, für den unser Fick gar nicht hart genug sein konnte. Aber dann frage ich mich, ob ich das nicht auch nur geträumt habe. Zwei große Gläser Eiskaffee später geht es mir etwas besser. Ich gehe zu meinem Adventskalender und hänge eine winzige Stoffpuppe und einen Spielzeugtruck mit Augen an die Haken für den achten und neunten Dezember. Der Tag kann beginnen. Als ich mich wegdrehe, kommt es mir kurz so vor, als würde die Stoffpuppe mich auslachen. Nach der Dusche betrachte ich mich in meinem Ikea-Spiegel, in dem ich heute besonders geschmeidig aussehe, fast wie gemeißelt. Ich bekomme Lust, ein paar Fotos zu schießen, wie jeden Morgen, und meine Profilbilder auf Manhunt und Grindr zu aktualisieren. So habe ich einen Vorsprung und erwische die Typen, die schon tagsüber auf der Suche nach Sex sind – heute Nacht muss es klappen, denn sonst … Denn sonst was? Sonst stürze ich mich wahrscheinlich kopfüber in das schwarze Loch und löse mich auf. All das geht mir durch den Kopf, während ich in den Spiegel schaue. Plötzlich wird mir klar, wie viel Angst ich davor habe, näher an den Spiegel heranzutreten. Ich mag es nicht, mich von Nahem zu sehen. Ich fühle mich dann alt. Meine Haut hat unter der Sonne gelitten, und ich habe zu viele von diesen abstoßenden Sommersprossen. Ich mache einen Schritt nach vorn und habe dabei das Gefühl, etwas besonders Waghalsiges zu tun. Noch einen. So weit, so gut. Drei schnelle Schritte. Schließlich noch zwei, und da bin ich, da steht es direkt vor mir: mein Gesicht. Die achtunddreißigjährige, mit Sommersprossen übersäte Stirn, die Krähenfüße, die nicht mehr ganz straffe Kinnpartie. Schnell gehe ich wieder auf sichere Distanz. Jetzt zählen nur noch meine Titten und meine 74-Zentimeter-Taille. Aus anderthalb Metern Entfernung bin ich ein ganzer Kerl, ein geiler Hengst. Dann schließe ich die Augen und lasse zum ersten Mal seit Monaten meine Schultern hängen, so tief, wie es nur geht. Um mir zu beweisen, dass es mir ernst ist, sage ich laut zum Spiegel: »Wirst du jemals der sein können, der du wirklich bist?« Ich schaue mir den schlanken, blassen, perfekt geformten nackten Körper in meinem Ikea-Spiegel an und sage zu ihm: »Wer zur Hölle bist du eigentlich? Warum lässt du das Versteckspiel nicht einfach sein und versuchst es herauszufinden?« Es ist völlig still, und mein Kopf ist leer. Die kleine Stoffpuppe am Adventskalender blinzelt boshaft in meine Richtung. Ich möchte ihr eine Nadel ins Auge stechen. Das dumpfe Rumgrübeln nervt. Der Tag muss weitergehen. Ich wichse schnell zu einem verpixelten Video auf meinem iPhone, in dem ein angeblich heterosexueller arabischer Nerd meisterhaft an einem großen körperlosen Schwanz lutscht. Fürs Erste befriedigt, ziehe ich mich an für die Arbeit. Ich suche mir ein richtig schönes Outfit zusammen, um mich aufzumuntern, denn ich spüre bereits die Folgen der viel zu kurzen Nacht. Außerdem will ich halbwegs anständig aussehen, wenn ich auf dem Weg zur Arbeit einen kurzen Zwischenstopp einlege und meine Tante Flora besuche. Ich sehe sie einmal in der Woche. Sie ist ziemlich alt und könnte jeden Moment abkratzen. Als ich das Haus verlasse, beschließe ich, dass ich mir heute zehn Dinge überlegen werde, die ich noch tun will, bevor ich sterbe. Ich bin mir sicher, dass ausschweifender anonymer Sex nicht dazugehören wird. Tante Flora ist ein altes Showgirl und ziemlich viel herumgekommen. Seit ein paar Monaten besuche ich sie regelmäßig. Nach einem leichten Herzinfarkt hatte sie plötzlich den Wunsch, ihren »einzigen lebenden Verwandten« kennenzulernen. Sie ist die kleine Schwester meines verstorbenen Vaters, und sie ist stinkreich. Wenn sie nicht noch einmal heiratet (ihr Ehemann, ein Gastwirt aus Manhattan mit Verbindungen zur Mafia, ist vor Jahren von der Bildfläche verschwunden), nicht wahnsinnig wird oder mich irgendwann satt hat, werde ich es sein, der ihr langsam versiegendes Vermögen erbt. Ihre verlockendsten Besitztümer sind eine stattliche Dreizimmerwohnung in Manhattans nobler Upper West Side und eine riesige Kunstsammlung, zu der auch ein Pollock und ein Warhol gehören. Sie ist eine wohlgenährte Frau von achtzig Jahren mit ovalen blauen Augen, glänzendem blonden Haar und einer Haut, die dank professioneller Botoxbehandlungen wieder aussieht wie Porzellan. Sie ist kerngesund und noch ziemlich gut beeinander. Allerdings hat sie die Angewohnheit, längere Zeit einfach nur dazusitzen, ohne ein Wort zu sagen. Bis ihre Gedanken dann plötzlich ins Rotieren kommen, wie ein verstaubter Ventilator, der lange nicht benutzt worden ist, und man von dem Schwall unzusammenhängender Erinnerungen fast weggeblasen wird. Ob ihre Geschichten der Wahrheit entsprechen oder nur ausgedacht sind, weiß ich nicht. Wahrscheinlich ein bisschen von beidem. Am liebsten spricht sie von früher, als ich noch ein sechsjähriger Junge war und sie jeden Sommer zu Besuch auf den Bauernhof meiner Eltern in Arkansas kam – oder sie erzählt von ihrer Zeit auf den Bühnen New Yorks. Ich erinnere mich, dass sie uns jeden Sommer besuchte, bis ich zwölf war. Dann hörten ihre Besuche auf. Ich weiß nicht, warum. Tante Floras Theaterkarriere (sie nannte sich damals Florence Tanner) lief in den frühen 1960ern hervorragend. Aber als sie heiratete, wurde es schlagartig still um sie. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie sich aus freien Stücken entschieden hat, der Bühne den Rücken zu kehren. Sie hatte immer ihren eigenen Kopf, und auch damals hätte sie sich von niemandem herumkommandieren lassen. Schon gar nicht von ihrem rabiaten Mafioso-Ehemann. Bevor er ein paar Nobelrestaurants kaufte, war er Boxer. Auf den Fotos, die ich von ihm kenne, sieht er ziemlich scharf aus. Ich würde ihn ficken. Ich bin mit dem Rad zum Apartment meiner Tante gefahren, und jetzt sitze ich ihr gegenüber. Flora hat auf einem thronähnlichen Sessel im Wohnzimmer Platz genommen und ist eingenickt, ihr Kopf ist nach hinten gesunken. Ich glaube, was sie geprägt hat, war, dass sie sich, als armes Mädchen aus Arkansas, im Leben immer durchsetzen musste, gegen unmenschliche Armut und alle möglichen anderen Grausamkeiten – genau wie mein Vater. Dank ihrer exklusiven Kleidung, ihrer kultivierten Ausdrucksweise und des Geldes sieht man ihr die raue Kämpfernatur nicht mehr an. Aber wie ein Skorpion mit Giftstachel sticht sie zu, sobald sie sich in die Enge getrieben fühlt. Jetzt schnarcht sie leise. Bei meinen Besuchen rede ich nicht viel – hauptsächlich, weil ich befürchte, sie unabsichtlich zu verärgern und dann enterbt zu werden. Aber wenn Flora ins Erzählen kommt, fühle ich mich immer wie ihr Privatsekretär, angestellt, um ihre Biografie zu schreiben. Heute sitzen wir uns schon seit fünfzehn Minuten schweigend gegenüber. Sie hebt den Kopf, aber ihre Augen bleiben geschlossen. Dann leckt sie sich die Lippen, wie eine erschöpfte Katze. Ich sitze auf einer Chaiselongue. Wie eine Puppe, die jemand dort hindrapiert hat. Ich lasse meinen Blick durch den Raum schweifen und stelle mir vor, wie ich die antiken Möbel für eine schicke kleine Orgie umstellen würde. Wir sitzen vor einer hohen Fensterfront, die einen schönen Ausblick auf die West End Avenue bietet. So ist es jedes Mal, wenn ich sie besuche: Immer das gleiche Arrangement, und immer steht ein Teller mit Ingwerkeksen auf einem kleinen Tischchen zwischen uns. Keiner von uns rührt die Kekse an. Wir müssen eben beide auf unsere Linie achten. »Ich möchte dir etwas zeigen«, sagt sie und reißt, plötzlich hellwach, die Augen auf. Dann zieht sie eines ihrer vielen Fotoalben hervor. Ich muss zugeben, dass ich diese Besuche, so kurz und belanglos sie sind, als sehr tröstlich empfinde. Hier wird nichts von mir erwartet, und ich glaube sogar, dass Flora manchmal vergisst, wer ich bin. Es fühlt sich fast anonym an, und das gefällt mir. Außerdem ist es schön, mit jemandem Zeit zu verbringen, den ich nicht vögeln will. »Komm, setz dich zu mir«, sagt sie. Dabei klopft sie leicht auf einen barocken, mit Troddeln behangenen Fußhocker neben ihr. Aufgeschlagen ist das Album bei einem...


Scott Alexander Hess schreibt neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit regelmäßig für die Huffington Post. "Tagebuch eines Sexsüchtigen" ist sein literarisches Debüt. Für seinen zweiten Roman "Bergdorf Boys" erhielt er den Rainbow Book Award. Scott Alexander Hess lebt in Manhattan.



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