Höllinger | Religiöse Kultur in Brasilien | Buch | 978-3-593-38473-3 | sack.de

Buch, Deutsch, 261 Seiten, Format (B × H): 143 mm x 214 mm, Gewicht: 334 g

Höllinger

Religiöse Kultur in Brasilien

Zwischen traditionellem Volksglauben und modernen Erweckungsbewegungen
1. Auflage 2007
ISBN: 978-3-593-38473-3
Verlag: Campus

Zwischen traditionellem Volksglauben und modernen Erweckungsbewegungen

Buch, Deutsch, 261 Seiten, Format (B × H): 143 mm x 214 mm, Gewicht: 334 g

ISBN: 978-3-593-38473-3
Verlag: Campus


Die religiöse Kultur des modernen Brasilien zeichnet sich durch eine außergewöhnliche Vielfalt und Dynamik aus. Das Spektrum reicht von archaischen Formen des Spiritismus über den Volkskatholizismus, die katholische Befreiungstheologie und die charismatische Erneuerungsbewegung bis hin zu den Pfingstkirchen. Franz Höllinger zeichnet nach, wie sich die religiöse Kultur im Verlauf der letzten 150 Jahre aus der Volksreligiosität der multiethnischen Kolonialgesellschaft heraus entwickelte. Er zeigt, welch zentrale Rolle die neuen religiösen Bewegungen für die Bewältigung der sozialen Probleme spielen, die der Prozess der Modernisierung in einer postkolonialen Gesellschaft mit sich bringt.

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Einleitung

Die traditionelle Volksreligiosität und ihre Entstehung in der Kolonialgesellschaft

1. Die traditionelle Volksreligiosität
1.1 Der Volkskatholizismus
1.2 Afrobrasilianische Religionen
1.3 Heiler, spiritistische Medien und Zauberer

2. Entstehung der Volksreligiosität in der Kolonialgesellschaft
2.1 Die ursprüngliche Religion der drei ethnischen Gruppen
2.2 Soziale Beziehungen und Lebensbedingungen in der Kolonialgesellschaft
2.3 Die Kirche und das religiöse Leben in der Kolonialzeit
2.4 Zwischenresümme: Die religiöse Kultur der Kolonialgesellschaft
Exkurs: Max Webers Sichtweise der archaischen Religion

Der Wandel des religiösen Feldes im Verlauf der Modernisierung

3. Soziokulturelle, ökonomische und politische Entwicklung Brasiliens im 19. und 20. Jahrhundert
3.1 Der Einfluss der Aufklärung und des Positivismus
3.2 Der Agrarkapitalismus und die Reeuropäisierung Brasiliens
3.3 Die nationalistische Bewegung
3.4 Industrialisierung und beschleunigte Urbanisierung
3.5 Die Kontinuität der sozialen Ungleichheit

4. Konsolidierung und Infragestellung der Katholischen Kirche in der ersten Phase der Modernisierung
4.1 Die Romanisierung des Katholizismus
4.2 Messianische Bewegungen

5. Das spiritistische Kontinuum
5.1 Der Spiritismus (Kardecismus)
5.2 Umbanda
5.3 Weitere esoterisch-spiritistische Religionsgemeinschaften

6. Protestantismus und Pentecostalismus
6.1 Der historische Protestantismus
6.2 Der Pentecostalismus

7. Neue Strömungen im Katholizismus in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts
7.1 Theologie der Befreiung und katholische Basisgemeinden
7.2 Die Katholische Charismatische Erneuerungsbewegung

Religion in der Gegenwartsgesellschaft
8. Struktur und Dynamik des religiösen Feldes
8.1 Die konfessionelle Struktur
8.2 Multiple religiöse Identitäten und Dynamik des religiösen Feldes

9. Hauptmerkmale der Religiosität in Brasilien
9.1 Der Glaube an spirituelle Entitäten
9.2 Individuelle und gemeinschaftliche religiöse Rituale
9.3 Spirituelle Trance, Heilungsrituale und Magie
9.4 Religion und soziale Schichtung

10. Religion und Lebensführung
10.1 Die Ethik des Volkskatholizismus
10.2 Religiöse Ethik und Lebensführung in der modernen Gesellschaft

Die religiöse Kultur Brasiliens in komparativer Perspektive

11. Religiosität im interkulturellen Vergleich
11.1 Religiöse Praxis in den Kulturkreisen der Welt
11.2 Religiöse Entwicklung in den Ländern Lateinamerikas

12. Religiöse und gesellschaftliche Entwicklung in Europa, Lateinamerika und in den USA
12.1 Religiöse Evolution und die Entstehung kulturspezifischer Formen der Religiosität
12.2 Religion, sozioökonomische Entwicklung und soziale Ungleichheit
12.3 Abschließende Bemerkungen

Liste der Interviewpartner
Glossar
Literaturverzeichnis


Für einen großen Teil der Menschen in Europa stellen Religion und Kirche nur mehr Relikte aus früheren Zeiten dar. Man empfindet religiöse Riten als veraltertes Brauchtum, das mit dem eigenen Leben nichts oder nur sehr wenig zu tun hat. Religiöse Empfindungen hat man allenfalls bei außeralltäglichen Ereignissen oder in extremen Lebenssituationen, bei der Geburt eines Kindes, beim Tod eines nahestehenden Menschen, angesichts einer lebensbedrohenden Krankheit oder beim Blick vom Gipfel eines Berges in die Welt ringsum. Ein Teil derer, die sich von der Kirche distanziert haben, begibt sich auf eine private Sinnsuche am boomenden Esoterik- und Selbstverwirklichungsmarkt. In vielen Fällen beschränkt sich diese Sinnsuche aber auf die Lektüre von Büchern und die sporadische Teilnahme an Kursen und hat nur geringe Auswirkungen auf das Alltagsleben. Für die überwiegende Mehrheit der Weltbevölkerung hingegen stellt die Religion auch heute noch eine zentrale Dimension des Lebens dar. Sie manifestiert sich in der subjektiven Gewissheit, dass die Welt von göttlichen Kräften durchdrungen ist, und im Bedürfnis, durch Rituale eine Verbindung zur spirituellen Dimension des Lebens herzustellen. Die Kraft des Glaubens kann sich auf unterschiedliche Weise äußern: als Lebensfreude und schöpferischer Elan; als soziales Engagement und als Motivation, das eigene Leben durch Disziplin und Willensanstrengung zu meistern; als Fähigkeit, individuelle Schicksalsschläge und Entbehrungen leichter zu ertragen; aber auch als Bereitschaft, gesellschaftliche Missstände und Ungerechtigkeiten zu akzeptieren. Die Kraft des Glaubens kann mitunter so stark sein, dass im Leben des Gläubigen Ereignisse eintreten, die dieser als göttliche Wunder empfindet, wie etwa die Heilung von einer Krankheit, die nach den üblichen medizinischen Maßstäben als unheilbar galt, oder die Rettung aus einer scheinbar ausweglosen Situation.
Brasilien ist eines der Länder in der gegenwärtigen Welt, in denen das religiöse Leben besonders intensiv und vielfältig ist. Im Unterschied zu Europa führte der Übergang von der vorindustriell-ländlichen Gesellschaft zur urbanen Industriegesellschaft in Brasilien nicht zu einem Bedeutungsverlust der Religion. Im Gegenteil, im Verlauf der letzten 150 Jahre bildeten sich vor allem in den urbanisierten Regionen zahlreiche neue religiöse Gruppen und Erneuerungsbewegungen: In der zweiten Hälfte des 19. Jahr-hunderts brachten europäische Immigranten und nordamerikanische Missionare den Protestantismus nach Brasilien. Im selben Zeitraum entstanden auf der Grundlage der Lehren des französischen Spiritisten Alain Kardec die spiritistischen Gemeinschaften (Comunidades Espíritas), die vor allem im höheren Bildungsmilieu auf Anklang stießen. Sowohl die protestantischen Denominationen als auch die spiritistischen Gemeinschaften erlangten nur einen relativ geringen Verbreitungsgrad; beide haben aber bis heute einen festen Platz im religiösen Feld Brasiliens und sind auch deshalb von Bedeutung, weil sie Wegbereiter für nachfolgende religiöse Bewegungen waren. Am Ende des 19. Jahrhunderts bildeten sich in verschiedenen ländlichen Regionen, die aufgrund ihrer geographisch-klimatischen Bedingungen vom Zerfall der Kolonialwirtschaft besonders hart betroffen waren, eine Reihe von sozialutopischen, millenaristisch-messianischen Bewegungen. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelten sich zwei weitere religiöse Strömungen, die durch spirituelle Heilungen und durch ein breites Angebot an praktischen Lebenshilfen vor allem bei Menschen aus ärmeren sozialen Schichten große Erfolge erzielten: zum einen der Pentecostalismus (die Pfingstkirchen), zum anderen Umbanda, eine Synthese aus afrobrasilianischen, spiritistischen und katholischen Elementen. In den letzten Jahrzehnten gingen auch aus der katholischen Kirche zwei einflussreiche Erneuerungsbewegungen hervor: die kirchlichen Basisgemeinden, die in der Zeit der Militärdiktaturen der 1970er und 1980er Jahre in ganz Lateinamerika eine wichtige religiöse und gesellschaftspolitische Kraft darstellten, und die charismatische Erneuerungsbewegung, die ähnliche religiöse Erfahrungen wie der Pentecostalismus vermittelt, jedoch eher die Mittelschicht anspricht. Neben diesen landesweiten religiösen Bewegungen gibt es in Brasilien zahlreiche kleinere religiöse Gemeinschaften, die Elemente aus verschiedenen spirituellen und esoterischen Traditionen aufgreifen und zu einer neuen Synthese zusammenfügen. Zwei von diesen Gruppen, die einen größeren Bekanntheitsgrad erreicht haben, sind Santo Daime und Valle do Amanhecer (Tal der Morgendämmerung). Im Santo Daime wird die schamanische Tradition der rituellen Verwendung halluzinogener Substanzen (Ayahuasca) zur Herbeiführung spiritueller Trancezustände in zeitgemäßer Form weitergeführt. Das Valle do Amanhecer ist wahrscheinlich von allen religiösen Gruppen in Brasilien diejenige, in der die synkretistische Vermischung von indianischen, afrikanischen, christlichen und orientalischen religiösen Traditionen ihren formvollendetsten Ausdruck gefunden hat.


Franz Höllinger ist Professor am Institut für Soziologie Graz.



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