E-Book, Deutsch, 128 Seiten
Hofbauer Kinder mit Fluchterfahrung in der Kita
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-451-82916-1
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Leitfaden für die pädagogische Praxis
E-Book, Deutsch, 128 Seiten
ISBN: 978-3-451-82916-1
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Immer mehr Menschen fliehen wegen Hunger, Krieg, Not und anderer katastrophaler Zustände aus ihren Heimatländern und suchen in Deutschland Schutz. Dieser Leitfaden bietet einen umfassenden Überblick über die Lebenssituation von Kindern aus Familien mit Fluchterfahrung. Dabei werden insbesondere die Aspekte behandelt, die für Kitas relevant sind: Fachlich fundierte Informationen zu den Themen Recht und Gesundheit ebenso wie konkrete Hinweise zur alltagsintegrierten Sprachförderung und Umsetzungsformen interkultureller Bildung im Kita-Alltag.
Weitere Infos & Material
2.
Auf der Flucht
In diesem Kapitel erfahren Sie welche Gründe Menschen zwingen können, aus ihrer Heimat zu fliehen welche Erfahrungen gerade Kinder auf der Flucht machen müssen wie sich das Familiengefüge durch die Flucht verändern kann wie pädagogische Fachkräfte das Verhalten von Familien mit Flucht-erfahrungen besser verstehen können Die Ursachen der Flucht sowie die Erfahrungen, die auf der Flucht gemacht werden, hinterlassen tiefe Spuren bei den Betroffenen. Grundsätzlich ist es jedoch schwer, Aussagen zur Flucht zu verallgemeinern: Je nach Herkunftsland, Fluchtgründen, finanziellen Möglichkeiten, aber auch durch reinen Zufall können sich Fluchterfahrungen deutlich voneinander unterscheiden. Während manche Flüchtlinge jahrelang auf dem Weg sind, kommen andere vergleichsweise schnell nach Deutschland. Völlig unproblematisch verläuft eine Flucht aber selten: Rein theoretisch könnte man sich im Herkunftsland ins Flugzeug setzen und in Deutschland aussteigen – und dort sofort Asyl beantragen. Doch praktisch benötigen die Betroffenen dafür in der Regel ein Visum, das für Menschen aus Krisenregionen nicht leicht zu erhalten ist. Daher bleibt meist nur die Möglichkeit, illegal Grenzen zu überschreiten. 2.1 Flucht und Flüchtlinge weltweit
Laut dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) gab es Ende 2014 weltweit 59,5 Millionen Flüchtlinge. Bis Ende 2021 erhöhte sich die Zahl auf 89,3 Millionen Flüchtlinge weltweit. 2022 kam es durch den Krieg in der Ukraine zudem zur größten Fluchtbewegung seit dem Zweiten Weltkrieg – die Anzahl der Flüchtlinge stieg dadurch bis Mitte 2022 auf über 100 Millionen. Kinder sind besonders stark von Flucht betroffen: 30 Prozent der Weltbevölkerung sind Kinder, unter den Flüchtlingen sind es 42 Prozent. Die meisten Flüchtlinge versuchen, in ihrem eigenen Sprach- und Kulturkreis zu bleiben: So flüchten 59 Prozent in andere Regionen im eigenen Land (sog. Binnenflüchtlinge) und rund 22 Prozent suchen Schutz in Nachbarländern Die Flucht nach Deutschland verläuft häufig in Etappen: Bei vielen Flüchtlingen, die aus anderen Kontinenten stammen, besteht nicht von Anfang an der Wunsch, nach Europa zu kommen. Weiten sich zum Beispiel bewaffnete Konflikte jedoch auf das zunächst gewählte Exilland aus, gibt es keine Bleibeperspektive, stellen sich die Lebensbedingungen als schwierig heraus oder sehen die Betroffenen dort keine Möglichkeit, sich ein neues Leben aufzubauen, so reisen sie häufig weiter. In Deutschland stellten von Januar bis Dezember 2021 genau 164.924 Personen einen Asylantrag – davon zu etwa 40 Prozent Frauen und Mädchen, knapp die Hälfte der Anträge stammt von Personen unter 18 Jahren. 2.2 Fluchtgründe
Menschen entschließen sich aus vielen Gründen zur Flucht. Manche leben in Ländern, in denen Krieg oder Bürgerkrieg herrscht, und sie Angst haben, getötet, zum Kriegsdienst gezwungen, vergewaltigt oder verschleppt zu werden. In manchen Regionen werden Mitglieder bestimmter ethnischer oder religiöser Gruppen verfolgt und getötet, vertrieben oder unterdrückt. Vergleichsweise wenige Flüchtlinge werden aufgrund politischer Meinungsäußerungen verfolgt und haben Angst vor Verhaftung und Folter. Familienangehörige fürchten, für Taten von Angehörigen in »Sippenhaft« genommen zu werden und fliehen deswegen. Auch umweltbedingte, soziale und wirtschaftliche Gründe spielen eine Rolle. Bei Frauen und Mädchen kommen als Fluchtgründe noch Angst vor häuslicher Gewalt, Zwangsverheiratung oder Genitalbeschneidung hinzu. Warum Menschen fliehen müssen Ein syrischer Mann erzählt kurz nach seiner Ankunft in Deutschland, dass seine Schwiegersöhne aus Angst vor dem Militärdienst in die Türkei geflohen waren, während er mit seiner Frau, seinen minderjährigen Kindern sowie den Töchtern und Enkelkindern weiter in Syrien lebte. In der Straße, in der die Familie wohnte, kam es zu einem Schusswechsel, in dem ein Mann starb. Aus Angst vor Heckenschützen wurde die Leiche über Tage liegengelassen. Als schließlich Hunde an der Leiche fraßen, löste das seinen endgültigen Entschluss aus, zu fliehen. Allen Flüchtlingen ist gemeinsam, dass sie das Gefühl haben, für ein besseres Leben ihre Heimat verlassen zu müssen. Kinder haben dabei in der Regel kein Mitspracherecht: Sie flüchten nicht selbstständig, sie werden geflüchtet. 2.3 Fluchtrouten nach Europa
Fluchtrouten verändern sich ständig. Wenn eine Strecke stark genutzt wird, werden dort in der Regel Grenzzäune gebaut und/oder die Grenzkontrollen verschärft. So weichen Schlepper und Flüchtlinge immer wieder auf andere, meist noch beschwerlichere und gefährlichere Routen aus. Dementsprechend verlagern sich konkrete Fluchtrouten immer wieder. Grundsätzlich gibt es aber zwei große „Routen“ nach Europa: Die Mittelmeer- und die Balkanroute. Im Jahr 2021 erreichten über die Mittelmeerroute 107.648 Personen Europa, 1.589 sind bei der Überfahrt gestorben oder werden vermisst, zudem kann von einer hohen weiterer Toter und Vermisster ausgegangen werden. Die Mittelmeerroute gilt damit als die tödlichste Fluchtroute der Welt. Eine Alternative stellt die Balkanroute dar: Da die Lage für Flüchtlinge in Griechenland katastrophal ist, ziehen viele Flüchtlinge weiter. Nachdem Serbien, Kroatien und Slowenien 2016 ihre Grenzen schlossen, führt die Route 2021 über Albanien, Montenegro und Bosnien nach Kroatien oder über die Adria nach Italien. Auch Rumänien ist inzwischen ein wichtiges Transit-Land geworden. 2.4 Erfahrungen auf der Flucht
Auf der Flucht zu sein bedeutet, meist illegal unterwegs zu sein und ständig Angst vor Verhaftung oder Abschiebung zu haben. Dieser Zustand beginnt nicht erst in Europa, sondern umfasst die Reise durch mehrere Länder und über verschiedene Grenzen. Eine große Ausnahme gilt für den Großteil der Flüchtlinge aus der Ukraine: Für sie als „Nachbarn“ stehen die Grenzen in die EU offen. Für Männer zwischen 18 und 60 Jahren besteht allerdings ein Ausreiseverbot aus der Ukraine (Stand: Juni 2022). Sollten sie aber illegal oder durch Ausnahmeregelungen den Grenzübertritt schaffen, so können sie sich innerhalb der EU frei bewegen. Auf der Flucht sind Flüchtlinge häufig auf die Hilfe von Schleppern angewiesen, die Wissen über die Grenze und ihre Tücken und/oder Verbindungen zu korrupten Grenzbeamten haben und die Menschen bis zum Grenzübertritt in Verstecken unterbringen. Dabei können Flüchtlinge sich nie sicher sein, dass Schlepper sie nicht ausrauben, irgendwo zurücklassen und auch wirklich ins vereinbarte Land bringen. Frauen bekommen teilweise Rabatt von Schleusern, wenn sie diesen dafür sexuell gefällig sind. Auch Kinder sind – wie Frauen – besonders durch gewaltsame und sexuelle Übergriffe gefährdet. Flucht beinhaltet meist viele Wartesituationen. Warten, dass eine Transportmöglichkeit zur Verfügung steht, die Grenze relativ sicher passiert werden kann, das Wetter mitspielt … In diesen Wartezeiten oft schon in Ländern, in denen sich die Flüchtlinge illegal aufhalten, gilt es, möglichst unauffällig zu bleiben, um nicht wieder abgeschoben zu werden. Häufig warten die Flüchtlinge dann in Verstecken auf engstem Raum und unter schlechten hygienischen Bedingungen. Wartezeiten entstehen auch dann, wenn erst das Geld für die Schlepper verdient werden muss. Dabei handelt es sich in der Regel um unangenehme Arbeiten unter schlechten Bedingungen, da die Betroffenen als Illegale keine Wahlmöglichkeiten haben und sich kaum gegen Ungerechtigkeiten wehren können. Viele Flüchtlinge brauchen mehrere Versuche, bis sie eine Grenze überquert haben, oder werden wieder aufgegriffen und zurückgeschickt, um abermals die Flucht zu wagen. Dabei kommt es auch immer wieder dazu, dass Familien getrennt werden. Familien werden auf der Flucht getrennt Eine Familie will nach Schweden fliehen. Auf der Route werden die Mutter mit dem jüngsten Sohn in einem, die beiden älteren Söhne in einem anderen Auto transportiert. Der Vater befindet sich noch in Syrien. Während das Auto mit den älteren Söhnen unbehelligt Schweden erreicht, werden die Mutter und der jüngste Sohn an der deutschen Grenze aufgegriffen. Flucht bedeutet meist auch, nur das Allernötigste mitnehmen zu können. Gepäck ist Ballast, der einen in bewohnten Gegenden als Fremden kennzeichnet, bei langen Märschen durch sein Gewicht belastet und beim Transport auf Booten oder in Lastwägen Platz wegnimmt. Zudem besteht immer die Gefahr, beraubt zu werden. Das bedeutet auch, dass meist nur wenig Proviant mitgenommen werden kann und streng eingeteilt werden muss, sodass Flüchtlinge immer wieder unter Wasser- und Nahrungsmittelknappheit leiden. Kinder erleben ihre Eltern auf der Flucht häufig als ohnmächtig und abhängig. Väter und Mütter können ihre Elternrolle nur noch bedingt erfüllen. Sie sind häufig selbst in einer Position, in der sie sich nicht als selbstwirksam erleben können. Das wiederum wirkt sich auf ihr Verhalten den Kindern gegenüber aus. So wird das Familiengefüge verändert. Kinder können ihre Eltern nur noch bedingt als diejenigen wahrnehmen, die sie vor Gefahren schützen können, und es kommt immer wieder zur Verantwortungsübernahme der Kinder gegenüber den Eltern. 2.5 Folgen für die Kita
Fragen nach der Flucht Häufig wünschen sich pädagogische Fachkräfte, schon im...