E-Book, Deutsch, 208 Seiten
Hollstein Das Gären im Volksbauch
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-03810-483-4
Verlag: NZZ Libro
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Warum die Rechte immer stärker wird
E-Book, Deutsch, 208 Seiten
ISBN: 978-3-03810-483-4
Verlag: NZZ Libro
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Welt ist in Aufruhr. Immer häufiger bricht der Ausnahmezustand in Form von Klimakatastrophen, Anschlägen, Amokläufen oder Wirtschaftskrisen in den Alltag ein. Diese Erfahrung droht inzwischen zur Normalität zu werden. Als Folge empfinden die Menschen zunehmend Unsicherheit und Angst, aber auch Wut und Frustration darüber, dass sich nichts ändert. Den gewachsenen Protest versucht man, unter dem Begriff des Populismus zusammenzufassen. Damit setzt sich das vorliegende Buch kritisch auseinander. Der Autor hat viele Gespräche und Interviews geführt, populäre Zeitungsartikel und Social-Media-Posts analysiert, um zu verstehen, was im Empfinden der Menschen gärt und sich politisch ankündigt.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Politikwissenschaft Allgemein Politische Globalisierung
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Politikwissenschaft Allgemein Current Affairs
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Politikwissenschaft Allgemein Politik: Sachbuch, Politikerveröffentlichungen
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Einleitung: Keine angenehmen Zeiten. Zur Diagnose der Gegenwart Wo stehen wir? Das ist in unseren Tagen nicht einfach zu definieren. Schon 1985 hatte Jürgen Habermas von der «neuen Unübersichtlichkeit» geschrieben. 2017 konstatiert der Münchner Soziologe Ulrich Beck in seinem nachgelassenen Werk Metamorphose der Welt unser generelles Unverständnis gegenüber der radikal verwandelten Wirklichkeit. Die traditionellen Begriffe reichten nicht mehr aus, um die soziale Welt zu verstehen. Schaut man sich in der sozialwissenschaftlichen Literatur der Gegenwart um, gibt es dazu kaum Widerspruch. Auf nichts scheint mehr Verlass. Der Verlust alter Selbstverständlichkeiten ist ubiquitär. Uns fehlt die Orientierung, ein Kategoriensystem dazu, die Hermeneutik. Das ist auch die Diagnose von Zygmunt Bauman, der vor Kurzem – 92-jährig – in seiner Wahlheimat Leeds verstorben ist: «Wir haben heute das Gefühl, dass alle Hilfsmittel und Kunstgriffe zur Bekämpfung von Krisen und Gefahren, die wir bis vor kurzer Zeit noch für wirksam oder gar narrensicher hielten, ihr Verfallsdatum erreicht beziehungsweise überschritten haben. Und uns schwebt kaum noch etwas oder eigentlich gar nichts mehr vor, das an ihre Stelle treten könnte. Die Hoffnung, den Lauf der Geschichte unter die Vormundschaft des Menschen stellen zu können, ist mitsamt den sich aus ihr ergebenden Bestrebungen so gut wie verschwunden.» Also eine allgemeine geistige Müdigkeit, keine Fantasie mehr, sich Lösungen vorzustellen, eine Gesellschaft ohne Utopie, geistige Lethargie, stattdessen fleissige Ablenkung, um sich den entscheidenden Fragen nicht stellen zu müssen. Vergangenheit ist wieder in; Nostalgie statt Utopie. Fünfhundert Jahre nachdem «Thomas Morus dem jahrtausendealten Menschheitstraum von der Rückkehr ins Paradies […] den Namen ‹Utopia› gegeben hat», sei von visionärem Denken im positiven Sinn wenig übrig geblieben. Vielmehr dominiere das Rückwärtsgewandte, das Bauman im Begriff der «Retrotopia» fasst. Damit meint er «Visionen, die sich anders als ihre Vorläufer nicht mehr aus einer noch ausstehenden und deshalb inexistenten Zukunft speisen, sondern aus der verlorenen/geraubten/verwaisten, jedenfalls untoten Vergangenheit.» Das hat Folgen: Wenn utopisches Denken fehlt, verlieren wir die Richtschnur, an der wir Wirklichkeit messen können, ihre Qualität oder ihre Nichtigkeit. «Offensichtlich – und daher zum erheblichen Schaden unseres Selbstvertrauens, Selbstbewusstseins und Stolzes – sind wir nicht diejenigen, die die Gegenwart bestimmen, aus der die Zukunft hervorgehen wird – und haben deshalb erst recht wenig bis gar keine Hoffnung, diese Zukunft in irgendeiner Weise kontrollieren zu können. […] Welche Erleichterung ist es da, aus dieser undurchschaubaren, unergründlichen, unfreundlichen, entfremdeten und entfremdenden Welt voller Falltüren und Hinterhalte in die vertraute, gemütliche und heimatliche […] Welt von Gestern zurückzukehren.» Die gesellschaftlichen Gründe für den Verlust des Utopischen sind – schematisch benannt: Der Staat hat in der globalisierten Welt seine Prägungs- und Sanktionskraft verloren. So lässt auch die verpflichtende Kraft von Bindungen und Normen nach. Das fördert eine Zunahme der Gewalt und einen roheren Umgang im Zwischenmenschlichen. Einfluss basiert zunehmend auf Gruppenidentität; statt kollektiver Interessen herrschen individualisierte. Die Kleinlobbys agieren aber so, als repräsentierten sie die Gesamtgesellschaft. Obwohl sie die Meinungsfreiheit Andersdenkender einschränken, berufen sie sich perverserweise für ihre Egoismen auf die Menschenrechte. Das ist auch eine Kritik an der Identitätspolitik der vergangenen Jahre, wie sie heute zeitgenössische Philosophen formulieren – etwa der New Yorker Mark Lilla. Bauman erklärt: «Debatten in Glaubensfragen zielen nicht auf Konsens, sondern darauf, die Gegenseite als unheilbar taub und blind für die ‹Tatsachen› und von bösartigen Absichten getrieben hinzustellen. Die Zuschreibung übler Absichten macht den Beweis der eigenen Aufrichtigkeit überflüssig.» Diese autistische Haltung führt ins Verderben. Der Ausweg – durchaus pathetisch formuliert, und das mit viel Recht: «Entweder wir reichen einander die Hände oder wir schaufeln einander Gräber.» Der grosse deutsche Philosoph Ernst Bloch hat sein dreibändiges Hauptwerk einst mit dem Titel versehen: Das Prinzip Hoffnung. Was inzwischen zu einem geflügelten und etwas abgegriffenen Wort geworden ist, meint Fundamentales: Hoffnung strukturiert unser Leben und hält es aufrecht. Wer die Hoffnung verliert – so weiss die Suizidforschung –, bringt sich um. Hoffnung beantwortet die lebenswichtigen Fragen: Wer sind wir? Wo wollen wir hin? Das gilt in einem allgemeineren Sinn auch für die Gesellschaft als Ganzes. Ohne Programmatik und ohne Zukunftsentwurf sind Gesellschaften zur Stagnation verurteilt. Diese soziale Gesetzlichkeit hat der amerikanische Soziologe Lewis Coser einst so formuliert: «Eine Gruppe und ein System, die nicht mehr herausgefordert werden, sind nicht mehr zur schöpferischen Reaktion fähig. Sie können weiterexistieren, gekettet an das ewige Gestern der Präzedenzien und Traditionen, aber sie können sich nicht mehr erneuern.» Das dürfte heute wahrer sein denn je. Die Politik des Aussitzens und penetranten Abwartens ist keine deutsche Sonderheit, auch wenn sie in der Bundesrepublik besonders ausgeprägt erscheint. Weltweit hat Politik keine Antworten auf die brennenden Fragen der Epoche und keine Visionen, wie eine Zukunft besser und verlässlich ausschauen könnte. Sehnsüchte und Hoffnungen werden nicht mehr «bedient», wie es heute in der Politikersprache heisst. Das spüren die Menschen und verargen es auch deutlich den «Staatenlenkern». Beklagt wird das vollständige Fehlen von Zukunftsentwürfen, «die Leere der politischen Auseinandersetzung», der Fokus auf ökonomische Pragmatik zulasten von «Ethik und Werten», die Abgehobenheit des parlamentarischen Diskurses mit dem tristen Ergebnis, dass jene Fragen, «die den Menschen Sorge bereiten», gar nicht erst zur Sprache kommen. Selbst die Sozialwissenschaften, deren vornehme Aufgabe es einst war, neue Gesellschaftsentwürfe zu entwickeln, wirken steril angesichts der neuen Herausforderungen. Jede moderne Gesellschaft ist sozialem Wandel unterworfen; aber dieser Wandel hat sich bisher auf einem gesellschaftlichen Boden von Gewissheiten und Traditionen vollzogen. In unserer Gegenwart hingegen ändert sich das menschliche In-der-Welt-Sein grundsätzlich, denn nun wird stetig zur Wirklichkeit, was eben noch als undenkbar galt. Das macht für Beck «Metamorphose» aus. Sein Jenaer Kollege Hartmut Rosa will – nicht gerade bescheiden – eine ganz neue «Soziologie der Weltbeziehung» formulieren, um die Krise zu bewältigen. Dabei hat er den Anspruch «einer umfassenden Rekonstruktion der Moderne» als gesellschaftstheoretischen Grossentwurf. Der Schlüsselbegriff bei alledem ist: Resonanz. «Resonanzen sind Ergebnis und Ausdruck einer spezifischen Form der Beziehung zwischen zwei Entitäten, insbesondere zwischen einem erfahrenden Subjekt und begegnenden Weltausschnitten.» Dabei greift Rosa auf seine einstige Kritik der «Beschleunigung» zurück. Exakt diese Dynamik erschwere unsere aktuelle Weltbeziehung. Die moderne Gesellschaft muss sich nach der Diagnose von Rosa «immerzu ausdehnen, […] wachsen und innovieren, Produktion und Konsumtion steigern […], um ihren formativen Status quo zu erhalten». Das führe für die Menschen nur konsequent «zu einer problematischen, ja gestörten oder pathologischen Weltbeziehung». Rosa macht das fest «an den grossen Krisentendenzen der Gegenwart», als da sind: ökologische Krise, Demokratiekrise und Psychokrise. Diese Triade untergrabe die menschlichen Möglichkeiten gelingender Resonanz und «führt zu einer kulturellen Selbstwahrnehmung, die durchaus Webers Konzeption eines ‹stahlharten Gehäuses› entspricht, das den Subjekten gleichgültig und oft genug feindlich gegenübersteht». Entfremdung werde dann zum Grundmodus der Weltbeziehung. Auch Andreas Reckwitz will eine Soziologie vorlegen, die den Anspruch hat, ganz neu zu sein: Die Gesellschaft der Singularitäten. Sein Buch erfreut sich des Lobes im gesamten deutschsprachigen Feuilleton, und dementsprechend hat sich der Titel auch jenseits der Fachwissenschaft zu einem Bestseller gemausert. Singularität ist für Reckwitz das «Besondere, das Einzigartige, also das, was als nicht austauschbar und nicht vergleichbar erscheint.» Jeder sei mittlerweile seine eigene Welt, seine «erfolgreiche Selbstverwirklichung». Oder – im einigermassen grässlichen Jargon von Reckwitz: Lebensverbindlich sei heute «die Norm der performativen Authentizität». Das nun will Reckwitz nicht nur als individuelles Verhaltensmuster sehen, sondern als soziale Gesetzmässigkeit. Seit vier Jahrzehnten transformiere sich die westliche Wirtschaft von «einer Ökonomie der standardisierten Massengüter zu einer Ökonomie der Singularitäten». Güter seien mit dem Label der Einzigartigkeit ausgerüstet. Ergo findet laut Reckwitz gegenwärtig «eine Neukonfiguration der Formen der Vergesellschaftung» statt: «Die soziale Logik der Singularitäten erlangt eine strukturbildende Kraft.» Da lässt sich fragen, wie weit Reckwitz noch zwischen Werbung und Realität zu unterscheiden vermag. Im Zeitalter der Globalisierung – so eigentlich der Tenor aktueller Gesellschaftskritik – sind Güter, Medieninhalte oder Verkehrsmittel immer uniformer geworden. Je globalisierter die Welt gerät, desto einheitlicher und monotoner wird sie. Beispiele sind der Massentourismus, die...