E-Book, Deutsch, 87 Seiten
Hubert / Bengel Der Umgang mit belastenden Lebensereignissen
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-8444-2999-2
Verlag: Hogrefe Publishing
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein Ratgeber zu Anpassungsstörungen
E-Book, Deutsch, 87 Seiten
Reihe: Ratgeber zur Reihe Fortschritte der Psychotherapie
ISBN: 978-3-8444-2999-2
Verlag: Hogrefe Publishing
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Eine Anpassungsstörung ist eine Reaktion auf ein belastendes Lebensereignis oder eine Lebensveränderung, die sich in Form von körperlichen Beschwerden wie Schlafstörungen, in einer ausgeprägten gedanklichen Beschäftigung mit dem Erlebten (z.B. Grübeln) oder auch in Verhaltensveränderungen, wie z.B. dem Rückzug aus zwischenmenschlichen Kontakten, äußern kann. Auslösende Stressoren können beispielsweise familiäre oder berufliche Konflikte, die Diagnose einer körperlichen Erkrankung, die Geburt eines Kindes sowie Krankheits- oder Todesfälle in der Familie oder auch ein Umzug sein.
Der Ratgeber beschreibt zunächst die Merkmale von Anpassungsstörungen und informiert darüber, wie sie verlaufen und wie häufig sie auftreten. Darauf aufbauend wird erläutert, welche persönlichen Ressourcen und Risikofaktoren bei der Entstehung von Anpassungsstörungen eine Rolle spielen können. Schließlich werden Unterstützungsmöglichkeiten durch den behandelnden Hausarzt und Möglichkeiten der ambulanten Psychotherapie vorgestellt. Besonderes Augenmerk wird auf Möglichkeiten gelegt, sich selbst zu helfen. Dazu werden verschiedene Anregungen gegeben, wie Betroffene selbst Einfluss auf den eigenen Anpassungsprozess nehmen können, um so letztlich ihren Leidensdruck zu verringern.
Zielgruppe
Betroffene, Angehörige, Hausärzte, Psychotherapeuten, Psychiater, Psychologische Berater.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Sozialwissenschaften Psychologie Psychologie / Allgemeines & Theorie Psychologie: Sachbuch, Ratgeber
- Medizin | Veterinärmedizin Medizin | Public Health | Pharmazie | Zahnmedizin Medizin, Gesundheitswesen Medizin, Gesundheit: Sachbuch, Ratgeber
- Medizin | Veterinärmedizin Medizin | Public Health | Pharmazie | Zahnmedizin Medizinische Fachgebiete Psychiatrie, Sozialpsychiatrie, Suchttherapie
- Sozialwissenschaften Psychologie Psychotherapie / Klinische Psychologie
Weitere Infos & Material
|24|2 Wie entsteht eine Anpassungsstörung?
Potenziell belastende Lebensereignisse oder Lebensveränderungen können bei Menschen ganz unterschiedliche Auswirkungen haben – die einen entwickeln eine Depression, andere reagieren mit den Symptomen einer Anpassungsstörung, bei wieder anderen führen die belastenden Ereignisse zu psychosozialen Konsequenzen, die man nicht einer Erkrankung zuordnen würde. Hierunter fallen beispielsweise Probleme bei der Neuorientierung des Lebensentwurfes oder Probleme innerhalb der Paarbeziehung. Zudem gibt es Menschen, die durch die Auseinandersetzung mit einem kritischen Lebensereignis oder einer Lebensveränderung einen persönlichen Reifungsprozess erfahren. Ob die betroffene Person eine Anpassungsstörung entwickelt oder nicht, kann sich an verschiedenen Stellen im Prozess der Auseinandersetzung mit dem Stressor entscheiden. Welche Auswirkungen potenziell belastende Lebensereignisse oder Lebensveränderungen (kurz: Stressoren) auf eine Person haben, hängt von den Ressourcen der Person (d.?h. ihren Erfahrungen, ihren Fähigkeiten, ihrer sozialen Einbindung), Anforderungen und Merkmalen des kritischen Lebensereignisses oder der Lebensveränderung und dem Zusammenspiel dieser Faktoren im Verlauf ab. Abbildung 2 fasst mögliche Auswirkungen zusammen. Menschen sind unterschiedlich: Diese Unterschiede liegen zum Teil in der Persönlichkeit begründet (Persönlichkeitseigenschaften) und zum Teil haben |25|sie mit früheren Erfahrungen zu tun, die eine Person im Laufe ihres Lebens gesammelt hat, ihrer sogenannten persönlichen Lerngeschichte. Auch in einem weiteren, für den Umgang mit belastenden Lebensereignissen wichtigen Punkt, unterscheiden sich Menschen voneinander; nämlich im Ausmaß, in dem sie zum Zeitpunkt des kritischen Lebensereignisses in soziale Bezüge (z.?B. Freundeskreis, Familie) eingebunden sind und dem Ausmaß an Unterstützung von anderen Menschen, das für sie verfügbar ist, von dem sie wissen und welches sie für sich nutzen können. Dabei hat das Eingebundensein in ein soziales Netzwerk und die Verfügbarkeit von sozialer Unterstützung natürlich neben äußeren Faktoren auch mit individuellen Persönlichkeitseigenschaften und der persönlichen Lerngeschichte zu tun. Je nachdem, über welche Persönlichkeitseigenschaften, welche Lerngeschichte und welche Eingebundenheit in soziale Bezüge eine Person verfügt, wird ein belastendes Lebensereignis oder eine Lebensveränderung unterschiedliche Auswirkungen auf das Wohlbefinden dieser Person haben. Beispiele Herr S. und Herr F. Ein 60- und ein 62-jähriger Mitarbeiter im Vertrieb eines mittelständigen Unternehmens werden mit geringen Abschlägen bei ihren Bezügen in den vorzeitigen Ruhestand versetzt. Der 60-jährige Herr S. (verwitwet, 2 Kinder, 3 Enkelkinder) greift nach einer kurzen Irritation über die Entscheidung seines Arbeitgebers den Wunsch seiner Tochter auf, vormittags die Betreuung seiner Enkelkinder zu übernehmen. Nach einer durchaus holprigen Eingewöhnungsphase von etwa 4 Wochen beginnt er, die unmittelbaren Erfolgserlebnisse seiner neuen Tätigkeit zu schätzen. Er besucht zudem einen Kochkurs, entdeckt unerwartete Fähigkeiten und knüpft neue Kontakte. Letztlich ist er fast dankbar für das unverhoffte Geschenk, sich in neuen und ihm bislang unbekannten Rollen erleben zu dürfen. Bei ihm vollzieht sich im Laufe der Zeit ein regelrechter Wandel bezüglich seiner Werte – zu Fleiß und Pflichterfüllung kommen Werte wie das Leben im Augenblick und emotionale Verbundenheit hinzu. Herr F., 62 Jahre alt (kinderlos, verheiratet), ein sehr gewissenhafter Mensch, versteht die Welt nicht mehr: Wie konnte seine Firma auf seine |26|Expertise, sein überdurchschnittliches Engagement so leichtfertig verzichten? Die Verletzung sitzt tief und das Grübeln darüber raubt ihm den Schlaf. Nur mit Mühe gelingt es ihm, morgens aufzustehen. Seine Umgebung erlebt ihn zunehmend als missmutig. Seine Ehefrau, die bislang überwiegend alleine für Haushaltstätigkeiten zuständig war, erlebt sein „Einmischen“ als zunehmend unangenehm, weshalb partnerschaftliche Spannungen zunehmen und das Paar den Alltag eher unabhängig voneinander verbringt, trotz der nun mehr vorhandenen Zeit. Herr F. leidet zunehmend unter Schlafstörungen, Antriebslosigkeit und gedrückter Stimmung. Ihm fehlt eine positive Perspektive, wenn er an seine weiteren Lebensjahre denkt. Im geschilderten Beispiel sind beide Männer von der gleichen Lebensveränderung betroffen: Beim einen mündet der Anpassungsprozess in persönliche Reifung, beim anderen kommt es zu den Symptomen einer Anpassungsstörung (Untertyp: längere depressive Reaktion). Merke Anpassungsstörungen lassen sich also als ein mögliches Ergebnis eines Wechselspiels zwischen Merkmalen des Stressors einerseits und Merkmalen der Person (Ressourcen und Risikofaktoren) andererseits verstehen. Mit Wechselspiel ist gemeint, dass persönliche Ressourcen und Risikofaktoren nicht nur vor dem Auftreten des Stressors eine Rolle spielen, sondern auch während dessen Einwirkung und auch danach auf vielfältige Weise den Umgang der Person mit dem Stressor beeinflussen. 2.1 Erklärungsmodell für Anpassungsstörungen
Wie kann man sich die Entstehung einer Anpassungsstörung erklären? Eine betroffene Person nimmt ein Lebensereignis oder eine Lebensveränderung (potenzieller Stressor) wahr. Diese Wahrnehmung setzt eine Bewertung in Gang (vgl. Abb. 3), der je nach Ergebnis emotionale Reaktionen (z.?B. Angst, Trauer, Ärger) und körperliche Reaktionen (z.?B. Blutdrucksteigerungen, hormonelle Veränderungen) folgen. Diese emotionalen und körperlichen Reaktionen lösen einen Bewältigungsprozess aus: Dieser Bewältigungsprozess um|27|fasst die gedankliche Verarbeitung (z.?B. „Ich werde nie mehr glücklich sein.“ oder „Ich weiß zwar noch nicht wie, aber irgendwann wird’s mir wieder besser gehen.“) sowie Bewältigungsverhalten (z.?B. übermäßiger Alkoholkonsum oder Austausch mit anderen Betroffenen). Dieser Prozess kann, wie das obige Beispiel zeigt, für eine langfristige Anpassung an das Lebensereignis oder die Lebensveränderung hilfreich oder ungünstig sein. Merke Emotionale und körperliche Reaktionen und Bewältigungsprozesse stellen gemeinsam die Anpassungsreaktion dar. Anpassungsstörungen können als eine spezifische Form von Anpassungsreaktionen verstanden werden. Abbildung 3 fasst den beschriebenen Prozess zusammen. Bewertungsprozess in zwei Schritten Sieht sich eine Person mit einem Ereignis, dem potenziellen Stressor, konfrontiert, so wird ein Bewertungsprozess in zwei Schritten angestoßen. Diesem Bewertungsprozess kommt eine zentrale Rolle im Prozess der Auseinander|28|setzung mit einem kritischen Lebensereignis oder einer Lebensveränderung zu (vgl. Abb. 4). |29|In einer ersten Bewertung wird abgeschätzt, welche Bedeutung das Ereignis/der potenzielle Stressor für das eigene Wohlbefinden hat und ob Maßnahmen zur Erhaltung des Wohlbefindens erforderlich sind. Bei einer Bewertung des Ereignisses als für sich selbst irrelevant oder angenehm, sind keinerlei Maßnahmen zur Erhaltung des Wohlbefindens erforderlich. Der Bewertungsprozess ist hiermit abgeschlossen. Wird das Ereignis jedoch als belastend bewertet, weil es für die betroffene Person Schädigung oder Verlust, Bedrohung oder auch eine Herausforderung bedeutet, ergibt sich der Bedarf einer Anpassung an dieses Ereignis (im Folgenden Stressor genannt). Eine zweite Bewertung schließt sich an: Welche Möglichkeiten der Bewältigung des Stressors stehen mir zur Verfügung? Wie...