Geleitwort zur deutschen Ausgabe
von Ottmar Edenhofer
Die Geschichte des Klimawandels kann man auf verschiedene Weise erzählen. Eine davon ist die Erzählung von der Titanic: Die ganze Menschheit fährt auf diesem Luxusliner auf einen Eisberg zu, eine Katastrophe gewaltigen Ausmaßes droht. Die champagnertrinkenden Mitglieder der 1. Klasse – mit schnellem Zugang zu den wenigen Rettungsbooten – haben vielleicht Chancen, die Katastrophe zu überstehen; doch die ärmeren Passagiere der unteren Decks sind wahrscheinlich verloren, wenn es zu einer Kollision kommt. Der Erzähler wird die Fragen beantworten müssen, ob die Menschheit den Kurs noch ändern kann und wer notfalls ein Anrecht auf einen lebenssichernden Platz im Rettungsboot hat.
Viele Klimawissenschaftler und Vertreter der Zivilgesellschaft haben in der Vergangenheit die Metapher vom fatalen Zusteuern auf einen Eisberg bemüht, den die Politik nicht wahrhaben will. Sie sind der Überzeugung, dass es zu apokalyptischen Katastrophen kommen wird, wenn wir den Klimawandel nicht bremsen und eine Überschreitung der 2°C-Schwelle globaler Erwärmung nicht verhindern. Der gegenwärtige Kurs der
Titanic dient hierbei als Metapher für das alte, auf fossilen Energieträgern wie Kohle, Öl und Gas beruhende, klimaschädliche Wohlstandsmodell. Der Aufprall auf den Eisberg scheint unvermeidlich. Wenn nicht bald umgesteuert wird, so die Metapher, dann könnte man durch einen geschickt gesteuerten Aufprall – wie bei der Anpassungsstrategie an den Klimawandel – höchstens noch einige Menschenleben mehr retten; aber eine Katastrophe bleibt unvermeidlich. Die einzige Möglichkeit, einer solchen Katastrophe auszuweichen, ist dieser Erzählung zufolge eine massive Reduktion der klimaschädlichen Treibhausgasemissionen, was ein radikales Umsteuern nötig macht. Wenn es zum Aufprall kommt, also der Klimawandel in großen Teilen der Welt zuschlägt, dann kann man lediglich die knappen Plätze auf den Rettungsbooten verteilen, die dann einigen eine Zuflucht in jene Teile der Welt ermöglichen, in denen ein einigermaßen auskömmliches Leben noch möglich ist. Garrett Hardins viel zitierte, düstere Erzählung der ›Tragik der Allmende‹ prophezeit, dass die Reichen die Plätze in den Booten fast ausschließlich für sich beanspruchen werden. Die wenigen Boote bieten überdies nicht Platz für alle; wer hier moralische Bedenken erhebe, könne seinen sicheren Sitz im Boot ja gerne aufgeben.
3 Diese düstere Parabel vergegenwärtigt, dass das scheinbar ›goldene Zeitalter der Industrialisierung‹ vorüber ist – jenes Zeitalter also, in dem die Menschheit noch von der Sparbüchse der Natur lebte
4 und fossile Energieträger bedenkenlos nutzen konnte, um Wohlstand zu mehren und der Armutsfalle zu entrinnen. Diese Bedenkenlosigkeit ist verflogen und unsere Gegenwart scheint bestimmt von Knappheit und Eigennutz – mit den tragischen Konsequenzen, wie sie Hardin beschreibt.
Das vorliegende Buch von Mike Hulme will uns nun darauf aufmerksam machen, dass niemand genau weiß, ob wir überhaupt auf dieser Titanic sind, was tatsächlich passieren wird und was die besten Handlungsoptionen sind. Es gibt keine gemeinsame Wahrnehmung der sozialen Situation. Viele teilen das eingangs geschilderte Narrativ von der drohenden großen Klimaapokalypse und der Notwendigkeit einer fundamentalen gesellschaftlichen Umsteuerung nicht, manche bezweifeln auch die von Hardin prophezeite Tragödie bezüglich der Rettungsboote. Manche orakeln gar, es könnte einen gesellschaftlichen Fortschritt bedeuten, wenn die Menschheit durch den ungebremsten Klimawandel einem weiteren Selektionsdruck ausgesetzt wird. Wieder andere meinen, ein Aufprall auf den Eisberg habe gar keine allzu schlimmen Konsequenzen, wenn man nur kluge Anpassungsstrategien wähle. Schließlich proklamieren manche Anhänger von ›Green Growth‹, eine leichte Kurskorrektur der Titanic könnte den Untergang des bisherigen Wohlstandsmodells verhindern.
Mit anderen Worten: Wir können den jahrzehntelangen öffentlichen Streit um den Klimawandel nur verstehen, wenn wir begreifen, dass wir dabei über die großen Narrative der Menschheit streiten. Es komme, so Hulme, gar nicht darauf an, dass wir über dieses oder jenes wissenschaftliche Faktum streiten, sondern auf die Erzählungen vom Anfang, Sinn und Ende der Menschheitsgeschichte. Er geht davon aus, dass Menschen ihre individuellen und kollektiven Identitäten durch große Erzählungen strukturieren. Dieser Ausgangspunkt, so plausibel er auch sein mag, ist dabei alles andere als selbstverständlich: So verspricht der im Westen vorherrschende Liberalismus gerade, dass er den Ausgleich von Interessen, den Tausch von Waren und Gütern und die Errichtung von Machtbalancen unabhängig von kollektiven Identitäten erfolgreich strukturieren kann. Hulme zeigt dagegen, dass auch der Liberalismus nur eine weitere große ›Erzählung‹ ist, an deren Ende nicht das Paradies, nicht die Überwindung der Knechtschaft, sondern der Konflikt um den Ausgleich von Interessen steht.
Hulme öffnet uns mit diesem Buch die Augen für die Vielfalt und die weitreichenden Konsequenzen solcher Narrative – das heißt der säkularen und religiösen Glaubenssysteme – für die Debatten über die angemessene Deutung des Klimaproblems. Damit legt Hulme zugleich den Finger in die Wunde traditioneller wissenschaftlicher Politikberatung, die – wie die Wissenschaften lange Zeit selbst – stark vom positivistischen Erbe geprägt ist. Angeblich eindeutige Fakten und Wahrheiten sowie daraus abgeleitete alternativlose Politikempfehlungen wurden nicht selten in wissenschaftlichen Gutachten zum Klimawandel präsentiert. Hulme weist darauf hin, dass eine solche wissenschaftliche Politikberatung irreführend ist. Sie missachtet, dass Fakten und Werturteile nicht strikt getrennt werden können, dass also politische Empfehlungen und bereits die zugrunde liegende Problemanalyse notwendig mit Werturteilen behaftet sind und bestimmte Narrative implizieren. Unsere Wahrnehmung von Risiken, die Sicht auf nachhaltige Entwicklung und die Art und Weise, wie wir unser Verhältnis zum Staat bestimmen, beeinflusst unsere jeweilige Haltung zum Klimawandel. Außerdem deutet Hulme zu Recht darauf hin, dass es noch weitere Eisberge neben dem Klimawandel gibt, die ebenfalls umschifft werden müssen, etwa die Armut.
Hulme dekonstruiert unsere Meinungsverschiedenheit und lädt zur Konstruktion von Erzählungen und Narrativen ein. Vor allem für Naturwissenschaftler wird in diesem Buch das Tor zu einer Welt aufgestoßen, die ihnen durch ihre Ausbildung in einer positivistischen Kultur bislang fremd geblieben sein mag. Es geht darum, ein differenziertes Verständnis für die Findung und Austragung von gesellschaftlichem Konsens und Dissens zu eröffnen, das für alle großen sozialen Probleme von Bedeutung ist.
Das Buch ist eine Attacke auf ein technokratisches Politik- und Wissenschaftsverständnis, in dem die Wissenschaft festlegt, was die Politik zu tun hat. Ja, das Buch will das Establishment der Klimawissenschaft und Klimapolitik herausfordern. Der Weltklimarat als Inbegriff dieses Establishments will, so könnte man Mike Hulme paraphrasieren, ein Problem lösen, das man gar nicht lösen kann, weil eine gemeinsame Wahrnehmung fehle. Mike Hulme glaubt nicht daran, dass sich das Klimaproblem ultimativ lösen lässt, sondern dass uns der Klimawandel Möglichkeiten zuspielt, die wir sonst nicht hätten: Der Klimawandel ermöglicht es, die Vertreibung aus dem Paradies zu beklagen, die Apokalypse vorherzusagen, vor dem Turmbau von Babel zu warnen und schließlich ein Jubeljahr auszurufen und zu feiern, in dem wir den Klimawandel nutzen, um für mehr Gerechtigkeit zu kämpfen. Er greift hier auf die großen biblischen Erzählungen zurück, die er nebeneinander gleichermaßen gelten lässt und nicht zu einer sinnhaften Gesamtgeschichte komponiert, wie dies bei den biblischen Autoren (vor allem bei den Verfassern des Neuen Testaments) zu finden ist. Hulme sagt nicht, welches nun die ›wahre‹ Geschichte ist.
Manche Leserin und mancher Leser mögen am Ende des Buches deshalb eine Erleichterung empfinden: Mike Hulme erspart uns die metaphysische Anstrengung der Wahrheitsfrage. Verständnis stellt sich ein, warum wir über den Klimawandel streiten und warum größere naturwissenschaftliche Sicherheit diesem Streit kein Ende setzen wird. Wer der seit dem Club of Rome immer wieder propagierten Apokalypsen überdrüssig ist, wird gelassener auf die lokalen und globalen Krisen reagieren, denn auch die sind ja nicht neu unter der Sonne, es hat sie immer gegeben und es wird sie immer geben – die Apokalypse ist eben auch nur eine Erzählung, ebenso wie die großen Erzählungen, die dem Menschen einen Sinnhorizont anbieten.
Eine solche Reaktion auf Hulmes Buch wäre jedoch fahrlässig und Mike Hulme hat sich gegen diese Interpretation zur Wehr gesetzt. Eine Dekonstruktion der Debatte mag ein guter Ausgangspunkt sein, um aufgeklärter über Klimapolitik zu streiten. Aber man kann hier nicht stehen bleiben. Die Frage, was denn nun die ›wahre‹ Geschichte des Klimaproblems ist, bleibt bestehen – und: Man kann mit vernünftigen Gründen darüber streiten. Trotz all der konkurrierenden Metaphern, Parabeln und Narrative scheint es klar, dass zumindest das Risiko eines gefährlichen Klimawandels besteht, dass es also mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit einen Eisberg gibt, auf den wir zusteuern. Das Wissen um den gegenwärtigen Klimawandel ist nicht absolut sicher; der Nebel der Unsicherheiten und Deutungsmöglichkeiten verhindert eine gemeinsame Sicht auf die Eisberge. Würde die Geschichte vom Untergang der...