Buch, Deutsch, Band 7, 359 Seiten, Format (B × H): 140 mm x 214 mm, Gewicht: 446 g
Reihe: Staatlichkeit im Wandel
Die Internationalisierung politischer Verantwortung
Buch, Deutsch, Band 7, 359 Seiten, Format (B × H): 140 mm x 214 mm, Gewicht: 446 g
Reihe: Staatlichkeit im Wandel
ISBN: 978-3-593-38742-0
Verlag: Campus
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Einladung: Galerie des Staatsschiffs
Vorwort
1 Die Zerfaserung des Nationalstaates: Ein analytischer Rahmen
Achim Hurrelmann, Stephan Leibfried, Kerstin Martens und Peter Mayer
2 Europa, der Nationalstaat und die Steuerpolitik
Susanne Uhl
3 Die Internationalisierung von Sicherheitspolitik: UN, EU und der moderne Staat
Sebastian Mayer und Silke Weinlich
4 Globalisierung des Rechts, Öffnung des Staates: Der Staat als Koordinator pluraler Teilrechtsordnungen
Martin Herberg
5 Transformation des Handelsrechts? Neue Formen von Rechtssicherheit in globalen Austauschprozessen
Gralf-Peter Calliess, Thomas Dietz, Wioletta Konradi, Holger Nieswandt, Moritz Renner und Fabian Sosa
6 Legitimität jenseits des Nationalstaates: Vom exekutiven zum partizipativen Multilateralismus?
Jens Steffek
7 Namensräume, Datenschutz und elektronischer Handel: Die Suche nach Regeln für das Internet
Ralf Bendrath, Jeanette Hofmann, Volker Leib, Peter Mayer und Michael Zürn
8 Die Internationalisierung der Bildungspolitik: Konvergenz nationaler Pfade?
Kerstin Martens und Ansgar Weymann
9 Der Staat und die Internationalisierung von Normen der Rechnungslegung
Jörg R. Werner und Jochen Zimmermann
10 Die Transformation des Nationalstaates: Ergebnisse und Perspektiven
Achim Hurrelmann, Stephan Leibfried, Kerstin Martens und Peter Mayer
Abkürzungsverzeichnis
Tabellen und Illustrationen
Autorinnen und Autoren
Register
Bildnachweise
Viele globale und globalisierungsbedingte Probleme überfordern das einzelstaatliche Recht, und auch der Umbau des Völkerrechts zu einem funktionsfähigen Steuerungsinstrument erfolgt in vielen Bereichen nur schleppend. Gleichzeitig treten in den Zwischenräumen der institutionellen Ordnung zahlreiche neue Normgebungsagenturen in Erscheinung, die die bestehenden Regelungslücken mit eigenen Norm- und Ordnungsstrukturen ausfüllen und so an der Entstehung eines emergenten Weltrechts mitwirken (vgl. Günther 2001; Teubner 1997). Die Rechtsforschung wird durch die Normentstehungsprozesse im transnationalen Raum vor zahlreiche neue empirische und theoretische Probleme gestellt. In empirischer Hinsicht besteht die Schwierigkeit vor allem darin, die Normstrukturen, die meist nicht offen zu Tage liegen, überhaupt erst dingfest zu machen, während sich der Forscher in rechtstheoretischer Hinsicht zu einer Revision vieler gängiger Vorstellungen veranlasst sieht - vom Konzept des staatlichen Rechtsetzungsmonopols bis hin zu der klassischen Annahme einer Einheit des Rechts (vgl. Dalberg-Larsen 2000).
Jenseits des staatlichen Rechtsetzungsmonopols:
Zur Entstehung transnationaler Rechtssysteme in den Lücken der Staatenwelt
Im Folgenden sollen einige wichtige Erscheinungsformen transnationalen Rechts zusammengestellt werden, um diese, zumindest in Ansätzen, auf ihre Entstehungshintergründe und ihr Problemlösungs- und Steuerungspotential hin zu durchleuchten. Hierauf aufbauend sind die Konsequenzen für den modernen Rechtsstaat zu erörtern. Im Zentrum der Analyse stehen verschiedene Möglichkeiten, die herrschende Pluralität quasi-rechtlicher Strukturen in einen koordinierten Rechtspluralismus zu überführen oder, anders gesagt, von der bloßen Anlagerung gesellschaftlicher Normstrukturen an den Staat zu einer verknüpften Anlagerung zu gelangen, bei der der Staat die einzelnen Steuerungsbeiträge kanalisiert, sie bündelt und für den Fall ihres Versagens eine institutionelle Auffangordnung bereitstellt.
Als Kontrastfolie sei zunächst kurz auf die Diskussion über den "kooperativen Staat" (Ritter 1979) und den "informellen Rechtsstaat" (Bohne 1981) der späten 1970er und frühen 1980er Jahre eingegangen. Auf den ersten Blick könnte man den Eindruck gewinnen, das Phänomen des Rechtspluralismus sei historisch nichts Neues, da schon der Staat der klassischen Moderne von einer Parallelität höchst heterogener Normstrukturen geprägt gewesen sei. Zutreffend ist daran, dass das Mit- und Nebeneinander formalrechtlicher und quasi-rechtlicher Strukturen im nationalen Recht eine lange Tradition aufweist. Beispiele sind die normergänzenden Bestimmungen, die von wissenschaftlichen Experten in den zahlreichen Bundesanstalten erarbeitet werden, sowie die vielfältigen Standardisierungstätigkeiten privatrechtlicher Organisationen. Handelt es sich auch bei Erscheinungen wie diesen um eine Art Rechtspluralismus (vgl. Wolf 1991: 390), so ist dieser doch rechtlich domestiziert. Die vielfach verzweigten Normgebungskompetenzen im Staatsinneren basieren auf einem geregelten Zusammenspiel von Staat, Wirtschaft und Wissenschaft; und oft steht hinter den informellen Mechanismen die Fähigkeit des Staats, die betreffenden Maßnahmen notfalls auch im Alleingang und in rechtsverbindlicher Weise vorzunehmen (vgl. Voelzkow 1996).
Analoges gilt für die Europäische Union. Auch hier ist der Rechtsetzungsprozess in hohem Maße auf die Zuarbeit privater Verbände und wissenschaftlicher Experten angewiesen, und auch hier findet sich eine sukzessive Ergänzung des klassischen Ordnungsrechts um Formen der regulierten Selbstregulierung und andere eher indirekt wirkende Instrumente. Das Ergebnis sind allerdings gerade nicht konkurrierende oder kollidierende Normsysteme, sondern ineinander verschachtelte und relativ eng miteinander verschnürte Regelungsstrukturen. Das Ausschusswesen der Europäischen Union etwa ist deutlich erkennbar an die leitende Funktion der Europäischen Kommission angebunden, die den Gremien detaillierte Aufgabenstellungen vorgibt, und viele der nicht-hierarchischen Steuerungsinstrumente sind nur deshalb erfolgreich, weil die Organe der EU die betreffenden Maßnahmen grundsätzlich auch in einer hierarchischen Weise verfügen könnten.
Verglichen mit gemäßigt pluralistischen Arrangements wie diesen ist das Zusammentreffen unterschiedlicher Regelungsstrukturen auf globaler Ebene durch einen sehr viel höheren Grad an Informalität gekennzeichnet, sowie durch ein weitaus größeres Kollisions- und Konfliktpotential zwischen den einzelnen Ordnungen. Die verschiedenen Akteure des transnationalen Raums - von multinationalen Konzernen über administrative Standardisierungsnetzwerke bis hin zu internationalen Rechtsberatern - verfügen bei ihren Normgebungsaktivitäten über einen Grad an Autonomie, wie er im innerstaatlichen und europäischen Kontext nicht denkbar wäre. Häufig besitzen sie für die betreffenden Aufgaben weder ein offizielles Mandat, noch wird die Regelgestaltung durch übergeordnete Institutionen überwacht. Die Setzung globalen Rechts durch sich selbst autorisierende Akteure stellt daher nicht nur das staatliche Rechtsetzungsmonopol in Frage, sie ist auch mit der Gefahr verbunden, dass viele wichtige Rechtsetzungsprozesse an den Institutionen und Kontrollmechanismen des Rechtsstaates vorbeilaufen.
Als Paradebeispiel eines informellen transnationalen Rechts gilt die Entstehung einer neuen Lex Mercatoria, eines eigenständigen globalen Handelsrechts von wachsender praktischer Bedeutung (vgl. Calliess 2002; Calliess u.a., Kap. 5, S. 143 ff.). Die betreffenden Regelungen beziehen sich primär auf die Minimierung geschäftlicher und betriebswirtschaftlicher Risiken bei globalen Austauschprozessen und verkörpern somit ein funktionales Pendant zu staatlichem Privatrecht. Neben solchen, rein wirtschaftsimmanenten Regelungen emergieren auch - und hier liegt der Schwerpunkt der folgenden Überlegungen - zahlreiche Ordnungsstrukturen mit marktkorrigierenden und sozialregulatorischen Funktionen: vom Schutz von Kernarbeitsnormen bis hin zu Fragen des Umwelt-, Verbraucher- und Gesundheitsschutzes. Über die Belange der Allgemeinheit wird heute zunehmend außerhalb der staatlichen Institutionen entschieden, und vielfach geht die Effektivität der informellen Mechanismen deutlich auf Kosten ihrer Transparenz, ihrer verfahrensmäßigen Rationalität und Kontrollierbarkeit.
Auch wenn die emergenten Strukturen viele demokratische und prozedurale Qualitäten staatlichen Rechts vermissen lassen, weisen sie doch zahlreiche Ähnlichkeiten mit ihm auf. Wie die Rede von einem "lebenden Recht" (Ehrlich 1989) impliziert, verfügen die emergenten Strukturen über eigene Geltungsgrundlagen - darunter der Bezug auf wissenschaftliche Expertise, die Bindungswirkung expliziter Selbstverpflichtungen und die Revision überkommener Deutungsmuster durch organisationales Lernen. Manchen Standards scheint auf den ersten Blick lediglich Empfehlungscharakter zuzukommen, während sie tatsächlich, indem sie präzise den geltenden Wissens- und Erkenntnisstand in dem betreffenden Problemfeld fixieren, die Adressaten unter erhebliche Zugzwänge setzen. Unabhängig davon, worauf der Bindungseffekt jeweils beruht, ist für die Charakterisierung der informellen Strukturen von entscheidender Bedeutung, dass durch sie klare Grenzlinien zwischen zulässigen und unzulässigen Praktiken gezogen werden und dass sie zu einer Neuverteilung der Verantwortlichkeiten, der Rechte und Pflichten in dem betreffenden Akteurskreis beitragen.
Für viele Autoren ist der heutige, globale Rechtspluralismus gleichbedeutend mit einer Erosion des modernen Rechtsstaates. Ganze Politikbereiche würden, so die Befürchtung, staatlichem Einfluss dauerhaft entzogen und von den Akteuren der transnationalen Sphäre "usurpiert" (Pauly 2002: 76). Diagnostiziert wird eine Situation, in der die Institutionen der Staatenwelt dem äußeren Anschein nach intakt bleiben, während sie faktisch durch die sukzessive Verlagerung von Entscheidungsbefugnissen an die neuen Normgebungsagenturen der Weltgesellschaft marginalisiert und ausgehöhlt werden. Hierher gehört auch die Auffassung, in der Wahrnehmung politisch relevanter Aufgaben durch Akteure ohne formelles Mandat kündige sich eine neue "Niemandsherrschaft" an (Beck 2002: 102). Die emergenten Normstrukturen verhielten sich zu den Strukturen des positiven Rechts wie Parallelwelten, und beide Sphären, die des formellen Rechts und die des emergenten (Quasi )Rechts, drifteten immer weiter auseinander. Das Ergebnis sei eine "gegabelte Welt" (Kohler-Koch 1996: 112; ähnlich Rosenau 1992: 16), in der jede der beiden Sphären ihre eigenen Normen entwickelt, eine sinnvolle Koordination der verschiedenen Steuerungsbeiträge aber in immer weitere Ferne rückt.
Dass die skizzierte Erosionsthese zahlreiche normative und legitimatorische Probleme aufwirft, liegt auf der Hand, aber auch unter empirischen Gesichtspunkten ist sie zu undifferenziert. Bei näherem Zusehen trifft man nämlich auch auf Wechselwirkungen zwischen beiden Sphären, die nicht auf ein unvermitteltes Nebeneinander, sondern auf Tendenzen einer institutionellen Rückbindung und Rückbettung der informellen Strukturen hindeuten (vgl. Günther/Randeria 2001; Santos 1995: 473). Das formale Recht gewinnt, indem es sich um eine enge Verzahnung mit den Normen der transnationalen Sphäre bemüht, einen neuen Grad an Problem- und Praxisnähe, und auch der Staat erschließt sich durch die Verarbeitung der emergenten Steuerungsarrangements neue Potentiale der (Mit )Gestaltung, auch wenn dies häufig weniger auf dem Weg über die offizielle Politik, als vielmehr eher horizontal, durch verschiedene Formen der behördlichen und gerichtlichen Auseinandersetzung mit den betreffenden Strukturen erfolgt.
Die zahlreichen Prozesse der Globalisierung und Entgrenzung des Rechts sollten daher nicht vorschnell mit Entstaatlichung gleichgesetzt werden. Auch unter Bedingungen der Transnationalisierung kann der Staat eine wichtige und aktive Rolle übernehmen - eine Rolle, die in manchen Beiträgen der Global-Governance-Literatur sehr plastisch mit dem Konzept des "Interdependenz- und Schnittstellenmanagers" umschrieben wird (Messner 2001: 32). Zum Teil verkörpert der Staat eine unverzichtbare Anlaufstelle für Forderungen und Ansprüche, die immer dann entstehen, wenn die informellen Mechanismen versagen oder an ihre Grenzen gelangen; zum Teil trägt er auch selbst dazu bei, neue und informelle Steuerungsinitiativen ins Leben zu rufen, und vielfach sorgt er durch flankierende Maßnahmen dafür, die bestehenden Regelungsstrukturen in ihrer Transparenz und Zuverlässigkeit zu optimieren.