E-Book, Deutsch, 112 Seiten
Isele Wort_Zone 4.0
3. Auflage 2017
ISBN: 978-3-7431-2650-3
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Magazin für neue Literatur
E-Book, Deutsch, 112 Seiten
ISBN: 978-3-7431-2650-3
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Neue Prosatexte und Essays von Otto A. Böhmer, Iso Camartin, Beatrice Eichmann-Leutenegger, Hermann Kinder, Gianni Kuhn, Peter Salomon, Brigitte Tobler und anderen.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Beatrice Eichmann-Leutenegger
Der Stationsvorstand Immer wieder drängte das Kind zum Bahnhof. Und wenn die Mutter nach den Einkäufen erklärte, dazu reiche die Zeit nicht, denn man müsse sich endlich nach Hause begeben, so legte sich das Kind kurzerhand auf den Gehweg, liess sich nicht mehr vorwärts bewegen und schrie, es wolle unbedingt die Eisenbahnzüge sehen. Warum denn nur? War es der Rausch der vorbei brausenden Züge, das Rattern der Räder, dieses unablässige Vorwärts, Vorwärts? Waren es die Reisenden, die aus den offenen Fenstern voller Übermut mit Tüchern winkten und das Kind glauben liessen, der Gruss aus der Ferne gelte ihm? Das Haus, in dem das Kind mit den Eltern und der jüngeren Schwester wohnte, lag an der Bahnhofstrasse. Jeder, der auf dieser Strasse dahin eilte, strebte zum Bahnhof, hinaus in die Weite, fort von den Bergen, die den Kindheitsort ebenso schützend wie drohend bewachten. Der Bahnhof Schwyz war die verheissungsvolle Pforte zur Welt. Täglich suchte ihn der Vater auf, meistens gegen den Abend hin, weil er noch Briefe mit Korrespondentenberichten zu verschicken hatte. Oft nahm er das Kind mit, und dann tauchte es ein in die Lebenswelt dieses Bahnhofs. Unumschränkter Herrscher war der Stationsvorstand mit seiner dunkelblauen Uniform, den goldenen Knöpfen, der grünen Kelle, mit denen er die Züge begrüsste und wieder entliess. Einfahrt des Schnellzugs nach Göschenen, Bellinzona, Lugano, Como, Milano, rief er in den Lautsprecher, und: Achtung, der Eilzug nach Luzern, Basel, Mannheim, Köln hat fünfzehn Minuten Verspätung. Wie bunte Vögel aus einem exotischen Reich umschwirrten die Namen das Ohr des Kindes, und jetzt – hurra! – donnerte gerade ein Zug mit ohrenbetäubendem Lärm am Kind vorbei, beschrieb einen stürmischen Bogen und wurde von jener Bergwelt verschluckt, hinter der die kleine Schwester die filigranen Spitzen des Mailänder Doms vermutete. Ein zweiter Schnellzug näherte sich aus der Gegenrichtung, das Tosen schwoll an, Haare und Kleider flatterten, und schon war das rasende Ungeheuer wieder verschwunden. Der Vater aber zog das Kind fort, hin zum Kiosk. Hier thronte die Königin des Bahnhofs: eine schöne blonde Frau mit rot lakkierten Fingernägeln, umweht von einem Hauch Pariser Chic mitten in der Urschweiz. Sie deckte den Vater mit welthaltigem Stoff ein: mit der Süddeutschen Zeitung, wie das Kind, das erst seit einigen Monaten zur Schule ging, stolz entzifferte, und einem dicken Erzeugnis aus Frankfurt. Gleich daneben konnte das Kind neugierige Blicke in den Wartesaal schicken, in dem Wanderer mit Rucksäcken auf das gelbe Postauto warteten, das sie zu den Talstationen der Bergbahnen brachte. Dann verwickelte der Vater meist noch den König, den Herrn Stationsvorstand, in ein Gespräch, wenn dieser nicht gerade die Schalter und Hebel seines Stellwerks bediente, das dem Kind so bedeutsam erschien wie die Orgel in der Kirche. Dichtes und ganz helles Haar glänzte auf dem Kopf des Stationsvorstands, und eine Krone hätte nur zu gut gepasst, wie das Kind fand. Beglückt trat es danach mit dem Vater den Heimweg an – überzeugt, dass der Bahnhof eine Art Königshof sein müsse, zumindest aber der Vorhof zum Paradies. Und meist warf es, bevor es das Gebäude verliess, noch einen Blick ins Astwerk der Bäume, denn da oben sass jeweils ein Knabe, etwas älter als das Mädchen, ganz still sass er im Baum. Was macht er da oben?, fragte das Kind den Vater, und dieser antwortete: Das weiss ich auch nicht, aber es muss der jüngste Sohn des Stationsvorstands sein. Für das Kind aber war er fortan der Königssohn. Die bedeutsamste Rolle spielte der Königshof zu Beginn der Sommerferien. Zwar passierte auf dem Bahnhofsplatz oft noch ein Missgeschick. Mamas Beutel öffnete sich, und heraus kollerten Dosen und Fläschchen, brachen entzwei und gossen ihren Inhalt aus. Zartrosa, himmelblaue und zitronengelbe Seen weiteten sich aus, und der Vater, welcher lateinische Sätze liebte, sagte wieder einmal: Sic transit gloria mundi – so vergeht die Herrlichkeit der Welt. Aber der König mit dem grünen Szepter mahnte energisch zum Aufbruch, und mit hochroten Köpfen stieg die Familie in die Bahn, ein Pfiff, der Zug rollte an, und die Fahrt ins Paradies begann. Zehn Minuten später traf man in Arth-Goldau ein, und das sei nun bereits ein grösserer und wichtiger Bahnhof der Gotthardroute, erklärte der Vater. Es war beinahe ein italienischer Palazzo, ockerfarben gestrichen, mit Türmen bewehrt und nachts voll von Rapunzeln, die ihr Haar herunterliessen. Fünf Bahnsteige besass er, breite Treppen führten in die Unterwelt, in der man sich beeilen musste, um rechtzeitig erneut in die Oberwelt und auf den nächsten Bahnsteig zu gelangen. Fuhr der Zug wieder an, so schoben sich bald einmal die Berge auseinander, und hatte man den Ort mit dem wunderschönen Namen Immensee hinter sich gelassen, öffnete sich in Küssnacht die Luzerner Bucht des Vierwaldstättersees – eine Landschaft voll von Hallelujahs, hell, strahlend, betörend. Mehrsprachig wurde man etwas später im Bahnhof der Stadt empfangen: Luzern, Lucerne, Lucerna. Die Familie nutzte den Zwischenhalt für einen Bummel durch die grosse Halle, das Kind aber stürmte mit der jüngeren Schwester ins Freie, zum See, der bis vor das Portal des Bahnhofs zu reichen schien. Die Hotelpaläste glänzten im Sonnenschein, es roch nach Fisch und Wasser, und natürlich mussten die Kinder zum Wagenbachbrunnen rennen, um sich voll zu spritzen, mussten sich auf die bronzenen Pferde setzen und wollten mit ihnen schon weggaloppieren, aber die Mutter mahnte, man solle sich nun sputen, bald fahre die Brünigbahn los. Wie immer eilte der Vater noch im zweitletzten Moment zum Bahnhofskiosk, zu seinem geliebten Zeitungsfutter, und die Kinder sorgten sich, wenn er nicht rechtzeitig zurück käme, so fahre man vaterlos ins Paradies. Der Luzerner Bahnhof steckte voller Wunder und Bangigkeiten. Er war gross, weitaus grösser als jener von Arth-Goldau, und betäubt von diesen Steigerungen sanken die Kinder ins Polster der Brünigbahn zurück. Lachend meinte der Vater: Ihr solltet einmal den Leipziger Bahnhof sehen, dagegen ist der Luzerner ein Waisenknabe. Viele Jahre vergingen, bis dieser Leipziger Riese ins Blickfeld trat, so viele, bis aus dem Kind eine junge Frau geworden war. Frühling war es, und Mitte der Siebzigerjahre wartete sie mit ihrer Mutter am Schwyzer Bahnhof auf den Zug, der sie auf eine besondere Reise mitnehmen sollte. Willst Du wirklich dorthin fahren?, fragte die Mutter besorgt, man hört doch so allerlei über die Verhältnisse in jenem Land. Ja, ich will, sagte die junge Frau entschlossen. Noch einmal schaute sie sich um im vertrauten Reich des Bahnhofs, blickte auf den Stationsvorstand, die Touristen im Wartesaal, die Kioskdame, alles wie immer, und dann fuhr sie weg – über München nach Erfurt, Weimar, Leipzig, Dresden. In Leipzig hielt der Zug für einen längeren Zwischenhalt, nachdem er einen verrotteten Industriegürtel durchfahren hatte, und riesenhaft wölbten sich die Hallen über den Köpfen der Reisenden, aber sie wusste nicht: Empfand sie das Stahlwerk als schützend oder nicht doch eher als bedrohlich? Es sollte nicht das einzige Mal sein, dass sie in diese Städte fuhr. Sie hatte sich in eine schwierige Geschichte verstrickt. Einmal gestand sie der Mutter, als sie wiederum neben dem Glasgebäude des Stationsvorstands auf den Zug warteten, dass sie den Mann, der in jenem mit einer Mauer vom Westen getrennten Land wohnte, liebte. Aber die Hindernisse türmten sich haushoch – auch für ein himmelsstürmendes Gefühl. Die Mutter hörte zu, sagte nichts, und von dieser Stille umfangen nahmen sie voneinander Abschied. Der Stationsvorstand winkte mit der Kelle, weiss war sein dichtes Haar inzwischen geworden, und die Augen hinter den dicken Brillengläsern blickten müder als noch vor Jahren. Die junge Frau fuhr in den Osten, Stunde für Stunde, und nichts als Hügel und Felder zogen vorüber, eine ereignislose Landschaft, regenverhangen, in Dunst gehüllt, von schmutzigem Braun und Grau die Häuser, keine Farbe, kein Leuchtpunkt, bis auf dem Zielbahnhof der Mann stand, einen Strauss mit Tigerlilien in der Hand haltend. Für Dich, sagte er. Eine zaghafte Festlichkeit leuchtete plötzlich im staatlich verordneten Alltag auf, und der Duft dieser Blumen deckte für einen Moment den allgegenwärtigen Geruch der Braunkohle zu . Jahre später riss die Mauer ein. Anfangs bröckelten nur die Ränder, dann brachen Stücke los, und an einem Spätherbsttag öffnete ein Grenzwächter erst den einen Durchgang, dann einen anderen, und Massen von Menschen strömten in Zügen aus dem Osten in den Westen, winkten mit den Tüchern und lachten unter Tränen. Die Bilder dieser Euphorie jagten um die Welt. Aber das Leben hatte in all den Jahren den Mann mit dem Tigernelkenstrauss verändert. Er war alt geworden und hatte seine Melancholie, die ihn schon früher angeweht hatte, nicht mehr abgestreift. Die junge Frau von einst hatte ebenfalls an Jahren und Jahrzehnten zugelegt und fuhr längst an Bahnhöfen vorbei, in denen kein Stationsvorstand mehr arbeitete, weil eine neue Technologie ihn als überflüssig erklärt hatte. Einmal wartete sie in einem kleinen Bahnhof des Luzerner Hinterlandes auf den Zug, der sie in die Stadt zurückbringen sollte. Ein Mann – sie schätzte ihn nur wenig älter als sich selbst ein – trat hinzu, richtete eine Frage an sie, und sofort glaubte sie den Dialekt ihres Kindheitsortes herauszuhören. Neugierig setzte sie das Gespräch mit dem Mann fort, um vielleicht etwas Näheres zu erfahren. Ja, er stamme tatsächlich aus Schwyz, sagte er, und daher sagten sie einander gleich Du und hast Du und weißt Du noch. Sein Vater, vor einigen Jahren...