E-Book, Deutsch, 144 Seiten
Jantzen Das Kind in der Krippe
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-451-83467-7
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Weihnachtsbotschaft – entstaubt, durchgelüftet, neuentdeckt
E-Book, Deutsch, 144 Seiten
ISBN: 978-3-451-83467-7
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Annette Jantzen erkundet in ihrem Buch die altvertrauten biblischen Erzählungen von der Geburt Jesu und ordnet sie in den kulturellen Kontext ihrer Zeit ein. Was verstanden die Zeitgenossen Jesu unter den biblischen Bildern von Engeln, Stern und Hirten, Geburtsankündigung, Jungfrauengeburt und Gotteskindschaft? Wie werden Bilder und Hoffnungen des Ersten Testaments aufgegriffen? Und wie hat sich das Verständnis dieser Glaubenszeugnisse im Laufe der Zeit und Tradition verändert?Ihre Erkundungen werfen ein ganz neues Licht auf den Mensch-von-Gott, Jesus Christus, dessen Menschwerdung an Weihnachten gefeiert wird, und legen wieder frei, wie sich den frühen Jesus-Gläubigen in seinem Leben die Gegenwart Gottes gezeigt hat.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Geisteswissenschaften Religionswissenschaft Religionswissenschaft Allgemein Heilige & Traditionelle Texte, Mythologie, Vergleichende Mythologie
- Geisteswissenschaften Christentum, Christliche Theologie Bibelwissenschaften
- Geisteswissenschaften Religionswissenschaft Religionswissenschaft Allgemein Religiöses Leben und religiöse Praxis
Weitere Infos & Material
In den Erzählungen seines Volkes
Für viele Menschen christlichen Bekenntnisses ist eine geläufige Lesart der Bibel, dass das Erste Testament etwas Vorläufiges sei, eine große Frage, Ausdruck einer Sehnsucht nach Rettung, und dass diese Frage im Zweiten Testament ihre Antwort gefunden habe. Die lange und intensive Debatte über das Verhältnis der beiden Testamente ist bis heute nicht beendet. Viele christlich-theologische Ansätze werten das Erste Testament als Offenbarungsschrift bis heute ab, indem sie postulieren, dass mit Jesus und mit den Schriften des Zweiten Testaments das Erste überboten worden sei, dass es in sich also keine Geltung mehr habe, sondern seine Sinnspitze außerhalb liege, nämlich im Zweiten Testament, und das Erste damit vom Zweiten abgelöst worden sei. Weniger theologisch als vielmehr von alten antijudaistischen Katechismuslehren geprägt ist das landläufige christliche Vorurteil, im „Alten“ Testament spräche ein Gott der Rache, im „Neuen“ hingegen offenbare sich ein Gott der Liebe. Warum dieser Gott der Liebe dann im gleichen religiösen Koordinatensystem das Opfer seines Sohnes fordern sollte, um der sündigen Menschheit vergeben zu können, lässt sich nicht schlüssig theologisch, eventuell aber psychologisch erklären. Diese Überbietungstheologie hinter sich zu lassen, fällt vielen christlichen Theologien deutlich schwer. Für den katholischen Bereich lässt sich zeigen, dass die verlangsamte, widerwillige und lückenhafte Aufnahme neuer theologischer Ansätze und Erkenntnisse in das kirchliche und vor allem in das gottesdienstliche Sprechen hier gravierende Folgen hat. In der römisch-katholischen Leseordnung dient das Erste Testament nämlich immer noch weitgehend als Steinbruch für das Zweite: Ersttestamentliche Lesungen in den Sonntagsliturgien folgen nicht kontinuierlich den Schriften der Hebräischen Bibel, sondern werden immer mit Blick auf das jeweilige Sonntagsevangelium ausgesucht, während die Evangelienperikopen sich weitgehend an den Fluss des biblischen Textes halten. Auf diese Weise werden zwar intertextuelle Bezüge sichtbar, was ein Pluspunkt ist, aber das Framing ist dann automatisch eins von Ankündigung und Überbietung, Hoffnung und Erfüllung, Sehnsucht und Erlösung. Wo sich dieser Eindruck nicht von selber allein durch die Gegenüberstellung der ausgewählten Texte einstellt, wird dieses Verhältnis vom Ersten zum Zweiten Testament auch aktiv etwa von den einleitenden und kommentierenden Texten im Schott Messbuch hergestellt, welches viele Lektor:innen und Priester zur Gottesdienstvorbereitung heranziehen. Die Textbeziehungen haben sich so im Laufe der Überlieferungsgeschichte umgekehrt. Denn die Autor:innen des Zweiten Testaments griffen immer wieder auf die Texte des Ersten Testaments zurück, um aufzuweisen, dass das, was sie schrieben, wahr sei. Spätere christliche Interpretationen hingegen betrachteten das Erste Testament nur noch insofern als wahr, als es vom Zweiten Testament bestätigt wurde. Die Folge: Während gläubige Christ:innen zumindest im Wesentlichen einen Überblick über die bekanntesten Texte des Zweiten Testaments haben, bleibt das Erste Testament für viele eine black box. Man kennt dann die Erzählungen der Genesis und die bekanntesten prophetischen Texte, die deswegen am bekanntesten sind, weil sie in den Evangelien zitiert werden, womit dann auch gleich das Verständnis gegeben ist, dass sie sich darin erfüllt hätten. Aber die vielen Psalmzitate in den Evangelien und die Hintergründe für die intensiven Debatten über die Geltung der Tora in den Gemeinden der Jesusgläubigen, zu denen auch nichtjüdische Menschen gehörten, bleiben weitgehend ungehört und unverstanden. Daraus ergibt sich wiederum die unterschwellige Annahme, dass wer „nur“ das Erste Testament als Offenbarungsschrift kennt, also heutige Jüdinnen und Juden, irgendwie defizitär sei: keine „richtige“ Erlösung kenne und vom Gotteswort nur die Ouvertüre gehört habe. Innerhalb der römisch-katholischen Kirche haben Theolog:innen während des Zweiten Vatikanischen Konzils und danach versucht, Alternativen zu dieser defizitorientierten Betrachtungsweise aufzuweisen und vor allem zu etablieren. Dieses Bemühen bleibt weitgehend fruchtlos, weil dem gefühlten Defizit schwer beizukommen ist: Wozu bräuchte es ein Zweites Testament, wenn das Erste auch ausreichen würde? An dieser Grundfrage scheiden sich auch über 50 Jahre nach dem ersten Besuch einer Synagoge durch einen römisch-katholischen Papst der Neuzeit immer noch die Geister, und auch innerhalb einer Kirche fallen die Antworten mitunter unterschiedlich aus. Traditionalistische römisch-katholische Kreise dürfen wieder die Karfreitagsfürbitte der vorkonziliaren Liturgie für die „verstockten Juden“, die „perfidis judaios“ beten, und tun das natürlich auch. Andere Katholik:innen bemühen sich um das christlich-jüdische Gespräch, aber die Ergebnisse dieser Gespräche werden in weiten Teilen der Gesamtkirche nicht in die liturgischen Texte und in der Folge auch nicht in das Glaubenswissen integriert. Landläufig gibt es immer noch eingeschliffene antijüdische Vorurteile in der Lektüre des Zweiten Testaments: Jesus habe die Tora durch das Liebesgebot abgelöst, die Spitzenthesen der Bergpredigt „Ihr habt gehört … ich aber sage euch“ seien Antithesen, als würden sich die jeweiligen Satzteile ausschließend gegenüberstehen, die Lehrgespräche mit „den“ Pharisäern seien von Vorwürfen, Unterstellungen und unlauteren Absichten geprägt gewesen, und schließlich, „die Juden“ hätten Jesus umbringen lassen und sich dann der Botschaft von seiner Auferstehung verweigert. Noch gröber wird das Missverständnis, wenn man die Überzeugung dazunimmt, dass die Menschen des Ersten Testaments keinen Glauben an das Bewahrtsein des Lebens über das Sterben hinaus gekannt hätten – und dass seit der Auferstehung Jesu alle, die sich nicht zu ihm als Sohn Gottes bekennen wollten, im Tod bleiben oder sogar in eine Hölle kommen. Ich weiß, dass sich das wie eine Karikatur anhört; als Seelsorgerin bin ich solchen Auffassungen aber leider schon in den Ängsten und Skrupeln von Menschen begegnet. In diesem Vorurteils-Klangteppich gehen aber wesentliche Töne des gesamten Liedes verloren, das die Schriften des Zweiten Testaments anstimmen. Er absorbiert nahezu alle Töne aus dem Ersten Testament, die auch im Zweiten klingen, und übrig bleibt ein Text ohne Tiefenschichten, mit unverständlichen Pointen, der als ein in sich vollständiger Text gelesen wird, weil die heute Lesenden gar nicht mehr wissen, was an Klängen alles fehlt. Ohne die lange Hoffnungsgeschichte der Menschen, in deren Überlieferung sich der Glaube an eine Gottheit entwickelt hatte, die souverän, aber mit Schöpfungswillen und Liebe der Welt verbunden ist, wirkt der Text des Zweiten Testaments wie amputiert. Er wird dann zum Text einer neuen Glaubenssprache, die weitgehend ohne den Wortschatz der Basissprache auskommt, und in dieser neuen Glaubenssprache ändern die Vokabeln oft genug ihre Bedeutung. Aus „den Juden“ wird eine feindliche Gruppe, aus „den Pharisäern“ werden missgünstige, gesetzesfixierte und dabei gottesblinde Heuchler, aus dem Liebesgebot eine Neuerung Jesu, aus der heiligen Geisteskraft als Erscheinungsweise Gottes eine Taube, aus der Gottheit, der der sterbende Jesus sich im Beten des 22. Psalms überlässt, ein rachesüchtiger Gott, der dieses Opfer verlangen durfte, gar musste, und aus Jesus, der in die Glaubenstraditionen der Hebräischen Bibel hineingewachsen und in ihnen zu Hause gewesen war, wurde der präexistente, von Gott auf die Welt gesandte Sohn, der von seinem Volk nicht erkannt, ja zurückgewiesen wurde. Dummerweise ergibt all dies auf eine verdrehte Weise dennoch einen Sinn, sodass die Defizite der Geschichte, die sich daraus ergeben, nicht für alle offensichtlich waren, die damit in Kontakt kamen, sondern daraus ein neues Glaubensgebäude werden konnte. Zum Glück ging dieser Prozess nicht besonders schnell, sodass in den heftigen Kontroversen der frühen Kirche darüber, ob die Bücher des Ersten Testaments weiterhin als heilige Schriften gelten sollten, zugunsten dieser Schriften entschieden wurde. Die ungebrochene Bedeutsamkeit der Hebräischen Bibel wurde zwar von verschiedenen Seiten in Frage gestellt, umso mehr, je größer der zeitliche und räumliche Abstand zur Jerusalemer Urgemeinde wurde. Aber zuerst wurde in diesen Debatten das Gehör für die Bedeutsamkeit der älteren Schriften sogar noch geschärft, sodass die Zusammengehörigkeit von Erstem und Zweitem Testament in der christlichen Kirche breiter Konsens wurde. Der Gehörverlust für die Klänge der Hebräischen Bibel in den Schriften des Zweiten Testaments trat nicht plötzlich auf, sondern geschah später, und schleichend. Mit diesem Gehörverlust hat sich dann auch nach und nach der „Wahrheitsraum“, den das Erste Testament für das Zweite ursprünglich geöffnet hatte (vgl. den Titel der einschlägigen Untersuchung von Frank Crüsemann dazu: „Das Alte Testament als Wahrheitsraum des Neuen“), für Christ:innen für lange Strecken der Kirchengeschichte weitgehend verschlossen. Denn diese Haltung, dass die Hebräische Bibel gegenüber dem Zweiten Testament defizitär sei, eine bloße Frage, auf die das Zweite Testament die Antwort wäre, oder eine Hoffnung, die im Zweiten Testament ihre Erfüllung finden sollte, war natürlich nicht die Haltung derjenigen, die die Schriften des Zweiten Testaments verfasst haben. Als die ersten Jesusgläubigen oder, wie sie sich auch nannten, die „Anhänger: innen des Neuen Weges“ begannen, die Tora-Auslegungen Jesu, seine Geschichten und die Erlebnisse mit ihm aufzuschreiben, war die Tora (also die fünf Bücher Mose) schon gut 400 Jahre...