E-Book, Deutsch, 176 Seiten
Jefferson Über Michael Jackson
1. Auflage 2010
ISBN: 978-3-8270-7008-1
Verlag: Berlin Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 176 Seiten
ISBN: 978-3-8270-7008-1
Verlag: Berlin Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Wir alle kennen ihn - aber wer ist Michael Jackson? In ihrem eleganten Essay nähert sich Margo Jefferson der spannendsten und widersprüchlichsten Figur der Popkultur, einem Star, den Hits wie Billie Jean und Thriller unsterblich machten. Sie analysiert das Phänomen Jackson, wie er erst als schwarzer Kinderstar, dann als exzentrischer Freak und schließlich als Verdächtigter vor Gericht von sich reden machte - und zur zerbrechlichsten Ikone der Postmoderne wurde. Eine brillante, pointiert gefasste Studie, die Publishers Weekly mit Susan Sontags frühen Aufsätzen zur amerikanischen Popkultur verglich.
Margo Jefferson schrieb als Literatur- und Theaterkritikerin für Vogue, Harper's, Newsweek Magazine, American Theatre, Dance Ink, The Village Voice und von 1993 bis 2006 für The New York Times. 1995 erhielt sie den Pulitzer-Preis. Sie unterrichtet an der Columbia University und lebt in New York.
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# ZUHAUSE »Home is the place where, when you have to go there / They have to take you in.« Dieser Vers des amerikanischen Dichters Robert Frost hat etwas Beunruhigendes. Denn so kann es einem natürlich auch gehen, eingeschlossen, eingekerkert mit Seinesgleichen – an dem Ort, von dem man so dringend wegwollte. Was wird man sich nicht alles einfallen lassen, um einander das Leben zur Hölle zu machen? Die Jacksons sind eine ziemlich gruselige Familie. Von Anfang an waren sie ein PR-Konstrukt und ein lebender Mythos: Sie galten als Familie, die ganz klein anfing, die ins Showbusiness drängte, die schwarze Familienwerte repräsentierte, und inzwischen gelten sie als Familie, die Hollywood-Skandale verursacht und die eigene Berühmtheit nicht verkraftet hat. Ihre Geschichte gleicht einem Märchen, das von Journalisten, Drehbuchschreibern, Fans und einem ganzen Ensemble von ehemaligen Angestellten, von Anwälten und Managern bis hin zu Gärtnern und Bediensteten immer wieder neu erzählt wird. Familien erinnern bisweilen an organisierte Religionen: Fast jedes Verbrechen kann im Namen der Familien begangen und vertuscht werden, und die Jacksons haben da eine ganze Menge auf Lager. Angefangen mit der abgründig viktorianischen Familienstruktur. Joseph Jackson, der Patriarch, der seinen Kindern die harten Lektionen von Gehorsam und Überleben erteilt. Katherine, die sanftmütige Mutter, die sich für die körperlichen und geistigen Bedürfnisse ihrer Kinder zuständig fühlt. Joseph und Katherine arbeiten sehr viel, und das jeden Tag. Sie haben neun Mäuler zu stopfen, müssen neun Kinder durch die Schule bringen und sie vor schlechtem Einfluss schützen. Die Kinder stehen bei Sonnenaufgang auf. Sie müssen im Haushalt mit anpacken. Keines von ihnen darf mit anderen Kindern spielen, außer in der Schule, wo solcher Kontakt unvermeidlich ist.8 Joseph arbeitet in einer Stahlmühle. Wenn es hart auf hart kommt, erntet er nebenher Kartoffeln. Aber irgendwie findet er auch Zeit für sexuelle Abenteuer. Katherine schmeißt den Haushalt und kümmert sich um die Kinder. Wenn das Geld knapp wird, arbeitet sie als Aushilfe bei der Kaufhauskette Sears. Ihre jüngsten drei Kinder sind zwischen sechs und zwei. Michael ist fünf. Sie hat für nichts anderes Zeit, bis zu dem Tag im Jahr 1963, als ein Zeuge Jehovas an ihrer Tür klingelt. Höflich, aber entschieden spricht er von den Widrigkeiten dieser Welt und den Verheißungen der kommenden. »Schönen guten Tag. Ich bin hier, um Ihnen die frohe Botschaft einer neuen Welt zu überbringen, in der es kein Verbrechen gibt und die vollkommen ist. Möchten nicht auch Sie in einer Welt leben, in der Sie Ihre Tür nicht länger abschließen müssen und in der alle Geschöpfe nach den Gesetzen eines vollkommenen Herrschers leben?« »Ich überbringe Ihnen und Ihren Nachbarn eine biblische Botschaft, eine Botschaft des Trostes und der Hoffnung. Ich sehe, dass Sie ein kleines Kind haben. Möchten nicht auch Sie, dass es in einer Welt aufwächst, die weder Krankheit noch Tod kennt?« Der Zeuge lässt Katherine etwas zu lesen da, vielleicht eine Ausgabe von Wachtturm oder Erwachet! oder auch das Buch Wahrheit der Zeugen, »Jehova und Jesus Christus gewidmet«. Noch im selben Jahr lässt sich Katherine taufen, im Schwimmbecken der Roosevelt High School (die schon bald darauf berühmt wird als die Schule von Jackie, Tito und Jermaine und der Ort, an dem die Jackson Five ihren ersten Nachwuchswettbewerb gewinnen). Die Zeugen Jehovas hätten Katherine allerdings lieber Fragen stellen sollen wie: Wären Sie nicht gern reich? Hätten nicht auch Sie gern eine Villa im sonnigen Kalifornien, die Hayvenhurst heißt, von hell leuchtenden Laternen umstanden, anstatt in dieser winzigen Bretterbude in einer düsteren, armseligen Gegend von Gary zu leben, wo sich an kalten Winterabenden die ganze Familie vorm Ofen zusammenrotten muss? Hätten Sie nicht gern weltberühmte Söhne, die Sie mit Songtexten aus ihrem Album Destiny (»A mother is a gift given from God. For ours we are most grateful, and we dedicate this album to our beautiful mother, Katherine Jackson«) feiern? Zunächst aber zeigen die Zeugen Jehovas Katherine Jackson Wege auf, über das hinwegzukommen, was ihr nicht vergönnt ist, während sie damit beschäftigt ist, ihre Familie durchzubringen und den Schulabschluss nachzuholen: Geld, Freunde und ein gütiger und treuer Ehemann. Joseph Jackson konvertierte nicht zu den Zeugen Jehovas, und er hörte auch nicht auf, seine Kinder zu schlagen. Aber Katherine sollte sich anschicken, den Schmerz und die Opfer, die sie in ihrem Leben erbracht hatte, in ein Erlösungsversprechen zu verwandeln. Die Zeugen Jehovas betrachten die Welt als einen wertlosen und schlechten Ort, wo Gott und Satan sich unablässig um die Seelen der Menschen schlagen. Vor Zeitaltern habe Satan damit geprahlt, er könne Gott die Menschen abspenstig machen. Hiob sei der Präzedenzfall gewesen, also habe Gott ganz offensichtlich gewonnen. Aber der Allmächtige strebe nach ewiger Rechtfertigung und deshalb »halte er sich zurück«, das Böse endgültig aus der Welt zu schaffen. Und zwar um unserer willen, denn wie sonst könnten wir Jehova als »rechtmäßigem Souverän und Einzigem, der es verdient, gefürchtet und verehrt zu werden« huldigen. An dem glorreichen Tag, da die Welt endet und damit Satans Macht, werden Heerscharen von Sündern in die Abgründe der Hölle getrieben. Die, die errettet werden, bilden dann zwei Klassen. Die Menschen der zweiten Klasse werden auf einer rein gewaschenen Erde ein ewiges Leben führen. Die Gläubigen der ersten Klasse, insgesamt 144000 an der Zahl, werden an Christus’ Seite im Himmel sitzen und von dort aus als Diener Gottes richten und regieren. Mehr als die Hälfte der Zeugen sind Frauen, und ihnen obliegt auch die Aufgabe, von Tür zu Tür zu gehen und zu missionieren. Hohe Ämter bekleiden sie allerdings nicht, weil Charles Taze Russell, der Gründer der Zion’s Watch Tower Bible and Tract Society, im Jahr 1884 erklärt hatte: »Stärke des Geistes und des Körpers ist durch göttliche Fügung mit dem Manne und macht ihn zum Oberhaupt der Familie … es ist also Aufgabe des Mannes, abzuwägen und Entscheidungen zu treffen.« Wie so viele, die geboren sind, sich unterzuordnen, haben die Frauen sich mit der ihnen zugewiesenen Rolle aber nicht immer abgefunden. Sie seien leicht »verderbt und selbstisch« geworden, neigten dazu, »die häusliche Autorität an sich zu reißen, sich der Kontrolle über Finanzen und Familienleben zu bemächtigen …«. Eine rechtschaffene Frau sollte »die Ehre und Würde des Ehemannes unterstützen«. (An dieser Stelle sei erwähnt, dass Russells Ehefrau Maria, die an der Herausgabe der Zeitschrift der Zeugen Jehovas beteiligt war, ihn nach achtzehnjähriger Ehe verließ und wegen seelischer Grausamkeit und Untreue die Scheidung einreichte.) Die ehemalige Zeugin Jehovas Barbara Grizzuti Harrison schrieb: »Als Kind habe ich beobachtet, dass es für Frauen, die Zeugen Jehovas wurden, nicht unüblich war, das gemeinsame Schlafzimmer zu räumen, gewissermaßen als erster Schritt auf dem Weg zu Gott. Viele unglücklich verheiratete und sexuell frustrierte Frauen entdecken ihre Liebe zu Jehova.«9 Katherine Jackson wandte sich von der protestantischen Kirche ab, als ihr klar wurde, dass deren Vertreter außereheliche Affären unterhielten. Als Joseph es ihnen gleichtat, musste sie aus der Not eine Tugend machen, zumal sie, die sie ihrerseits aus einer zerrütteten Familie kam, sich geschworen hatte, die Ehe unter allen Umständen heilig zu halten. Das Schlimmste an der endlosen Pflichterfüllung und Aufopferung ist die Anonymität. Nicht alle armen, unglücklichen Menschen sind gleich, aber für den Rest der Welt sehen sie in der Regel gleich aus, und das wissen sie auch. Katherines neuer Glaube war Balsam für ihre Seele. Nochmals Barbara Grizzuti Harrison: »Frauen, die den Zeugen Jehovas angehören, haben das Gefühl, dass sie etwas wert sind. Selbst ihr Schmerz hat für sie einen bestimmten Wert; ihr Schmerz ist der Pfeil Gottes … Durch die Religion erfahren sie die Welt – die Welt, in der sich Menschen ›nicht anständig verhalten‹, in der Menschen ›einander Schlechtes antun‹, als sinnvoll.« Katherine Jacksons Bemühen um Glauben kam dem gleich, was sie ohnehin stets getan hatte: Hausarbeit. Schmutz und Unordnung waren im Haushalt die ständigen Feinde. Keimfreie spirituelle Reinheit war das oberste Gebot ihrer Religion. Die Zeugen sagen, man sei im Herzen nur rein, wenn man es auch körperlich ist. Man muss sich an die biblische Verdammung derer halten, die Unzucht treiben, masturbieren, ehebrechen und homosexuelle Beziehungen führen. (Bibelstellen werden stets mitgeliefert.) Sündiges Verhalten kann zur Exkommunikation, zum Ausschluss führen. »Der gläubigen Frau wird gesagt, sie sei das Instrument zur Erlösung ihres Mannes … Sie kann kaum umhin, sich dem Mann überlegen zu fühlen, der dem Untergang geweiht ist. Zugleich muss sie so handeln, als sei der Mann, der ihren geliebten Jehova verachtet oder ignoriert, durch göttliche Fügung Herr im Haus.« Jetzt aber zu Joseph Jackson, dem Mann, der vor nichts zurückschreckte, um Herr im Haus zu bleiben. Die Memoiren seiner Tochter La Toya geben den einzigen Hinweis auf seine...