E-Book, Deutsch, 256 Seiten
Reihe: dtv- Klassiker
Joyce Dubliner
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-423-40978-0
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 256 Seiten
Reihe: dtv- Klassiker
ISBN: 978-3-423-40978-0
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
James Joyce, geboren am 2. Februar 1882 in Dublin, besuchte Jesuitenschulen und studierte am University College in Dublin Englisch, Französisch und Italienisch. 1904 verließ er für immer seine Heimat und lebte in Triest, Paris und Zürich. Noch in Dublin konnte er drei Erzählungen aus den >DublinersUlyssesFinnegans Wake<. Fast erblindet starb James Joyce am 13. Januar 1941 in Zürich.
Fachgebiete
Weitere Infos & Material
DIE SCHWESTERN
Diesmal gab es für ihn keine Hoffnung mehr: Es war sein dritter Schlaganfall. Abend für Abend war ich an dem Haus vorbeigegangen (es war Ferienzeit) und hatte das erleuchtete Fensterviereck studiert; und Abend für Abend war es in derselben Weise erleuchtet, schwach und gleichmäßig. Wenn er tot wäre, dachte ich, würde ich den Widerschein von Kerzen auf dem dunklen Rouleau sehen, denn ich wusste, dass am Kopf eines Leichnams zwei Kerzen aufgestellt werden müssen. Er hatte oft zu mir gesagt: Ich bin nicht mehr lange von dieser Welt*, aber ich hatte das für leere Worte gehalten. Jetzt wusste ich, dass sie wahr waren. Jeden Abend, wenn ich zu dem Fenster hinaufsah, flüsterte ich das Wort Paralyse* vor mich hin. Es hatte in meinen Ohren stets sonderbar geklungen, so wie das Wort Gnomon* bei Euklid oder das Wort Simonie* im Katechismus. Aber jetzt hörte es sich für mich an wie der Name eines bösen* und sündhaften Wesens. Es erfüllte mich mit Furcht, und zugleich wünschte ich ihm, näherzukommen und sein tödliches Werk zu betrachten.
Der alte Cotter saß am Kamin und rauchte, als ich zum Abendessen herunterkam. Während meine Tante mir Haferbrei auf den Teller schöpfte, sagte er, so als knüpfe er an eine frühere Bemerkung an:
– Nein, ich würde nicht behaupten, dass er ... aber er hatte etwas Sonderbares ... er hatte etwas Unheimliches an sich. Ich will Ihnen sagen, was ich meine ...
Er begann mit seiner Pfeiffe zu paffen und dabei legte er sich zweifellos seine Meinung zurecht. Unausstehlicher alter Dummkopf! Als wir ihn erst kurze Zeit kannten und er von Schlempe und Kühlschlangen erzählte, fand ich ihn noch ganz interessant, aber bald hatte ich genug von ihm und seinen endlosen Geschichten von der Brennerei.
– Ich hab da meine eigene Theorie, sagte er. Ich denke, es war einer dieser ... eigenartigen Fälle ... Aber es ist schwer zu sagen ...
Er begann wieder an seiner Pfeife zu paffen, ohne uns seine Theorie zu verraten. Als mein Onkel sah, dass ich große Augen machte, sagte er zu mir:
– Tja, du wirst sicher traurig sein, aber dein alter Freund ist nicht mehr.
– Wer?, fragte ich.
– Father Flynn.
– Ist er tot?
– Mr Cotter hier hat es uns gerade erzählt. Er kam zufällig am Haus vorbei.
Ich wusste, dass ich genau beobachtet wurde, deshalb aß ich weiter, als interessierte mich die Nachricht nicht. Erklärend sagte mein Onkel zum alten Cotter:
– Der Junge und er waren dicke Freunde. Der Alte hat ihm nämlich eine Menge beigebracht, wissen Sie, und es heißt, er war sehr um ihn bemüht.
– Möge Gott seiner Seele gnädig sein, sagte meine Tante fromm.
Der alte Cotter sah mich eine Weile an. Ich spürte, dass seine stechenden schwarzen Augen mich musterten, aber ich wollte ihm den Gefallen nicht tun, von meinem Teller aufzusehen. Er wandte sich wieder seiner Pfeife zu und spuckte schließlich geringschätzig in den Kamin.
– Ich würde es nicht gerne sehen, sagte er, wenn meine Kinder sich zu viel mit so jemandem abgeben würden.
– Was meinen Sie damit, Mr Cotter?, fragte meine Tante.
– Ich meine damit, sagte der alte Cotter, dass es Kindern nicht guttut. Meiner Meinung nach sollte ein junger Bursche mit gleichaltrigen Burschen herumrennen und spielen, anstatt ... Hab ich nicht recht, Jack?
– Das ist auch mein Grundsatz, bestätigte mein Onkel. Er soll lernen, sich durchzuboxen. Das sage ich diesem Rosenkreuzer* da auch immer: Beweg dich! Als ich so jung war, habe ich jeden Morgen kalt gebadet, winters wie sommers. Das kommt mir jetzt noch zustatten. Bildung ist ja schön und gut ... Vielleicht möchte Mr Cotter etwas von der Hammelkeule, sagte er dann zu meiner Tante gewandt.
– Nein, nein, vielen Dank, sagte der alte Cotter.
Meine Tante holte die Platte aus dem Vorratsschrank und stellte sie auf den Tisch.
– Aber warum meinen Sie, dass es für Kinder nicht gut ist, Mr Cotter?, fragte sie.
– Es ist schlecht für sie, erklärte der alte Cotter, weil sie so leicht zu beeinflussen sind. Wenn Kinder so was sehen, wissen Sie, dann hat das Folgen ...
Ich stopfte mir den Mund mit Haferbrei voll, aus Angst, ich könnte vor Wut etwas sagen. Unausstehlicher rotnasiger alter Trottel!
Es war spät, als ich einschlief. Obwohl ich auf den alten Cotter wütend war, weil er von mir wie von einem Kind sprach, zerbrach ich mir meinen Kopf, um in seinen unvollendeten Sätzen eine Bedeutung zu finden. In der Dunkelheit meines Zimmers bildete ich mir ein, wieder das aufgedunsene, graue Gesicht des Paralytikers vor mir zu sehen. Ich zog mir die Decke über den Kopf und versuchte an Weihnachten zu denken. Aber das graue Gesicht verfolgte mich. Es murmelte, und ich begriff, dass es etwas beichten wollte. Ich fühlte, wie sich meine Seele in eine angenehme und böse Region zurückzog, und auch dort wartete es schon auf mich. Es begann, mir mit murmelnder Stimme zu beichten, und ich überlegte, warum es wohl andauernd lächelte und warum die Lippen so feucht von Speichel waren. Dann fiel mir ein, dass es an Paralyse gestorben war, und ich merkte, dass auch ich schwach lächelte, als wollte ich den Simonisten von seiner Sünde lossprechen.
Am nächsten Morgen nach dem Frühstück ging ich hin, um mir das kleine Haus unten in der Great Britain Street anzusehen. Es war ein bescheidener Laden, der unter der verschwommenen Bezeichnung Tuchwaren geführt wurde. Die Tuchwaren bestanden hauptsächlich aus wollenen Kinderschühchen und Schirmen, und an gewöhnlichen Tagen hing immer ein Schild im Fenster mit der Aufschrift Neubespannung von Schirmen. Jetzt war kein Schild zu sehen, denn die Fensterläden waren angebracht. Ein Trauerbukett war mit Bändern am Türklopfer befestigt. Zwei arme Frauen und ein Telegrammbote lasen gerade die Karte, die an das Bukett geheftet war. Ich ging auch hin und las:
l. Juli 1895
Pfarrer James Flynn
(vormals S. Catherine’s Church, Meath Street),
im Alter von 65 Jahren.
R.I.P.
Das Lesen dieser Karte überzeugte mich davon, dass er tot war, und ich war verstört, weil ich mich damit zufriedengab. Wäre er nicht tot gewesen, wäre ich in das dunkle kleine Zimmer hinter dem Laden gegangen, wo ich ihn in seinem Sessel am Kaminfeuer gefunden hätte, halb versunken in seinem Überzieher. Vielleicht hätte mir meine Tante ein Päckchen High Toast für ihn mitgegeben, und dieses Geschenk hätte ihn aus seinem wie betäubten Dahindämmern aufgeweckt. Immer war ich es, der das Päckchen in seine schwarze Schnupftabaksdose entleerte, denn seine Hände zitterten zu sehr, um dies tun zu können, ohne die Hälfte des Schnupftabaks auf den Boden zu schütten. Selbst wenn er seine große zitternde Hand zur Nase hob, rieselten Wölkchen von Tabak zwischen seinen Fingern hindurch auf seinen Rock. Er war vielleicht dieser fortwährende Schnupftabaksregen, der seinem alten Priesterrock sein grünlich verschossenes Aussehen verlieh, denn das rote Taschentuch, immer geschwärzt von den Tabakflecken einer ganzen Woche, mit dem er die herabgefallenen Krümel wegzuwischen versuchte, war völlig wirkungslos.
Ich wäre gern hineingegangen, um ihn zu sehen, aber ich hatte nicht den Mut anzuklopfen. Langsam ging ich auf der sonnigen Seite der Straße davon und las im Vorbeigehen alle Theateranzeigen in den Schaufenstern. Ich fand es befremdlich, dass weder ich noch der Tag in Trauerstimmung waren, und ich war sogar verärgert, ein Gefühl der Freiheit in mir zu entdecken, als hätte mich sein Tod von etwas befreit. Ich grübelte darüber, denn er hatte mir, wie mein Onkel am Abend zuvor gesagt hatte, eine Menge beigebracht. Er hatte am Irischen Kolleg in Rom studiert und mir beigebracht, das Lateinische richtig auszusprechen. Er hatte mir Geschichten über die Katakomben und über Napoleon Bonaparte erzählt, er hatte mir die Bedeutung der verschiedenen Zeremonien während der Messe erklärt und die der verschiedenen Gewänder, die der Priester trägt. Manchmal hatte er sich einen Spaß daraus gemacht, mir schwierige Fragen zu stellen, zum Beispiel, wie man sich unter bestimmten Umständen zu verhalten habe oder ob es sich bei dieser oder jener Sünde um eine Todsünde oder eine lässliche Sünde oder nur um eine menschliche Verfehlung handele. Seine Fragen machten mir klar, wie komplex und geheimnisvoll gewisse kirchliche Bräuche waren, die ich bis dahin für ganz einfache Handlungen gehalten hatte. Die Pflichten des Priesters gegenüber der Eucharistie und gegenüber dem Beichtgeheimnis* erschienen mir so schwerwiegend, dass ich mich fragte, wie jemand den Mut aufbringen konnte, sie auf sich zu nehmen; und es überraschte mich nicht, als er mir sagte, die Kirchenväter hätten Bücher geschrieben, so dick wie das städtische Adressbuch und so eng gedruckt wie die Gerichtsmitteilungen in der Zeitung, in denen sie all diese verwickelten Fragen erörterten. Oftmals, wenn ich daran dachte, brachte ich entweder gar keine oder nur eine ganz dumme und zögernde Antwort zustande, worauf er für gewöhnlich lächelte und zwei- oder dreimal nickte. Manchmal ging er die Antworten in der Messe mit mir durch, die er mich hatte auswendig lernen lassen; und während ich sie hersagte, lächelte er versonnen und nickte, und von Zeit zu Zeit schob er eine riesige Prise Schnupftabak abwechselnd in jedes Nasenloch. Beim Lächeln entblößte er seine großen, verfärbten Zähne und ließ die Zunge auf der Unterlippe liegen – eine Angewohnheit, die mir...