Kamler | Überleben in den Todeszonen | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 397 Seiten

Kamler Überleben in den Todeszonen

Meine Grenzerfahrungen als Expeditionsarzt
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-8387-4709-5
Verlag: Bastei Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection

Meine Grenzerfahrungen als Expeditionsarzt

E-Book, Deutsch, 397 Seiten

ISBN: 978-3-8387-4709-5
Verlag: Bastei Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection



Auf zahllosen Expeditionen machte Kenneth Kamler - einer der gefragtesten Expeditionsärzte und medizinischer Berater der NASA - die Erfahrung, dass in uns unglaubliche Fähigkeiten schlummern, dem scheinbar sicheren Tod zu entkommen. Aber warum gelingt das nicht jedem und nicht immer? Der Expeditionsarzt Kenneth Kamler hat sein Leben der Erforschung dieser geheimnisvollen, psychologisch-medizinischen Kräfte gewidmet. Daraus entstand dieses E-Book, das den Leser auf abenteuerliche Expeditionen mitnimmt, wo nie eine Filmkamera hinkommen wird, und ihm die Zerbrechlichkeit des Menschen als auch seine außergewöhnlichen Möglichkeiten packend vor Augen führt.

Kamler Überleben in den Todeszonen jetzt bestellen!

Weitere Infos & Material


IN EXTREMIS
Wenn der Gesang aufhört, wird mein Patient sterben. Da war ich mir sicher. So sicher, wie man in einem eisigen Zelt auf dem höchsten Berg der Erde und bei der Hälfte der normalen Atemluft nur sein konnte. Pasang hätte schon vor Stunden sterben müssen. Er lag in einem Schlafsack auf einer improvisierten Bahre – einem Haufen Steine, die wir so gleichmäßig wie möglich zu einer Plattform aufgestapelt hatten. Die Hohlräume zwischen den Steinen waren zum Teil voll gefrorenem Urin, denn Pasang war inkontinent geworden, bevor ich einen Katheter in seine Blase einführen konnte. Die Propangaslampe, die das Zelt beleuchtete, warf einen ungesunden gelben Schimmer auf sein aufgedunsenes Gesicht mit den großen blauen Flecken. Seine Augen waren zugeschwollen. Ich hatte schon gesündere Patienten in guten Intensivstationen schneller sterben sehen. Um die steinerne Plattform hatten sich Sherpas versammelt, Bergmenschen wie Pasang, die für ihn beteten. Obwohl sie mit weit offenen Augen in seine Richtung blickten, nahmen sie ihn anscheinend nicht wahr. Ihre Lippen bewegten sich zu einem monotonen Sprechgesang, der tief aus ihrem Inneren aufstieg – so als gäben sie sich diesen Klängen nur hin, anstatt sie hervorzubringen. Draußen war noch mehr Gesang zu hören, ein körperloser Chor aus den anderen Zelten des Camps, in denen weitere Sherpas Krankenwache hielten. In der tiefen Stille der Nacht war die Wirkung des Gesangs gewaltig, urtümlich und betäubend: ein körperlich empfundenes, tiefes Schwingen, das aus dem Berg selbst aufzusteigen schien. Pasang war beim Überqueren einer Aluminiumleiter, die waagerecht über einer Gletscherspalte lag, ausgerutscht, 24 Meter tief gestürzt und – mit dem Kopf voran – in dem sich verjüngenden Hohlraum stecken geblieben. Ein Team aus spanischen und nepalesischen Bergsteigern hatte ihm so rasch wie möglich ein Seil um die Hüfte gebunden und ihn wieder an die Oberfläche gehievt. Dennoch hatte er eine knappe halbe Stunde kopfüber zwischen den Eiswänden gesteckt. Die Bergsteiger funkten mich im Basislager an, um mir von dem Unfall zu berichten und meinen Rat einzuholen, aber im Gegensprechverkehr sind Diagnosen und Behandlungsanweisungen schwierig. Der vorläufige Bericht erreichte mich in Form abgehackter Sätze, die aufgeregte Bergsteiger mit starkem Akzent in schwache Funkgeräte riefen. Ich hatte nicht viele Anhaltspunkte und wusste nicht genau, worauf ich mich vorbereiten musste. Mit dem Funkgerät in der Hand trat ich aus meinem Zelt in die Minusgrade hinaus. Auf halber Höhe des enormen, 600 Meter hohen erstarrten Wasserfalls aus Eis und Schnee, der das majestätische und Ehrfurcht gebietende Eingangstor zum Mount Everest bildet, entdeckte ich eine Ansammlung beweglicher schwarzer Punkte vor dem eisig weißen Hintergrund. Trotz der atmosphärischen Störungen verstand ich, dass Pasang aus der Nase blutete, aber bei Bewusstsein war und sogar laufen konnte. Sie wollten ihn zu mir ins Basislager bringen. Die fernen Punkte setzten sich in Marsch und zeichneten langsam die Konturen jeder der riesigen Eisformationen auf dem Hang nach, die sie während ihres Abstiegs überwinden mussten. Dann hielten sie an. Das Funkgerät knisterte wieder. Pasang war ins Stolpern geraten und dann zusammengebrochen. Jetzt war er bewusstlos. Sie versuchten, ihn auf eine Aluminiumleiter zu schnallen. Ihn auf dieser improvisierten Bahre zu mir zu schaffen würde lange dauern und mühsam werden: Schwierige Abseilaktionen und gewaltige Kraftakte waren da nötig. Es würden etliche Stunden vergehen, bis sie bei mir wären. Viel Zeit, über die Behandlung nachzudenken. Was ich von Pasang wusste, war allerdings dürftig und meine Diagnose deshalb unsicher. Ein solcher Sturz, bei dem man mit dem Kopf aufschlägt und dann bewusstlos wird, endet meistens mit dem Tod – selbst wenn er sich zufällig in einer der gut ausgestatteten Unfallstationen ereignet hätte, in denen ich in New York City gearbeitet hatte. Ich aber war im Basislager auf dem Mount Everest, 5352 Meter über dem Meeresspiegel, und zwischen mir und dem nächsten Krankenhaus lag einer der abgeschiedensten und unwirtlichsten Landstriche, die man auf Erden finden kann. Eine Evakuierung auf dem Luftweg hing einmal vom Wetter ab, das normalerweise miserabel war. Dann vom Zustand des Hubschraubers, der oft mangels Ersatzteilen nicht abheben konnte. Und drittens vom Piloten, der häufig unterwegs war. Wenn Pasang es bis ins Basislager schaffte, würde ich alles Menschenmögliche tun, um ihn am Leben zu halten, bis er ausgeflogen werden konnte. Ob ich seine Überlebenschancen verbessern konnte, war jedoch völlig unsicher. Schwere Kopfverletzungen fürchtete ich von allen Unfällen am meisten, weil ich bei ihnen am wenigsten tun konnte. Das Gehirn ist höchst empfindlich. Nicht umsonst ist dieses lebenswichtigste Organ von einem soliden Panzer umhüllt. Der Schädel schützt das Gehirn ganz hervorragend gegen alle möglichen Erschütterungen und hält mit etwas Glück sogar dem Schlag einer Bärentatze stand. Aber einem 24-Meter-Kopfsturz in eine Gletscherspalte ist selbst der dickste Schädel nicht gewachsen. Pasang hatte höchstwahrscheinlich einen Schädelbruch erlitten. Das Nasenbluten rührte vermutlich von diesem Knochenbruch her. In solchen Fällen ist aber nicht der Bruch selbst das Schlimmste. Solange die Bruchstücke nicht nach innen getrieben werden, fängt der brechende Knochen den Stoß auf, und das Gehirn bleibt heil. Bei vielen tödlichen Schädelverletzungen findet man nicht einmal Knochenbrüche. Pasang hatte wohl einen Bruch erlitten, aber seine Symptome deuteten auf eine Verletzung hin, die noch kniffliger und gefährlicher war. Schädel haben Nachteile. Selbst wenn der Knochen durch einen Schlag auf den Kopf nicht bricht, können die Blutgefäße zerreißen, die sich um das Gehirn winden. Das ausströmende Blut kann durch den undurchlässigen Schädel nicht nach außen entweichen und sammelt sich im Inneren. Da die feste äußere Hirnhaut, die an der Innenseite des Schädels anliegt, nicht nachgibt, presst das Blut das viel weichere Hirngewebe zusammen und bildet einen Bluterguss unter der äußeren Hirnhaut. Üblicherweise zeigt sich in diesem Fall eine vorübergehende Erholung unmittelbar nach dem Aufprall – ganz wie bei Pasang, der zunächst noch selbst hatte laufen können. Unterdessen strömt weiter Blut in die beengte Schädelhöhle, bis der Druck erst Koordinationsschwierigkeiten und dann Bewusstlosigkeit auslöst, genau wie bei Pasang. Wenn das Gehirn weiter zusammengequetscht wird, kommen schließlich die lebenserhaltenden Hirnfunktionen zum Erliegen, auch wenn nur relativ wenig Blut aus den Adern austritt – und der Patient stirbt. Wie Pasang? Pasang kam lebend bei mir an, wenn man das so nennen will, und jetzt sah ich ihm beim Sterben zu. Der gnadenlose Druck im Gehirn wirkte sich bereits auf die elementarsten Regelkreise aus, die die Atmung und den Herzschlag steuern. Wenn sich die Atemfrequenz und der Puls verlangsamen, gelangt weniger Sauerstoff ins Gehirn. Das unterversorgte Gewebe schwillt an und nimmt noch mehr Raum ein, was wiederum den Druck erhöht. Pasangs Körper stand kurz vor einem Systemzusammenbruch, der bei einer solchen Entgleisung der körpereigenen Regelkreisläufe unausweichlich ist. Pasang glitt ins Jenseits hinüber, aber der hypnotische Gesang, der uns beide einhüllte, versetzte mich in eine seltsam ruhige und friedliche Stimmung. Ich fühlte mich, wie sich ein Ertrinkender fühlen muss, wenn sein Körper im kalten Wasser schließlich leicht und warm zu werden scheint. Mechanisch, ja fast verträumt, führte ich Pasang durch eine Atemmaske Sauerstoff zu und durch eine intravenöse Infusion Flüssigkeit. Ich war mir nicht einmal bewusst, dass ich den Infusionsbeutel gewechselt hatte, bis ich den neuen über ihm hängen sah. Meine Bemühungen schienen nicht viel zu fruchten. Mit den Fingerspitzen ertastete ich an seinem Handgelenk einen flachen, unregelmäßigen Puls, der nicht mit dem Rhythmus des Gesangs harmonierte. Ich war mir sicher, dass der monotone Klang an die Ohren meines Patienten drang, und fragte mich, welche Auswirkungen er wohl auf sein Gehirn haben mochte. Hatten die Sherpas im Laufe der Jahrhunderte womöglich durch natürliche Auslese, Ausprobieren und glückliche Zufälle eine Methode entdeckt, die Tonhöhe ihres Gesangs an die natürliche Frequenz anzupassen, die durch die Schwingung ihrer Hirnwellen erzeugt wird? Dann wären sie in der Lage, einen Resonanzeffekt zu erzielen, bei dem sich die Eigenschwingung eines Objekts durch eine Frequenz von außen verstärkt, bis der Effekt viel größer ist als der Auslöserreiz. Die beiden aufeinander abgestimmten Schwingungen (Gesang und Gehirnwellen) würden sich zu einer größeren Schwingung aufschaukeln – wie zwei kleine Wellen, die sich treffen und zu einer großen werden. Der Effekt könnte sogar stark genug sein, um einen Systemzusammenbruch zu verhindern. Ich habe gelernt, solche Möglichkeiten nicht vorschnell auszuschließen. Während meines Medizinstudiums hat mir niemand die richtige Mischung aus Sauerstoff, physiologischer Kochsalzlösung und tibetischen Gesängen beigebracht, mit der man auf einem fünf Kilometer hohen Gletscher bei Temperaturen unter null einen Bluterguss unter der äußeren Hirnhaut behandeln sollte. Auch bei meiner Arbeit in New York, wo ich mich auf die Mikrochirurgie der Hand spezialisiert habe, werde ich nicht so häufig mit diesem Problem konfrontiert. Ich habe diese Lehre aus eigenen Erfahrungen und denen meiner Kollegen gezogen, die – ebenso wie ich – unter allen möglichen und unmöglichen Umständen Patienten behandeln mussten: im Urwald, in der Wüste,...



Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.