Keller Übers Meer
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-85869-566-6
Verlag: Rotpunktverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Roman
E-Book, Deutsch, 304 Seiten
ISBN: 978-3-85869-566-6
Verlag: Rotpunktverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Ein Gegenwartsroman im besten Sinn des Wortes: kunstvoll verflochtene Geschichten über Revolten, biografische Brüche, Migration und die Liebe um die Jahrtausendwende.
Das Jahr 1980. Eine Gruppe von jungen Leuten besetzt eine Villa und erfindet die Gesellschaft neu. Ihre Aktionen werden immer gewagter und gipfeln in der Forderung nach freier Sicht aufs Mittelmeer. Inmitten dieses Aufbruchs verliebt sich Astèr in Claude.
Das Jahr 2002. Astèr sitzt in ihrer New Yorker Wohnung und sucht in ihrem leeren Gedächtnis nach Antworten. Warum ist sie nach Djerba gereist, um auf Claude zu warten? Was ist passiert nach der Explosion in der Synagoge von Houmt Souk, die eine Lücke in ihr Hirn gerissen hat? Was ist dem Fahrer zugestoßen, der ihr stundenlang von seiner Insel erzählte? Wohin sind Claude und sein Segelboot von dem Sturm getrieben worden, der in diesen Tagen über dem Meer wütete? Und was wollte Claude eigentlich damals, vor zweiundzwanzig Jahren, in der Villa?
Geschickt kreuzt Christoph Keller in seinem Roman die Geschichte von Claude und Astèr mit den Bekenntnissen eines tunesischen Taxifahrers, der seinem Umfeld entkommen will, und dem Schicksal eines Flüchtlings aus Mali, der in einem verwüsteten Segelboot auf Lampedusa strandet. Dabei entsteht ein vielschichtiges erzählerisches Mosaik des Mittelmeers als Raum von Such- und Fluchtbewegungen, als Schmelztiegel afrikanisch-europäischer Geschichte und Geschichten.
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BROOKLYN, ANFANG MAI Ein halber Mond in meinem Hirn, vorderer rechter Frontallappen. Ich habe ihn gesehen, mehrfach gedreht und gespiegelt, auf Röntgenbildern und auf den Bildschirmen der Computertomografen, ein kleiner, geriffelter Splitter. Ein gezackter, hälftiger Mond ist in meinem Hirn zu Gast, sage ich im Scherz, aber das kommt selten vor, weil ich in diesen Tagen kaum jemanden sehe, der mich fragen würde, was mir widerfahren ist. Dennoch habe ich mir das vorgenommen, wie für den Fall, dass man mich trotzdem fragt, und da werde ich unverbindlich bleiben und sagen, auf unbeholfene Art witzig, mir sei ein Mond zugestürzt, hälftig und gezackt, wie ein Meteorit aus heiterem Himmel. Er hat ein Loch gerissen, einen Krater. Im New York Presbyterian Hospital, im Metropolitan Hospital Center, im Mount Sinai Hospital, in all diesen Krankenhäusern haben sie meinen Splitter betrachtet, die Ärzte der neurologischen Abteilungen, während ich im Koma lag, im künstlichen zuletzt. Meinen halben Zackenmond, rechter Frontallappen, ein mittlerer Radius von fünfkommazweidrei Zentimeter, exakt zweikommaviereins Millimeter dick, vierkommadreivier Zentimeter lang, an der breitesten Seite einskommaneunzwei Zentimeter. Seine leicht gerundete Rückseite eher glatt, so zeigen es die geschichteten Bildfolgen der Tomografen, vielleicht mit Farbe beschichtet, sie wissen es nicht genau, meine Ärzte. Sie standen an meinem Bett, als ich endlich das Bewusstsein wiedererlangte, schemenhafte Figuren, zu viert, zu sechst, die auf meine Fragen wortreiche, aber nichtssagende Antworten gaben, erleichtert erst einmal, dass ihre Patientin sprechen konnte, dass sie orientiert war, wie man sagt, dass sie ihren Namen wusste. Noch sei man nicht in der Lage, die Materialbeschaffenheit von Gegenständen, die ins Hirn gedrungen sind, genauer zu bestimmen, sagten mir die Ärzte, aber immerhin könne man mir sagen, dass der Splitter eine Dicke von exakt zweikommaviereins Millimeter habe. Diese Zahl erfuhr ich, nachdem ich wieder mal, auf einer Bahre festgezurrt, in eine Röhre geschoben wurde, eingespannt in Apparaturen, die meinen Schädel starr und mit spitzem Gestänge in einer Position hielten, während ein schwarzes, glänzendes Ding an meiner Seite gefährlich brummende Töne abgab. Und bald darauf bemerkte jemand, eine Krankenschwester, die in einem Rapport blätterte, diese zweikommaviereins Millimeter entsprächen genau der Normdicke einer herkömmlichen Gasflasche. Ich notiere: Doktor Karl Lackner, Mount Sinai Hospital, sechste Etage. Letzte Konsultation am dritten Mai, morgens um neun. Das Wetter an jenem Tag windig und kühl. Das Taxi nahm ich Ecke Prospect Place und Washington Avenue. Karl Lackner hat blaue Augen und ein Muttermal über der Augenbraue rechts. Seine Sekretärin, mit der ich die Termine vereinbare, heißt Loana. Ich sitze heute am Fenster, sitze in diesem Sessel, der mich ein halbes Leben schon begleitet, mein Fenster geht zum Innenhof, unter dem Himmel fliegen die Flugzeuge an, die Flügel schwankend, sie schleppen ein Fauchen hinter sich her. In meinem Sessel sitze ich, die Hände auf den Oberschenkeln, blicke hinaus und klopfe die Bruchstücke meiner Erinnerung ab, halte sie fest, prüfe ihre Festigkeit, reihe Teil an Teil, kontrolliere, ob sich daraus ein Sinn ergibt. Seit Tagen sitze ich schon hier, stelle mir zwischendurch überraschende Aufgaben, teste mein Kurzzeitgedächtnis, frage, welche Schlagzeile stand heute früh auf der Frontseite der New York Times, BUSH INTENDING TO GO TO WAR IN IRAQ, und wer hat den Kommentar geschrieben auf Seite dreiundzwanzig, Nicholas D. Kristof. Frage mich auch, wie hat mein Lehrer geheißen in der Primarschule, und wie hießen die anderen in meiner Klasse. Oder ich prüfe meine sprachlichen Fähigkeiten, übersetze simultan die Nachrichten auf CNN: Evidence of weapons of mass destruction found to be proof … und ich übersetze: El presidente George Bush, en su mensaje emitido desde la Casa Blanca, ha repetido su determinación de perseguir cualquier sujeto susceptible de tener contactos con terroristas. Im schlimmsten Fall, es kann irgendwann im Laufe des Tages sein oder mitten in der Nacht, überfallen mich Angstzustände, Anflüge von Panik, ich spüre kalten Schweiß auf meiner Stirn, nachgebende Knie, und dann muss ich Paco anrufen. – Paco, flüstere ich ins Telefon, Paco, frag mich irgendwas. Und Paco, bei ihrer Arbeit tief unten, in den Eingeweiden der Stadt, vielleicht auf der Höhe der Chambers Street oder der Haltestelle City Hall auf der Linie J drüben in Manhattan, oder ist sie heute bei der Clark Street, die Linien 2 und 3 auf unserer Seite, in Brooklyn. Paco, aus ihrer Arbeit herausgerissen, noch die Schutzmaske auf, in jeder Hand eine verklebte Spraydose, ihr Handy zwischen Ohr und Schulter geklemmt, sie fragt mich: – Who was the first president of the United States? How many kilometers is one nautical mile? Meine Antworten sind immer richtig, aber das beruhigt mich nicht. – Paco, ask me please, frage mich, wie meine Mutter heißt. – Wie heißt deine Mutter, Astèr? – Ingrid. – Geboren am? – Geboren am 23. März 1937. – Gut. Ich nehme meinen Mut zusammen und stelle die Frage, immer dieselbe, selbst in Pacos wachsenden Unmut hinein, der rauschenden, immer wieder abbrechenden Verbindung zum Trotz. Meine Frage, in den tosenden Lärm einer vorbeibrausenden Bahn hineingebrüllt, ins Gekreische von Rädern in einer Kurve, oder auch ganz leise gestellt, wenn es für einmal still ist in Pacos Tunnel: – Paco, frag mich, was geschehen ist in Djerba. – What happened in Djerba, Astèr? – Ich habe keine Erinnerung daran, keine. – Warum bist du nach Djerba gefahren? Niemals versuche ich zu schummeln bei diesem ernsten Spiel von Frage und Antwort, und ich lote, den Hörer ans Ohr gepresst, die Grenzregionen meiner Erinnerung aus. Wie eine Blinde im Dunkeln, die Hände vorgestreckt, taste ich nach den Restbrocken von Bildern und Geschichten, sitze in meinem Sessel im hinteren Zimmer am Fenster, den Blick über die Häuser von Brooklyn, über die verwilderten Gärten der Nachbarschaft, über die geschichteten Dächer der St. Marks Avenue, dahinter der erste Pfeiler der Brooklyn Bridge, und irgendwo diese Lücke in der Skyline von Manhattan. Zu meinen Füßen Berge von Papier, viele Kartenausschnitte, die Insel Djerba in allen Windrichtungen, die Ferienbilder vieler Familien aus Ferienkatalogen. Aber mein Blick an diesem Tag, heute, geht einzig auf die Flugzeuge, die auf ihrem Landeanflug im Takt von Minuten über die Dächer hinwegschweben, zitternde Vögel, und ich geleite jeden einzelnen zu Boden, wie ein stiller Lotse. Ich lüge nicht, wenn ich zu Paco sage: »Ich weiß, was sich ereignet hat, I know exactly what happened, aber ich kann es nicht erzählen.« Ich habe aufgehört, mich im Spiegel zu betrachten, die schmale Wunde an meinem Schädel rechts ist unter dem nachwachsenden Haar verschwunden, ich spüre sie nicht mehr. Aber ich kann schildern, was in dieser Region meines Hirns, in der jetzt ein Splitter, eine schmale Sichel steckt, als Text niedergeschrieben werden muss. Die Bilder habe ich mir notdürftig zusammengesetzt, wie ein Puzzle anhand von Zeitungsausschnitten, mit Zeitreisen durch das World Wide Web, wäre sogar in der Lage zu erzählen, Stunde für Stunde, Minute für Minute, was den Menschen an jenem Tag widerfahren ist auf der Insel Djerba, alles nachvollziehbar. Aber ich komme darin nicht vor. Als würde ich ein Zimmer ohne Wände mit zugetragenen Satzfetzen tapezieren, sage ich zu Paco und schäme mich für das erbärmliche Bild, oder als ob ich eingesperrt wäre in einer Kapsel und durch die Zeit rauschte, und draußen ist irgendwas, aber ich ahne es nur. Solche Dinge sage ich Paco, wenn sie nach Hause kommt mit ihrer Tasche voller Spraydosen, ihr blauer Overall über und über bekleckert mit den Farben des Mural, an dem sie gerade arbeitet, am Hosenbein die Reste einer schnell abgestreiften Dose, im Haar hat sie den feinen Hauch der vernebelten Farben, und den Ruß und den Schmutz aus den Tiefen der Stadt im Gesicht. Paco, die hereinkommt, einen kurzen Blick wirft auf das Meer der Papiere rund um meinen Sessel. Es soll kein prüfender Blick sein, wenn sie in der Türe steht, die Tasche zu Boden gleiten lässt, ihre Turnschlappen abstreift und wortlos zu mir ans Fenster tritt, es geht auch nicht um Tadel. Eher um Rücksicht, glaube ich, denn sie tritt von hinten an mich heran, raschelnde Schritte, hält ihre rauen Hände beide an meine Wangen, ihre harten Kuppen und die weichen, schmiegsamen Vertiefungen, und ich atme den Geruch von Ruß und Farbe und...