E-Book, Deutsch, Band 6406, 314 Seiten
Reihe: Beck Paperback
Koopmans Das verfallene Haus des Islam
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-406-77947-3
Verlag: C.H.Beck
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die religiösen Ursachen von Unfreiheit, Stagnation und Gewalt
E-Book, Deutsch, Band 6406, 314 Seiten
Reihe: Beck Paperback
ISBN: 978-3-406-77947-3
Verlag: C.H.Beck
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Das "Haus des Islam" ist vielerorts zum Haus von Krieg, Terror, wirtschaftlicher Stagnation und Diktatur geworden. In seiner bahnbrechenden Analyse dieser desolaten Lage setzt der renommierte Sozialwissenschaftler Ruud Koopmans harte Fakten gegen islamkritische Pauschalurteile und eine modische Selbstkritik des Westens. Er zeigt, wie der Fundamentalismus den Islam weltweit in den Würgegriff nimmt, und fragt, welche Wege aus dieser Sackgasse führen.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Politische Gewalt Terrorismus, Religiöser Fundamentalismus
- Geisteswissenschaften Islam & Islamische Studien Islamismus, Fundamentalismus
- Geisteswissenschaften Islam & Islamische Studien Der Islam und die Moderne (Westliche) Welt
- Geisteswissenschaften Islam & Islamische Studien Geschichte des Islam Geschichte des Islam: 20./21. Jahrhundert
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Politische Ideologien Theokratische und religiöse Ideologien
- Geisteswissenschaften Islam & Islamische Studien Islam und Weltreligionen, Weltethos
Weitere Infos & Material
1. Im Bann des Fundamentalismus
Vergangener Ruhm
Während Europa nach dem Zusammenbruch des Römischen Reiches stagnierte, erlebte die islamische Welt einen beispiellosen Aufschwung. In etwas mehr als einem Jahrhundert nach dem Tod des Propheten Mohammed im Jahr 632 eroberten die muslimischen Armeen des Kalifats der Umayyaden ein Gebiet, das sich von der Iberischen Halbinsel im Westen bis nach Pakistan im Osten erstreckte. Als 1492 mit Granada im Westen die letzte islamische Hochburg in Spanien fiel, waren die türkischen Osmanen im östlichen Mittelmeer und in der islamischen Welt zur dominierenden Macht geworden. 1453 hatten sie Konstantinopel, die Hauptstadt des Byzantinischen Reiches und nach Rom die wichtigste Stadt des Christentums, erobert. In den folgenden Jahrhunderten nahmen sie große Teile des Balkans und der Schwarzmeerregion ein und belagerten zweimal Wien (1529 und 1683). Nicht nur militärisch, sondern auch wirtschaftlich und auf dem Gebiet der Wissenschaft blieb die muslimische Welt in den ersten Jahrhunderten ihrer Existenz keineswegs hinter dem Westen zurück. Im Gegenteil, es waren islamische Gelehrte in Städten wie Córdoba, Alexandria und Bagdad, die einen großen Teil des Wissens der griechischen und römischen Antike für die Nachwelt bewahrten und unter anderem wichtige Grundlagen für die moderne Medizin und Mathematik legten.[1] Da es für die damalige Zeit keine Wirtschaftsstatistiken gibt, gilt der Urbanisierungsgrad als der beste Indikator für die wirtschaftliche Entwicklung. Städte können nur wachsen, wenn auf dem Land ein wirtschaftlicher Überschuss produziert wird, mit dem die städtische Bevölkerung und zentrale politische und militärische Institutionen ernährt und finanziert werden können. Darüber hinaus sind Städte ein Maß dafür, inwieweit Handel betrieben wurde.[2] Nach diesem Standard war die islamische Welt dem christlichen Europa um das Jahr 800 weit voraus. Bagdad, die Hauptstadt des Abbasidenkalifats, war mit Abstand die größte Stadt Europas, Nordafrikas und des Nahen Ostens, und von den acht größten Städten in diesem Gebiet lagen sieben im islamischen Einflussbereich – nur Konstantinopel konnte in der Größe mit den islamischen Metropolen konkurrieren. Danach deutet aber alles auf einen stetigen wirtschaftlichen Niedergang der islamischen Welt hin: Während im Jahr 800 zwölf der zwanzig größten Städte islamisch waren, galt dies 1300 nur für acht und 1800 für drei (Kairo, Tunis und Istanbul). Der wirtschaftliche Schwerpunkt hatte sich zunächst nach Italien und dann nach Nordwesteuropa verlagert.[3] Mit der Industriellen Revolution distanzierte sich Westeuropa weiter vom Osmanischen Reich, das im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts immer weiter schrumpfte und nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg völlig auseinanderfiel. Große Teile der islamischen Welt standen nun unter westlicher Kolonialherrschaft. Die Franzosen kontrollierten Nord- und Westafrika, Syrien und den Libanon, die Briten Ägypten, den Irak, Palästina, den Jemen, Malaysia, das heutige Pakistan und Bangladesch, und die Niederlande mit Indonesien das bevölkerungsreichste islamische Land. Von dem riesigen Osmanischen Reich blieb nur die heutige Türkei übrig. Wie konnte eine Zivilisation, die in den ersten Jahrhunderten ihrer Existenz so fortschrittlich war, so weit zurückfallen? Die anfängliche Blüte der islamischen Welt und ihr damaliger Vorsprung vor dem Westen werden oft als Argument angeführt, warum die Ursachen für die spätere Krise der islamischen Welt nicht religiöser Natur sein können. Denn sonst hätte die islamische Welt anfänglich nicht so erfolgreich sein können. Das mag auf den ersten Blick überzeugend klingen, übersieht aber die Tatsache, dass Ideologien und soziale Institutionen, die in einem bestimmten weltgeschichtlichen Kontext effizient und vielleicht sogar fortschrittlich waren, dies nur bleiben können, wenn sie auch die Fähigkeit haben, sich an veränderte Bedingungen anzupassen. Nehmen wir das Beispiel des sowjetischen kommunistischen Gesellschaftssystems. Unter der Führung von Lenin und Stalin schien die Sowjetunion jahrzehntelang ein Erfolgsmodell zu sein, das höhere Wachstumsraten aufwies als die westlichen kapitalistischen Volkswirtschaften, das Nazideutschland in die Knie zwang und Osteuropa in seinen Einflussbereich brachte. Nach dem Zweiten Weltkrieg übertraf das Land für einige Zeit den Westen auch technologisch und schickte als erstes einen Satelliten (den Sputnik) und einen Menschen (Juri Gagarin) ins All. Aber trotz dieses anfänglichen Erfolgs war die zentral verwaltete Planwirtschaft auch die Ursache für den späteren Niedergang der kommunistischen Wirtschaft. Die Planwirtschaft war kurzfristig in der Lage, die Industrialisierung der Sowjetunion schneller voranzutreiben, als es unter einer kapitalistischen Marktwirtschaft möglich gewesen wäre, aber das starre, hierarchische System war später nicht in der Lage, auf sich ändernde Umstände der Weltwirtschaft adäquat zu reagieren. Ökonomen sprechen in diesem Zusammenhang von der Differenz zwischen «statischer Effizienz» – einem Organisations- oder Gesellschaftsmodell, das im Kontext eines bestimmten Ortes und einer bestimmten Zeit funktioniert – und «dynamischer Effizienz» – einem Modell, das sich erfolgreich an veränderte Bedingungen anpassen kann.[4] Dynamisch effiziente Systeme bieten nicht immer die effizienteste Lösung zu einem bestimmten Zeitpunkt – zum Beispiel dauert die Entscheidungsfindung in einer Demokratie länger als in einer Diktatur –, aber auf Dauer werden sie statisch effiziente Systeme hinter sich lassen. Längerfristig sind individuelle Kreativität, Wettbewerb und Wahlfreiheit von großer Bedeutung für die technologische Innovation, und bei deren Abwesenheit stagnierten die zunächst so erfolgreich erscheinenden kommunistischen Volkswirtschaften. So blieben der Trabant und der Lada technologisch in den 1950er-Jahren stecken, während sich der Rest der Welt – nicht nur in der Automobilindustrie – weiterentwickelte. Mit dem Übergang von der Industrie- zur Dienstleistungswirtschaft wussten die kommunistischen Planer noch weniger anzufangen. Michail Gorbatschow versuchte, das System mit Glasnost und Perestroika dynamischer zu machen, aber da war es bereits zu spät. Der zeitgenössische Islam ist der Trabant, oder, respektvoller gesagt, der Sputnik unter den Weltreligionen: eine gute und erfolgreiche Idee zum Zeitpunkt seiner Lancierung, die aber inzwischen aus Mangel an Anpassungsfähigkeit hoffnungslos zurückgefallen ist. In seinen frühen Tagen brachte der Islam eine Reihe von Vorteilen mit sich, die ihn positiv vom damaligen christlichen Westen unterschieden. Durch die Bekehrung zum Islam konnten unterworfene Völker gleichberechtigte Bürger werden, Christen und Juden hatten zwar einen Status zweiter Klasse, aber genossen immerhin wichtige Rechte und Freiheiten, von denen Muslime und Juden in der christlichen Welt nur träumen konnten. Man denke zum Beispiel an den Kontrast zwischen dem für damalige Verhältnisse religiös toleranten islamischen Al-Andalus und der anschließenden spanischen Inquisition, die allen Juden und Muslimen, auch den zum Christentum übergetretenen, nur die Wahl zwischen Verbannung und Scheiterhaufen ließ. Heute sind wir es gewohnt, dass Menschen aus dem Nahen Osten nach Europa fliehen, aber bis zum siebzehnten Jahrhundert ging der Flüchtlingsstrom in die andere Richtung: Christliche Gruppen, die in Europa als Ketzer galten, und Juden suchten im Osmanischen Reich Zuflucht.[5] Trotz aller Beschwörung der sogenannten «jüdisch-christlichen Zivilisation» ist es eine ziemlich neue Entwicklung, dass es den Juden im Westen besser geht als in der islamischen Welt. In der islamischen Welt diente die arabische Sprache als Lingua franca und als Schmiermittel für den Fernhandel. Die Scharia, die wir heute als archaisch betrachten, bot in den Anfängen des Islam ein Maß an Rechtssicherheit in Verwaltung, Wirtschaft und Gesellschaft, wie es in der vorislamischen arabischen Welt und in weiten Teilen der damaligen christlichen Welt kaum zu finden war. Selbst für Frauen war die Scharia damals oft besser als die ihnen bekannten Alternativen. Durch sie hatten Frauen in weiten Teilen der islamischen Welt erstmals Anspruch auf ein Erbe – was auch im damaligen Europa keineswegs selbstverständlich war –, und die Polygamie wurde zumindest bestimmten Regelungen und Einschränkungen unterworfen. Darüber hinaus gelten die Scharia-Gesetze nicht nur für einfache Gläubige, sondern setzen auch der Korruption und Willkür politischer Herrscher Grenzen. Dass viele Menschen damals den Islam umarmten,...