E-Book, Deutsch, 160 Seiten
Kornberger Systemaufbruch
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-86774-726-4
Verlag: Murmann Publishers
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Strategie in Zeiten maximaler Unsicherheit - Die Wiederentdeckung von Clausewitz
E-Book, Deutsch, 160 Seiten
ISBN: 978-3-86774-726-4
Verlag: Murmann Publishers
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Angesichts geopolitischer Verwerfungen (Afghanistan), gesellschaftlicher Krisen (Covid, Klima) und disruptiver Wirtschaftsentwicklungen (Digitalisierung) stoßen wir an die Grenzen unserer planerischen Vernunft. Was sich Jahrzehnte lang durch Zielsetzung, Planung und Implementierung meistern ließ, erscheint unbeherrschbar. Pläne scheitern, Strategien versagen.
Warum aber versagt Strategie, trotz ungeheurem Ressourceneinsatz, trotz geballter Beraterexpertise, trotz politischer Priorisierung? Dieses Buch offeriert eine Antwort: Strategie scheitert nicht etwa, weil wir sie nicht gut genug formulieren oder sie nur halbherzig implementieren. Strategie scheitert, weil wir sie von Anfang an falsch denken und falsch machen. Wir glauben, ein zukünftiges Ziel definieren und alle Schritte vorausschauend planen zu können. Unter radikaler Unsicherheit funktioniert dieses Model allerdings nicht. Wie kann man trotzdem strategisch denken, Zukunft gestalten?
Der Philosoph, Managementprofessor und internationale Bestsellerautor Martin Kornberger plädiert für ein neues Denken und Handeln, das lokales, dezentrales und agiles Handeln für kollektive Zwecke in den Mittelpunkt rückt. Große Systeme aufbrechen, dezentrales Experimentieren, kleine Brücken bauen, das ist sein Credo. Dafür holt er sich Impulse aus Clausewitz' Meisterwerk "Vom Kriege" und findet zeitgemäße Antworten auf die Frage, die uns derzeit am meisten auf den Nägeln brennt: Wie kann man in einer Zeit extremer Unsicherheit Strategie wirksam machen?
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Politikwissenschaft Allgemein Politik: Sachbuch, Politikerveröffentlichungen
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Politikwissenschaft Allgemein Current Affairs
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Militärwesen Theorie der Kriegsführung und Militärwissenschaft
Weitere Infos & Material
Strategie vor Clausewitz Clausewitz war zunächst und zuerst der Praxis verpflichtet. In seiner Vorrede zu Vom Kriege schreibt er: »denn so wie manche Pflanzen nur Früchte tragen, wenn sie nicht zu hoch in den Stengel schießen, so müssen in praktischen Künsten die theoretischen Blätter und Blumen nicht zu hoch getrieben, sondern der Erfahrung, ihrem eigentümlichen Boden, nahegehalten werden«.36 Clausewitz’ Zeit war nur allzu reich an Erfahrungen: Seine Reflexionen nährten sich aus dem Boden der Napoleonischen Kriege (1792–1815), die eine radikale Neugestaltung des Kriegswesens mit sich brachten. Vor Napoleon, bis tief hinein ins 18. Jahrhundert, war die Kriegsführung – und damit Strategie – eine relativ statische Angelegenheit.37 Zu Beginn des Jahrhunderts etwa entwarfen die beiden Generäle Sébastien Le Prestre de Vauban und Menno van Coehoorn Befestigungen, die einer streng geometrischen Ordnung entsprachen. Die Leitidee gab vor, dass ein Gefecht klaren Gesetzmäßigkeiten folgen solle. Erfolgreiche Kriegsführung basierte auf der Befolgung dieser Gesetze. Die beiden Strategen Jacques-François de Chastenet de Puységur und Lancelot Théodore Turpin de Crissé übertrugen die geometrische Ordnung von Befestigungsanlagen auf die Armee. Der deutsche Militärtheoretiker Freiherr Heinrich Dietrich von Bülow legte in seinem Geist des neueren Kriegssystems (1799) ein auf Zahlen basierendes System vor, in dem sich Krieg nach festgelegten Proportionen, Zeiträumen und Abläufen entwickeln sollte. Dementsprechend bestand Strategie aus der Befolgung der Regeln und Modelle, die dieses »Kriegssystem« ausmachten. Verteidigungslinien wurden geometrisch gezogen, wobei mehr auf Symmetrie und rechte Winkel als auf das Terrain geachtet wurde. Soldaten auf dem Schlachtfeld wurden wie Schachfiguren angeordnet. Die Suche nach Ordnung wurde nirgendwo sichtbarer als in der Armee des Preußenkönigs Friedrich II. Der Drill machte den Soldaten zu einem Automaten, der eingeübte Handlungsabläufe abspulte. Das Ideal der Armee war das der Maschine, die mit Effizienz und Präzision auf ihr vorgegebenes Ziel zusteuert. Die Organisation war dabei entscheidend, dem Strategen kam die Rolle des Dirigenten zu, der die Maschinerie anleitet. Diese statische Kriegsführung versuchte, dem Chaos auf dem Schlachtfeld vorab eine Ordnung, eine Choreografie überzustülpen. Aufgabe des Strategen war, jene Gesetzmäßigkeiten zu finden, wenn notwendig zu erfinden, die über Sieg und Niederlage entscheiden würden. Napoleonische Disruption Der Boden, auf dem Clausewitz seine Erfahrungen sammelte, erschütterte die Idee einer auf Geometrie basierenden, methodischen Kriegsführung. Die Napoleonischen Kriege brachen in jeder Hinsicht mit vorherigen Kriegen. Sie waren nicht mehr »Kriege von Königen«, sondern »Kriege von Völkern«, in denen enorme Ressourcen in die Schlacht geworfen wurden.38 Die Völkerschlacht von Leipzig (1813), in der sich mehr als 600 000 Soldaten gegenüberstanden, warf vollkommen neue militärische, logistische und humanitäre Probleme auf. Zusätzlich war es eine neue Dynamik, die das althergebrachte Kriegswesen zur Makulatur machte. Ein guter Soldat ist nicht ein kämpfender, sondern ein marschierender Soldat, so Napoleons Diktum. Die Geschwindigkeit der Kriegsführung brachte ein sich ständig veränderndes Bild mit sich. Napoleon wusste die neue Unübersichtlichkeit nicht nur zu nutzen, sondern aktiv zu erzeugen. Überraschung, Geschwindigkeit, Agilität und Risiko lösten die Idee der modellgeleiteten Kriegsführung ab. Die Geometrie der Befestigungsanlagen, die Choreografie der Armee auf dem Schlachtfeld wurde von einem »mitwirkenden Raum« überlagert und hinweggerissen, wie Clausewitz schreibt: »Der Führer im Kriege aber muß das Werk seiner Tätigkeit einem mitwirkenden Raume übergeben, den seine Augen nicht überblicken, den der regste Eifer nicht immer erforschen kann, und mit dem er bei dem beständigen Wechsel auch selten in eigentliche Bekanntschaft kommt.« 39 Während Napoleons Grande Armée Europa in einen chaotischen »mitwirkenden Raum« verwandelt, wird auch der geordnete Raum des strategischen Wissens hinweggefegt. Methodische Kriegsführung, geometrische Befestigungen, maschinenhafte Armeen, quantifizierbare Gesetzmäßigkeiten – all dies wird von Napoleons Kanonen in Stücke geschossen. In seinem (schon zitierten) Brief an den Philosophen Fichte zieht Clausewitz die Bilanz der Zerstörung und gesteht, dass »die hergebrachten militärischen Meinungen und Formen«, mit denen er aufwuchs, keine Gültigkeit mehr hatten. Clausewitz’ Weltbild, in dessen Mitte sein Strategieverständnis, implodiert unter dem Druck der Ereignisse. 200 Jahre nach Clausewitz’ Erfahrung der radikalen Disruption finden wir uns in einer erschreckend ähnlichen Situation. Wir suchen vergeblich nach einer auf Gesetzmäßigkeiten beruhenden Strategie, die in der Wirtschaft, der Gesellschaft oder der Politik funktionieren würde. Wir suchen nach Modellen, die die Zukunft vorhersehbarer machen könnten. Wir suchen nach Blaupausen, die das Planen ermöglichen sollten. Mittels Strategie wollen wir Kontingenz und Unsicherheit in Eindeutigkeit überführen. Aber wie Clausewitz damals sehen wir heute unser hergebrachtes Weltbild »im schnellen Strom der Ereignisse« in seinen »morschen Fugen zusammenbrechen«. Man denke hierbei nur an die verschiedenen Krisen (Kreditkrise, schleichende Klimakrise, Covid etc.) und die Versuche, einen Plan zu deren Bekämpfung aufzustellen. Oder die Wellen von Disruption, die privaten Unternehmen und öffentlichen Administrationen zusetzen und auf die mit beraterinduzierten Strategiepapieren meist vergeblich reagiert wird. Clausewitz war sich der Unmöglichkeit solcher Strategien bewusst. Kein Modell, kein System kann der Komplexität des Geschehens gerecht werden. Die lineare Kaskade Ziel – Plan – Implementierung – Kontrolle wird durch die Rekursivität der Welt lahmgelegt. Die strategische Vernunft auf der Suche nach dem archimedischen Punkt verirrt sich im Clausewitz’schen Nebel, der die Ereignisse in sich verhüllt. Anstatt in einer solchen Situation aufzugeben, setzt sich Clausewitz an den Schreibtisch und sucht nach den Gründen des Scheiterns. Und einem Ausweg aus Napoleons Herrschaft. Pathologie der Strategielehre Gleich zu Beginn verabschiedet sich Clausewitz von der Idee einer geometrischen, mathematisch-wissenschaftlichen Kriegsführung, wie sie von Bülow vorschwebte: »Wir sehen also, wie von Hause aus das Absolute, das sogenannte Mathematische, in den Berechnungen der Kriegskunst nirgends einen festen Grund findet, und daß gleich von vornherein ein Spiel von Möglichkeiten, Wahrscheinlichkeiten, Glück und Unglück hineinkommt, welches in allen großen und kleinen Fäden seines Gewebes fortläuft und von allen Zweigen des menschlichen Tuns den Krieg dem Kartenspiel am nächsten stellt.« 40 In einem solchen Spiel gibt es keine logischen, vorab bestimmbaren Züge, die zum Sieg führen könnten. »Strenge logische Folgerung« muss sich im »Nebel des Krieges« verirren, verlieren, sie wird »ein sehr unbehilfliches, unbequemes Instrument des Kopfes«, notiert Clausewitz.41 Vielmehr trägt ein jeder Versuch, der Sache mittels berechnender Vernunft Herr zu werden, zum Scheitern bei. Clausewitz identifiziert hier drei Gründe, die sich zu einer veritablen Kritik der strategischen Vernunft verdichten. Zum einem, so stellt er »über die Natur des Krieges« fest, sei er »das Gebiet der Ungewißheit«: »drei Vierteile derjenigen Dinge, worauf das Handeln im Kriege gebaut wird, liegen im Nebel einer mehr oder weniger großen Ungewißheit«. Krieg verstehen, ihn denken, ist für Clausewitz ein Paradox. Zu einem Gefecht zum Beispiel entwickelt man Pläne, Ideen zum Ablauf, vielleicht auch ein oder zwei Alternativen. Nun trudeln aber im Verlauf des Gefechts mehr und mehr Informationen ein, manche wahr, einige falsch, die meisten vage, mehrdeutig, inkonsistent, mit dem Effekt: »Die Kenntnis der Umstände hat sich in uns vermehrt, aber die Ungewißheit ist dadurch nicht verringert, sondern gesteigert«, so Clausewitz. Ein bekanntes Bild unserer Covid-geplagten Zeit: Wir haben immer mehr Zahlen, Daten, Fakten zur Verfügung und doch entgleitet uns die Situation. Mehr punktuelle Information schafft mehr mögliche Verbindungen und unterschiedliche Narrative, die in sich widersprechenden Handlungsoptionen münden. Paralyse durch Analyse. Daraus folgt, dass der Ruf nach mehr Informationen nicht notwendigerweise zur Lösung beiträgt, sondern sogar zur Vertiefung des Problems führt. Die lineare Abfolge Ziel – Plan – Implementierung verläuft sich im Nebel der unfassbaren Umstände und unabsehbaren Ereignisse. Dann beschäftigt Clausewitz sich mit Friktion. Wenn das Kriegsgeschehen vom Nebel der Ungewissheit umhüllt wird, so trifft das auch auf die eigene Armee zu. Im Gegensatz zum Bild des Schachbrett-Soldaten, der Befehle ausführt, entdeckt er die ungeheure Komplexität eines zusammengesetzten Apparates, wie die Armee nun eben einmal einer ist. In Die wichtigsten Grundsätze des Kriegführens, zur Ergänzung meines Unterrichts bei Sr. Königlichen Hoheit dem Kronprinzen erläutert Clausewitz: »Das Kriegführen selbst ist sehr schwer, das leidet keinen Zweifel; allein die Schwierigkeit liegt nicht darin, daß besondere Gelehrsamkeit oder großes Genie erfordert würde, die wahren Grundsätze des...