E-Book, Deutsch, 192 Seiten
Kunz Mord im Rustico
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-7152-7551-2
Verlag: Atlantis Literatur
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Krimigeschichten aus dem Tessin
E-Book, Deutsch, 192 Seiten
ISBN: 978-3-7152-7551-2
Verlag: Atlantis Literatur
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Angestellte eines im Herzen des Malcantone gelegenen Rusticos, das an Touristen vermietet wird, versenkt einen Rucksack im Luganersee. Was sich darin befindet, hat ein Gast nicht ganz freiwillig zurückgelassen … Ein Mann will das Seegrundstück der Familie mit privater Badestelle an seinen neuen Nachbarn verkaufen und nimmt seiner Schwester damit die liebsten Erinnerungen. Aber war ihre Kindheit wirklich so idyllisch, wie sie glaubt? Als die Grand Dame von Ascona stirbt, die ihr beträchtliches Vermögen eingesetzt hat, um die Kultur zu fördern, trauert der ganze Ort. Nur zwei Männer wissen, dass sie nicht ertrunken ist.
Zwischen Lago Maggiore und Luganersee, Palmen und Polenta geht es mitunter weniger idyllisch zu, als man meint. Nach dem Erfolg der Erzählbände Mord in der Badi, Mord im Chalet und Mehr Mord im Chalet, die wochenlang auf der Schweizer Bestsellerliste standen, gilt es jetzt, die kriminellen Machenschaften im Südkanton aufzudecken. Mit dabei sind Schweizer Krimistars wie Andrea Fazioli, Sandra Hughes, Gabriela Kasperski, Marcel Huwyler und viele mehr.
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Sandra Hughes Mord im Rustico
Es war der perfekte Ort, um sich zu verstecken. Falls Lucia je fremdgehen würde, dann hier, im Herzen des Malcantone zwischen Rebstöcken. Hier in den sanften Hügeln, die vom Golfo di Agno am Luganersee bis zum Monte Lema hinauf reichten. Über ihr würden dunkle Trauben hängen, von unten würden sich ausgetrocknete Erdbrocken in ihr Gesäß bohren. Oder es würde im Häuschen mitten im Rebberg passieren. Aber jetzt gerade hatte Lucia nicht vor, ihren Mann zu betrügen. Sie trug eine Tasche mit frischer Bettwäsche über der Schulter und folgte dem schmalen Pfad, der zu dem Häuschen führte. Es bestand aus nur einem Zimmer und gehörte zum Bed & Breakfast Tenuta Vallombrosa in Castelrotto. »Himmlische Erholung inmitten von Eichen- und Kastanienwäldern«, versprach die Website. »Feinste Degustationen vom Weingut.« Jedes Zimmer im Vallombrosa war nach einem Tessiner Künstler benannt. Das Häuschen mitten im Rebberg hieß »Rustico Nando«. Als »ideal für Naturliebhaber« pries es die Website. Es lag dreihundert Meter vom Hauptgebäude entfernt, verfügte über ein Doppelbett und eine Kochecke mit kleinem Essbereich. Was brauchte es mehr? Wer sich nicht selbst versorgen mochte, reservierte in der Osteria Vallombrosa einen Tisch und ließ sich mit Tagliere di Salumi verwöhnen, einem Risotto al Merlot, Polenta e Brasato. Speck mit Honig und Nüssen gab es hier, gedämpfte Kutteln, Zwiebelsuppe. Insalata Mista, Rib Eye di Manzo. Und alles von roten und weißen Weinen begleitet, die seit mehr als hundert Jahren mit Engagement und Herzblut auf dem Weingut produziert wurden. Die Gäste der vergangenen Nacht gehörten zu den Selbstversorgern. Sie hatten sich weder gestern Abend noch heute Morgen in der Osteria blicken lassen. Lucia kannte die Gattung der Selbstversorger gut. Sie teilte sie in Kaltesser und Warmesser ein. In jene, die überall im Häuschen braune Apfelbutzen und Hüttenkäsebecher hinterließen, Chipstüten und Krümel von Kraftriegeln. Und in die anderen, deren eingebrannte Tomatensoße Lucia vom Herd kratzte. Spaghetti, die überall festklebten: am Nachttischchen, auf dem Boden, am Tisch und den beiden Stühlen. Bei den Warmessern behandelte Lucia den Bettvorleger mit allerlei Mitteln, bevor sie die roten Flecken aus dem Gewebe zu rubbeln versuchte. Einzig die Reinigung von Handtüchern und Bettwäsche musste nicht Lucias Sorge sein. Sie zog die Laken jeweils mit abgewandtem Blick vom Bett und gab sie dem Wäscheservice. Die blütenweißen Stapel schleppte sie dann wieder dreihundert Meter weit vom Hauptgebäude ins Rustico Nando. So wie jetzt. »Nando sollte frei sein«, hatte der direttore vorhin zu Lucia gesagt. »Du kannst putzen.« Deshalb war Lucia etwas irritiert, als ihr vom Rustico eine Gestalt entgegenkam. Es war ein Mann. Groß, schlank, schlendernd. So, wie nur ein Tourist sich bewegte. Als würde er die Rebstöcke links und rechts betrachten. Für eine Tessinerin das Langweiligste der Welt: den Trauben beim Wachsen zuzusehen. Der Mann nickte freundlich lächelnd und trat zur Seite, um Lucia auf dem schmalen Pfad passieren zu lassen. Gutaussehend war der Mann, fand Lucia. Kein Gast des Bed & Breakfast Tenuta Vallombrosa, wie sie jetzt feststellte. Sie blieb trotz der schweren Tasche stehen und drehte sich zu ihm um. Der Mann trug einen Rucksack. Er hatte seine Schritte beschleunigt, betrachtete jetzt keine Rebstöcke mehr. Lucia zuckte zusammen, als er sich abrupt umwandte. Er sah sie an. Sein Lächeln war verschwunden. Hastig wandte Lucia sich ab. Beim Weitergehen betrachtete sie die Trauben links und rechts des Weges, richtete den Blick zum blauen Himmel hoch, der sich über den Hügeln des Malcantone wölbte. Sie bemühte sich, das Bild zu vertreiben, das sich in ihr festgesetzt hatte: die Rolle, die aus dem Rucksack des Mannes ragte. Ein Stück Textil, dessen Oberfläche ihr so vertraut war wie der Popo ihres Sohnes, als der noch ein Baby war. Hunderte Male hatte sie sich darüber gebeugt, hunderte Male daran herumgewischt. Lucia schüttelte den Kopf über sich selbst. Aber es gab keinen Zweifel. Es war der Bettvorleger aus dem Rustico Nando, den der fremde Mann in seinem Rucksack hatte. Zum Teufel, wozu? Lucia wischte sich den Schweiß von der Stirn. Ließ die Tasche zu Boden gleiten, rieb sich die Schulter. Die Riemen hatten ihr ins Fleisch geschnitten. Wie jedes Mal, wenn sie diese verdammte Tasche ins Rustico Nando schleppen musste. Wieso bloß ließ der direttore nichts zu, was ihr die Arbeit erleichtern würde? Nicht einmal ein Wägelchen, mit dem sie alles ziehen könnte? Wäsche, Putzmittel, Putztücher? So viele Jahre schon ließ Lucia sich schinden zum Mindestlohn. Warum ging sie nicht einfach weg, auf und davon? Lucia kannte die Antwort. Weil ihr Lohn nicht auch noch fehlen durfte. Es reichte, wenn derjenige ihres Ehemanns jeweils Mitte des Monats weg war, in Abendrunden investiert, über die Lucia schon lange nichts mehr wissen wollte. Egal, ob Lucia Suiten im Grand Hotel Villa Castagnola putzte, Marmorfliesen in der mondänen Via Nassa oder Künstlerzimmer im Bed & Breakfast Tenuta Vallombrosa: Sie würde eine schlecht bezahlte Reinigungskraft bleiben. Sie würde weiterhin einer Handvoll Männer dienen, die ihre Zuverlässigkeit im Bödenwischen und Mietezahlen schätzten. Zum Kotzen. Wie sehr ihr das alles zum Hals heraushing. Wie gerne ginge sie einfach auf und davon. Eine Berührung an der Schulter ließ Lucia herumfahren. Dicht hinter ihr stand der Mann. Er lächelte wieder sein schönes Lächeln und senkte langsam den Kopf. Lucia folgte seinem Blick. Seine Hand schwebte vor ihrem Bauch – hatte er vorhin auch schon Handschuhe getragen, an einem sonnigen Morgen im September? Lucia brauchte einen Moment, um zu erkennen, was sie um ein Haar berührte. Eine Messerklinge mit Tomatensoße. Als Lucia ihren Kopf wieder hob und den Mann ansah, spürte sie ein panisches Kichern in der Kehle. Ihr Blick ging zu der Rolle, die über seine Schulter ragte. Der Bettvorleger aus dem Rustico Nando mit roten Flecken. Lucias Herz raste. Sie spürte eine sanfte Berührung auf ihren Lippen. Es war ein behandschuhter Finger des Mannes. Der Finger blieb dort einen Moment lang liegen, bevor er zu den Lippen des Mannes wechselte. Er lächelte nicht mehr, aber seine Augen sahen Lucia freundlich an. Er hielt die Klinge weiterhin gegen sie gerichtet, als er sich bückte und ihre Tasche schulterte. Dann deutete er mit dem Messer auf den Pfad, der zum Rustico Nando führte. Lucia spürte eine leichte Berührung im Rücken, während sie voranging. Eine Ewigkeit schien es ihr her, seit sie zum Rustico Nando aufgebrochen war. Sie hörte die Schritte des Mannes dicht hinter sich. Sie folgte dem Schatten, den die Sonne vor ihnen auf den Boden warf: eine dunkle Gestalt, der Umriss unförmig dort ausgebeult, wo sich Bettvorleger und Wäschetasche befanden. Lucia und der Mann, zu einem Monster vereint, das sich durch den Rebberg der Tenuta Vallombrosa bewegte. Als links am Hang das Rustico Nando auftauchte, verstärkte sich die Berührung in Lucias Rücken. Sie wagte nur für einen Augenblick, den Kopf zu wenden. Der Eingang war von hier nicht zu sehen. Die grünen Läden vor den beiden Fenstern waren geschlossen. Der Pfad endete hier. Lucia wischte sich den Schweiß von der Stirn. Die Sonne schien ihr nun ins Gesicht, während sie hangabwärts über ausgetrocknete Erdbrocken stolperte und dann zwischen Rebstöcken ging, in großem Bogen dahin zurück, wo das Hauptgebäude lag. Bevor sie den Parkplatz erreichten, ging der Mann an Lucias Seite, und als er ihr die Tür eines silbergrauen Autos öffnete, stieg sie ein. Während sie im Innenspiegel zusah, wie er Rucksack und Wäschetasche im Kofferraum verstaute, tastete sie nach der Handytasche. Ein Geschenk ihres Sohnes, das sie nie ablegte. »Damit du immer alles bei dir hast, mamma«, hatte er gesagt und ihr die Fächer für die Karten gezeigt. »Für alle Fälle«, hatte er gesagt, und sie hatte gedacht: Für welche Fälle? Wieder stieg ein Kichern in Lucias Kehle hoch, diesmal ohne Panik. Ihr Herz hatte sich beruhigt, es fühlte sich stark und lebendig an. Wann hatte sie es das letzte Mal so gespürt? Der Mann hatte neben ihr auf dem Beifahrersitz Platz genommen, legte ihr stumm den Zündschlüssel auf den Schoß. Lucia fuhr ein leichter Schauer über den Rücken, als seine Finger ihren rechten Oberschenkel berührten. Sie schaute nochmals zum Bed & Breakfast hinüber, dann startete sie den Motor. Als sie den Blinker setzte, um in die Richtung zu fahren, in die der Mann sie wies, wusste Lucia, warum sie das Täschchen mit Fächern für alle Karten immer umgehängt hatte: Für den Fall, dass sie einfach auf und davon fuhr. *** Unterdessen schickte ein verärgerter direttore die nächste Putzfrau ins Rustico Nando, um den Gästen dort Beine zu machen. Das Paar hatte mitnichten ausgecheckt, hatte der direttore feststellen müssen, und bezahlt schon gar nicht. Eine Fehlinformation an der Rezeption. Einmal mehr. Der zunehmenden Digitalisierung von Abläufen geschuldet oder seiner Frau, die manchmal den Überblick verlor. Das Bild, das sich der armen Angestellten im Rustico Nando bot, überstieg das menschliche Vorstellungsvermögen. Die Putzfrau übergab sich und rannte schreiend zum Hauptgebäude zurück. Der direttore rief sofort die Polizei und versuchte vergeblich, seine sensationshungrigen Gäste davon abzuhalten, zum Rustico zu stürmen. Die ersten Bilder kursierten in den sozialen Medien, bevor der Ermittler vom Commissariato di Lugano vor Ort war. Der Commissario verscheuchte die Gaffer. Der Verbreitung von Bildern und Gerüchten konnte er nichts entgegenhalten außer eine nüchterne...