Langner | Formierte Zivilgesellschaft | Buch | 978-3-593-50884-9 | sack.de

Buch, Deutsch, Band 972, 347 Seiten, Format (B × H): 141 mm x 214 mm, Gewicht: 446 g

Reihe: Campus Forschung

Langner

Formierte Zivilgesellschaft

Zum Korporatismus in Deutschland 1945 und 1989
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-593-50884-9
Verlag: Campus

Zum Korporatismus in Deutschland 1945 und 1989

Buch, Deutsch, Band 972, 347 Seiten, Format (B × H): 141 mm x 214 mm, Gewicht: 446 g

Reihe: Campus Forschung

ISBN: 978-3-593-50884-9
Verlag: Campus


Kaum ein Staat hat ein derartig enges Verhältnis zu Verbänden wie Deutschland. Anhand der Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege werden in dieser Studie die Interessen, Ideen und institutionellen Rahmenbedingungen des Korporatismus in Deutschland exemplarisch untersucht. Wie ist der kartellförmige Zusammenschluss von lediglich sechs Spitzenverbänden und deren Inkorporierung in das politische System erklärbar? Letztlich zeigt die Autorin, wie der deutsche Korporatismus vor allem über die ökonomische Rationalität erklärt werden muss. Einen besonderen Ausdruck findet diese in einer Formierung der sogenannten Zivilgesellschaft.
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Weitere Infos & Material


Inhalt
Einleitung 9
Die Freie Wohlfahrtspflege in Deutschland 10
Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege 13
Der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband im System der Freien Wohlfahrtspflege 16
Strukturmerkmale der Wohlfahrtspflege 18
Methodisches 24
Forschungsstand 31
Datenmaterial 37
Aufbau der Studie 40
Begrifflichkeiten 41
1. Die historische Entwicklung der Freien Wohlfahrtspflege und des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes 45
1.1 Entstehung und Entwicklung der Wohlfahrtsverbände vom 19. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg 46
1.2 Zentralisierung freier Wohlfahrtspflege im Ersten Weltkrieg 54
1.3 Inkorporierung freier Wohlfahrtspflege in der Weimarer Republik 57
1.4 Die Gründung des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes 67
Zusammenfassung 72
2. Die Durchsetzung eines alten Konzepts in einem neuen Gesellschaftsmodell: Die Freie Wohlfahrtspflege nach 1945 77
2.1 Die Freie Wohlfahrtspflege im Nationalsozialismus 78
2.2 Unbestimmtes: Die Wohlfahrtspflege 1945 bis 1947 82
2.2.1 Rahmenbedingungen 82
2.2.2 Die Wohlfahrtsverbände 86
Organisationale Verknüpfungen und Einfluss einzelner Persönlichkeiten 89
Exkurs: Entwicklungen in der SBZ 96
Reorganisation - Kriegsgefangene - Finanzierung: Inhaltliche Auseinandersetzungen 102
2.2.3 Der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband 106
Reorganisation 107
Inhaltliche Auseinandersetzungen 109
Zusammenfassung 111
2.3 Verstetigung: Die Wohlfahrtspflege 1948 bis 1953 112
2.3.1 Rahmenbedingungen 112
2.3.2 Die Wohlfahrtsverbände 114
Anerkennung als Spitzenverband und Verteilung
staatlicher Gelder: Formierung der Freien Wohlfahrtspflege 119
Fragen der Finanzierung 124
Themen der Freien Wohlfahrtspflege: Das Beispiel Flucht
und Vertreibung 129
2.3.3 Der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband 131
Strukturbildungen des DPWV in Nordrhein-Westfalen 132
Exkurs: Antikommunismus - Paritätischer Wohlfahrtsverband und Gemeinschaftshilfe 136
Entschädigung - Flüchtlinge - Organisationales
Selbstverständnis: Inhaltliche Auseinandersetzungen 142
Zusammenfassung 160
Fazit 162
3. Normalisierung trotz Krise: Die Freie Wohlfahrtspflege nach 1989 169
3.1 Die freie Wohlfahrtspflege in der DDR 171
3.2 Getriebene: Die Wohlfahrtspflege 1989 bis 1990 174
3.2.1 Rahmenbedingungen 174
3.2.2 Die Wohlfahrtsverbände 176
Exkurs: Die Wiedervereinigung als Teil der europäischen Integration 180
3.2.3 Der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband 186
Zusammenfassung 191
3.3 Krisenförmige Normalisierung: Die Wohlfahrtspflege ab März 1990 193
3.3.1 Rahmenbedingungen 193
3.3.2 Die Freie Wohlfahrtspflege 195
3.3.3 Der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband 207
Exkurs: Der Arbeiter-Samariter-Bund Landesverband
Brandenburg 215
3.3.4 Sozialpolitische Interventionen 223
3.3.5 Sonderfall Volkssolidarität 232
Neuorientierung: November 1989 bis Mai 1990 233
Neuausrichtung: Entwicklung ab Mai 1990 236
Die Integration der Volkssolidarität in das System der Freien Wohlfahrtspflege - Zwischenfazit 244
Zusammenfassung 245
Fazit 248
4. Vergleich der Freien Wohlfahrtspflege und des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes in den Systemumbrüchen 1945 und 1989 255
4.1 Dynamiken des Systemwechsels 257
4.1.1 Institutionelle Offenheit 257
4.1.2 Institutionentransfer 262
4.1.3 Divergierende Handlungsgeschwindigkeiten 267
4.1.4 Aufgelöste Sozialmilieus und Ehrenamt 270
4.1.5 Korporatistisches Staat-Verbände-Verhältnis 273
4.1.6 Antipluralismus und Wettbewerb 275
4.1.7 Fordismus und Korporatismus 282
4.2 Thematische Bezüge 287
4.2.1 Organisationaler Selbsterhalt 288
4.2.2 Gestaltung Sozialer Arbeit 290
4.2.3 Migration 292
4.2.4 Innovation 295
4.3 Europa und die Freie Wohlfahrtspflege 297
Die Formierung der Zivilgesellschaft - Fazit 302
Resümee 309
Abkürzungen 323
Quellen und Literatur 325
Archivalische Quellen 325
Gedruckte Literatur 325
Danksagung 347


Einleitung
"In diesem Sinne ist Korporatismus eine Ideologie, ein ›Glaube‹ an eine ›natürliche Hierarchie‹ der sozialen Gruppen, die angestammte Rechte und Verantwortlichkeiten besitzen." (Reutter 1991: 67)
Verbände, die in allen modernen Staaten existieren, ermöglichen zum einen eine spezifische Antwort auf Konkurrenzverhältnisse, die zwischen verschiedenen Marktteilnehmern bestehen (vgl. Hoffmann 2006: 25). Sie aggregieren zum anderen Interessen und versuchen dadurch, Einfluss auf den politischen Entscheidungsprozess zu nehmen. Die konkrete Ausgestaltung des Verbandswesens und des Verhältnisses zwischen Staat und Verbänden gestaltet sich dabei in den jeweiligen Staaten jedoch sehr unterschiedlich. Während sie in angelsächsischen Staaten die Form von sogenannten pressure groups einnehmen, sind Verbände in der Bundesrepublik Deutschland mehr als nur Interessengruppen, die auf das politische System Einfluss nehmen; sie sind in das politische System inkorporiert:

"Einen inkorporierten Status haben solche Verbände inne, die vom Staat und von den übrigen Verbänden als unverzichtbare Verhandlungspartner anerkannt sind und die dauerhaft und häufig in fest institutionalisierten Organen und Gremien mit staatlichen Instanzen zusammenarbeiten." (Winter 2000: 538 )
Korporatismus bezeichnet somit die verstetigte Einbeziehung der Verbände in den politischen Entscheidungsfindungs- und Implementationsprozess (vgl. Jochem/Siegel 2003: 13). Aufgrund ihrer Fähigkeit, insbesondere in Krisenzeiten die Bereitschaft ihrer Mitglieder, politischen Entscheidungen zu folgen, mobilisieren zu können, stellen sie ein wichtiges staatliches Steuerungsinstrument dar (vgl. Lehmbruch 1996: 126). Die institutionalisierte Einbindung in politische Entscheidungsprozesse erfolgt sowohl durch verstetigte Kontakte zwischen Interessenorganisationen und politisch-administrativen Bereich als auch über personelle Querverbindungen zwischen den Verbänden und Parteien. Dabei hat jedoch kein Staat "eine so alte, kontinuierliche und einflußreiche korporatistische Tradition wie Deutschland" (Nocken 1981: 23f.). Wie lässt sich das erklären? Ist der deutsche Korporatismus dabei tatsächlich auf eine spezifische Kultur - wie es das Eingangszitat von Reutter behauptet - zurückzuführen?
Neoinstitutionalistischen Theorien zufolge müssen Unterschiede in der institutionellen Ausgestaltung von Staaten, zu denen korporatistische Arrangements gezählt werden können, auch auf kulturelle Aspekte zurückgeführt werden (vgl. Hattam 1992: 157; vgl. Lepsius 2013: 14). Die Frage nach der Stabilität von korporatistischen Systemen, die einen Teil der langfristigen strukturellen Entwicklung des deutschen Staatswesens (vgl. Feldmann/Steinisch 1985: 11) darstellt, muss daher auch staats- und gesellschaftspolitische Vorstellungen innerhalb der inkorporierten Organisationen einbeziehen. Es soll in dieser Arbeit geprüft werden, ob und, wenn ja, auf welche normativen Grundlagen die Existenz und Persistenz korporatistischer Strukturen zurückgeführt werden können. An konkreten Akteuren muss, so der Anspruch dieser Studie, der ›Glaube‹ und die Ideologie, von der Reutter spricht, belegt werden können, um den Korporatismus auf diese zurückführen zu können.
Die Freie Wohlfahrtspflege in Deutschland
Während Zentralisierungstendenzen in Form von Monopolen oder Kartellen im Bereich der klassischen korporatistischen Akteure wie Gewerkschaften und Industrie- und Arbeitgeberverbände aufgrund ihrer Nähe zu ökonomischen Problemen - wie Lohnhöhe oder steuerrechtlichen Rege-lungen - durch Rückgriff auf ökonomistische Erklärungsansätze veranschaulicht werden können, stoßen diese in anderen, als marktfern geltenden Bereichen auf Grenzen. Zu diesen Bereichen wird die Freie Wohlfahrtspflege gezählt. Als ›gemeinwohlorientierte‹ und ›freie‹, also nichtstaatliche, Assoziationen ist ihre kartellförmige Schließung und ihre Inkorporierung in staatliche Strukturen mitsamt der Übernahme öffentlicher Aufgaben erklärungsbedürftig.
Obwohl es in einschlägigen Werken zur Sozialpolitik in der Bundesrepublik Deutschland nur selten explizit thematisiert wird: den Spitzenverbänden der Freien Wohlfahrtspflege kommt im deutschen Sozialstaat eine hohe und mehrfache Bedeutung zu. Sie sind nicht nur einer der größten privaten Arbeitgeber und Anbieter sozialer Dienstleistungen, sie sind auch an der politischen Willensbildung beteiligt.
Deutschland gilt dabei noch immer als Beispiel eines konservativ-korporatistischen Wohlfahrtsstaates (vgl. Esping-Andersen 1996). In diesem nimmt die Freie Wohlfahrtspflege, verstanden als Zusammenschluss der sechs Spitzenverbände Arbeiterwohlfahrt (AWO), Deutscher Caritasverband (DCV), Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband (DPWV), Deutsches Rotes Kreuz (DRK), Diakonisches Werk der Evangelischen Kirche (DW) und der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST), eine spezifische Funktion im System sozialer Sicherung ein. Während Geldleistungen durch die Sozialversicherungen - bspw. Arbeitslosen-, Kinder- und Wohngeld - einen Teil der rechtlich gesatzten Leistungsansprüche darstellen, sind Sachleistungen ein weiterer. Zu diesen gehören auch Dienstleistungen im Bereich Sozialer Arbeit und des Gesundheitswesens. Neben den Kommunen sind in Deutschland die Wohlfahrtsverbände die mit Abstand bedeutendsten Träger Sozialer Arbeit (vgl. Hammerschmidt 2005b: 145). Damit organisiert sich in ihnen der größte Teil jener Vereine, Verbände und gGmbHs, die im System der sozialen Sicherung personengebundene soziale Dienstleistungen erbringen. Der Begriff personengebundene Dienstleistungen beschreibt dabei zum einen "eine basale gesellschaftliche Form von Hilfeleistungen von ›Mensch zu Mensch‹, die sich auf akute Notlagen und Konflikte sowie auf die Maßstäbe und Mittel für eine zufriedenstellende Lebensführung beziehen" (Grunow/Olk 2007: 979). Zum anderen werden diese Hilfeleistungen als sozial bezeichnet, "wenn der (Sozial-)Staat an ihrer verlässlichen Erbringung ein öffentliches Interesse entwickelt und in Folge dessen Vorkehrungen trifft, damit diese Dienste als ein öffentliches bzw. meritorisches Gut erbracht werden können" (Evers/Heinze/Olk 2011: 11). Konkret handelt es sich dabei um Angebote aus den Arbeitsbereichen für Kinder und Jugendliche; Hilfen für Mütter; Ehe und Familie; Dienste für geistig, körperlich oder seelisch behinderte Menschen; Pflege von Kranken und Maßnahmen zur Linderung von Arbeitslosigkeit.
Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege
Die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege sind analog zu den föderalistischen Strukturen der Bundesrepublik aufgebaut und arbeiten auf kommunaler, Landes- und Bundesebene in Arbeitsgemeinschaften zusammen. Auf Bundesebene ist dies die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege e. V. (BAGFW), auf Landesebene werden diese je nach historischer Tradition Liga oder Landesarbeitsgemeinschaft genannt. Das gemeinsame Auftreten der Spitzenverbände, das in den Treffen im Rahmen der BAGFW abgestimmt wird, soll dabei zur "Erreichung politischer Ziele, sei es im Sinne der Verbesserung von Rahmenbedingungen der Leistungserbringung (oder zumindest der Verhinderung ihrer Verschlechterung), sei es im anwaltlichen Sinne" (Timm 2014: 173), dienen. Neben der Geschäftsstelle der BAGFW in Berlin findet eine Vernetzung zwischen den Spitzenverbänden und der öffentlichen Sozialarbeit in Arbeitskreisen und dem - für das Verständnis der Genese und Funktion der Freien Wohlfahrtspflege unabdingbaren - Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge (DV) statt.
Der Konsensfindung für gemeinsame Rahmenbedingungen im Bereich der Sozialen Arbeit entgegen steht ein Entscheidungsfindungsprozess, der innerhalb der Verbände von der Arbeits- und Fachebene ausgeht (vgl. ebd.). Diese Ebene definiert dabei Standards, die nicht selten in Abgrenzung zu anderen Fachbereichen erfolgt (vgl. ebd.). Das entspricht zum einen der Logik von Organisationen, die auch auf andere Bereiche übertragbar ist und damit erklärt werden kann, dass bestimmte Einheiten innerhalb der jeweiligen Organisation spezifische Eigeninteressen besitzen, die sie in Wettbewerb zu anderen setzen. Zwar besteht in der BAGFW generell die Tendenz zur Konsensbildung. Wie am konkreten, historisch bedingten Gegenstand im Verlauf der Arbeit zur zeigen sein wird, führt diese aufgrund der unterschiedlichen Ansprüche, aus Sicht der einzelnen Verbände, nicht immer zum gewünschten Erfolg. Daher handeln in bestimmten Situationen einzelne Verbände anders als in der BAGFW beschlossen. Dadurch werden Machtungleichgewichte zwischen den Verbänden deutlich, was es aus analytischer Sicht schwierig macht, verallgemeinerbare Aussagen unter dem Begriff ›Freie Wohlfahrtspflege‹ zu formulieren.
Unterschiede zwischen den Verbänden der BAGFW sind bedingt durch die verschiedenen historischen Entwicklungen der Wohlfahrtsverbände, ihre aktuelle Funktion im Bereich der Sozialpolitik und ihre interne Strukturierung. Zwischen den Einrichtungen und Diensten und dem jeweiligen Spitzenverband existieren dadurch unterschiedlich starke Verbindungen, die bei den konfessionellen Verbänden aufgrund geteilter Religionszugehörigkeit besonders ausgeprägt sind. Stärker als alle anderen Spitzenverbände ist der DPWV - wie später ausführlich dargestellt wird - ein Dachverband für rechtlich selbstständige Organisationen. Dadurch ergeben sich unterschiedliche Steuerungsmöglichkeiten in den verschiede-nen Spitzenverbänden. Allen gemeinsam ist zunächst ihr föderativer Auf-bau, der sich nach Orts- und Kreisvereinen und Landes- und Bundes-verband unterteilt. Für das Jahr 2012 gab die BAGFW an, dass ca. 100.000 Einrichtungen und Dienste durch die sechs Spitzenverbände an-geboten werden; dabei seien mehr als anderthalb Millionen Menschen hauptamtlich in der Freien Wohlfahrtspflege tätig (vgl. BAGFW 2012). Die Jugendhilfe stellt mit mehr als zwei Millionen Betten und Plätzen den größten Arbeitsbereich der Freien Wohlfahrtspflege dar (vgl. ebd.). Der soziale Dienstleistungssektor ist in Deutschland damit eines der bedeutendsten Beschäftigungsfelder und die Wohlfahrtsverbände bilden "einen umfassenden und sozialpolitisch mächtigen Block innerhalb der Träger-landschaft für soziale Dienste" (Merchel 2011: 245). Sowohl in der Anzahl der ehrenamtlichen und hauptamtlichen Mitarbeiter unterscheiden sich die Verbände aber ebenso wie durch die Einbindung in internationale Strukturen. Vergleichende Daten existieren jedoch kaum bzw. basieren auf unterschiedlichen Erhebungen. Die BAGFW selbst hat aufgrund ihrer Funktion als gemeinsame Dachorganisation kein Interesse, die Verbände in ein vergleichbares Verhältnis, das immer auch einen verstärkten Wettbewerb nach sich ziehen würde, zu setzen. Trotz dessen geben Statistiken über Zahl der versicherten Haupt- und Ehrenamtlichen sowie Selbstdarstellungen Aufschluss über Unterschiede der Verbände. Die beiden christlich-konfessionellen Verbände, DW und DCV sind mit jeweils fast 800.000 hauptamtlichen Mitarbeitern die größten Arbeitgeber innerhalb der BAGFW. Dahinter folgt mit geringem Abstand zunächst der DPWV und anschließend AWO und DRK. Vor allem DCV, DW und DRK sind darüber hinaus in internationale Strukturen eingebettet, die ihren Einfluss auch auf die nationalen Organisationen geltend machen. So ist der DCV Mitglied der Caritas Internationalis mit Sitz in Rom, der 156 nationale Caritasverbände angehören (vgl. Bundesarbeitsgemeinschaft 2002: 166), und das DW arbeitet im europäischen Verband Eurodiaconia. Aufgrund dieser Unterschiede existieren in der BAGFW schwächere und stärkere Akteure, die gegenseitige Handlungsdynamiken auslösen.
Der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband im System
der Freien Wohlfahrtspflege
Der Gesamtverband des DPWV - also die genuin spitzenverbandliche Organisationseinheit - ist der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband - Gesamtverband e.V. mit Sitz in Berlin, dessen Vorstand in einem Zyklus von vier Jahren gewählt wird. Mitglieder des Gesamtverbandes sind zum einen die 15 Landesverbände des DPWV, zum anderen überregional tätige Wohlfahrtsorganisationen. Zu diesen gehören u.a. der Arbeiter-Samariter-Bund (ASB), die Volkssolidarität (VS), das Deutsche Jugendherbergswerk, der Sozialverband VdK Deutschland (VdK), der Deutsche Kinderschutzbund, Pro Familia, der Bundesverband Deutsche Tafeln, der SOS Kinderdorf e.V. und die Deutsche AIDS-Hilfe. Der DPWV definiert sich selbst vorrangig als Dachverband seiner mehr als 10.000 rechtlich selbstständigen Mitglieds-organisationen, für die alle zwei Jahre eine Mitgliederversammlung des Gesamtverbandes stattfindet.
Regional bzw. lokal agierende Organisationen wie Arbeitsloseninitiativen, Frauenhäuser oder Selbsthilfegruppen können Mitglied in einem der Landesverbände werden und vermittelt über diese an verbandsinternen Aushandlungsprozessen auf Bundesebene teilhaben. In einigen Bundesländern, wie bspw. in Nordrhein-Westfalen, existieren zudem örtliche Kreisgruppen. Mitglied des Verbandes kann nur eine Organisation werden, die keinem anderen Spitzenverband der Freien Wohlfahrtspflege angehört. Der DPVW vertritt seine Mitgliedsorganisationen in jenen Gremien, die vom Gesetz vorgesehen sind, wie bspw. dem Jugendwohlfahrts-ausschuss, und freiwilligen Zusammenschlüssen, wie den Arbeitsgemeinschaften von Trägern der Sozialhilfe.
Obwohl sich der DPWV vorrangig als Dachverband seiner Mitgliedsorganisationen versteht, wurde parallel zum Anwachsen der Mitgliedsorganisationen in den 1970er Jahren im Verband auch das Tätigwerden als Anbieter eigener sozialer Dienstleistungen thematisiert. Seither wird er teilweise auch selbst als Träger sozialer Dienstleistungen aktiv, wodurch mitunter Konkurrenzsituationen zu den eigenen Mitgliedsorganisationen erzeugt werden. Das Angebot an eigenen sozialen Dienstleistungen ist dabei vor allem abhängig vom jeweiligen Landesverband und unterscheidet sich stark. Somit leitet sich das Verbandshandeln auf spitzenorganisationaler Ebene nicht nur aus der Interessenbündelung und -artikulation ab, sondern auch aus seinem spezifischen Aufgabenbereich, der als ›personengebundener Dienstleistungsbereich‹ bezeichnet werden kann.
Neben der politischen Interessenvertretung ist der DPWV auch Dienstleister für seine Mitgliedsorganisationen. Zu den Serviceangeboten gehören wirtschaftliche und rechtliche Beratungsangebote, Weiterbildungen im sozialen Bereich und Möglichkeiten zum fachlichen Austausch in entsprechenden Arbeitsgemeinschaften innerhalb des Verbandes. Ein gewisser Teil der Mitgliedsorganisationen nutzt die Strukturen des Verbandes dabei ausschließlich für diese Dienstleistungen. Das heißt, ihre Mitgliedsbeiträge kalkulieren diese Organisationen mit Aussicht auf Nutzung von spezifischen Serviceangeboten ein. Ihre sozialpolitische Interessenvertretung und den fachlichen Austausch suchen sie dabei zum Teil in anderen - meist themenspezifischeren - Fachverbänden.
Ein wichtiges Merkmal des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes ist seine sogenannte weltanschauliche Neutralität. Weltanschaulichkeit besagt in diesem Zusammenhang, "daß sich die Wohlfahrtsverbände als Organisationszusammenschlüsse auf jeweils bestimmte weltanschauliche Grundüberzeugungen berufen und an weltanschaulichen Werten orientieren, welche Handlungsmotive, ihre Wahrnehmung und ihre Deutung der Notlagen und Probleme ihrer Klienten begründen, deren Ursachen erklären und ferner die soziale Praxis des methodisch-planmäßigen Handelns entscheidend prägen sollen" (Bauer 1987: 15).
Aufgrund seines Anspruchs an weltanschauliche Neutralität ist er als Dachverband für alle Vereine und Verbände offen, die sich in keinen anderen Verband einordnen können. Die unterschiedlichen gesellschaftspolitischen Forderungen seiner Mitglieder erzeugen im Verband dabei ein Handlungsdilemma, das sich von jenem anderer Spitzenverbände unterscheidet: Während andere Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege dem föderalistischen Aufbau der BRD entsprechend strukturiert sind und die divergierenden Interessenlagen vorrangig dieser internen Strukturierung geschuldet sind, muss der DPWV darüber hinaus auch einen Modus zur Interessenartikulation für ideologisch viel stärker kollidierende Organisationen schaffen.
Strukturmerkmale der Wohlfahrtspflege
Die Erbringung personengebundener sozialer Dienstleistungen ist als Teil sozialer Rechte vor allem in den Sozialgesetzbüchern (SGB) verankert und lässt sich mittels verschiedener Strukturmerkmale charakterisieren (vgl. Boeßenecker/Vilain 2013: 12). Das wichtigste stellt dabei das als dual bezeichnete Verhältnis zwischen freier und öffentlicher Wohlfahrtspflege dar. Demnach existiert die freie Wohlfahrtspflege dual zu einer öffentlichen, genießt dieser gegenüber jedoch eine Vorrangstellung. Das heißt, bei der Erbringung öffentlich finanzierter bzw. subventionierter sozialer Dienstleistungen werden bzw. wurden die freien, nicht-kommerziellen Anbieter bis in die 1990er Jahre sozialpolitisch privilegiert. Die Vorrangstellung dieser sogenannten freien Anbieter vor den öffentlichen wird dabei gefasst unter den Begriff der Subsidiarität welche "angelegt [ist, C.L.] als Pflicht zur Selbsthilfe einerseits sowie als Vorrang der freien gegenüber der öffentlichen Wohlfahrtspflege andererseits" (Grunow/Olk 2007: 980). Exemplarisch kann dies anhand der Jugendhilfe veranschaulicht werden. Das Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) regelt in diesem Bereich das Zusammenwirken von Politik, Verwaltung und Verbänden. Die Träger der öffentlichen Jugendhilfe - meist die Kommunen - haben dabei die Planungshoheit inne, während sie von der Erbringung eigener Leistungen jedoch absehen, wenn diese von freien Trägern erbracht werden können (vgl. Stöbe-Blossey 2001: 163).
Neben der Vorrangstellung der freien vor der öffentlichen Wohlfahrt sind die Einrichtungen und Dienste der freien Wohlfahrtspflege durch die Spitzenverbände in das politisch-administrative System inkorporiert. Damit existiert neben einer vertikalen Arbeitsteilung zwischen öffentlichen und freien Trägern auch eine horizontale:
"Sind die kommunalen ›Basisorganisationen‹ vorrangig mit der Erbringung sozialer Dienstleistungen befaßt, so besteht die Hauptaufgabe der übergeordneten Instanzen in der Koordination der Aktivitäten der Untergliederungen, in der Beschaffung von finanziellen und legitimatorischen Ressourcen sowie der Erbringung von Serviceleistungen für die untergeordneten Organe (etwa Rechtsberatung, fachliche Supervision, Informationsverarbeitung etc.)." (Heinze/Olk 1981: 107)
Diese übergeordneten Ebenen sind Teil der Gesamtverbände, stellen aber meist eigene Organisationseinheiten - die meist auch als eigenständig ein-getragene Vereine konstituiert sind - dar.
Nicht nur die Spitzenverbände selbst bezeichnen sich als anerkannt, sondern auch in wissenschaftlichen Untersuchungen wird ihnen dieser Status zugewiesen. Dabei existiert - wie später ausführlicher dargestellt wird - keine rechtliche Grundlage für diese Anerkennung; sie ist vielmehr eine historisch gewachsene Handlungsroutine zwischen staatlichen Akteuren und den Spitzenverbänden; jedoch mit einer ebenso hohen Wirkmächtigkeit wie gesetzliche Regelungen. Die korporatistische Staat-Verbände-Beziehung ist neben dem institutionalisierten, das heißt auf Dauer angelegten Einbezug der verbandlichen Organisationen in das politisch-administrative System auch durch personelle Querverbindung zwischen den Wohlfahrtsverbänden und anderen Organisationen charakterisiert. So werden die verbandlichen Interessen in vielen Städten, Gemeinden und Kreisen über die Parteien in den politischen Entscheidungsprozess oder - wie im Fall des Jugendwohlfahrtsausschusses - direkt über die Verbände integriert (vgl. Thränhardt 1986: 48). Darüber hinaus besteht die Vertretungsfunktion in gesetzlich vorgegebenen Gremien bzw. unter Beteiligung von staatlichen Stellen, z. B. Bundes- und Landespflegeausschuss, Arbeitsgemeinschaft nach dem Sozialhilfegesetz oder dem Kinder- und Jugendhilfegesetz.
Die spezifische Einbindung der Verbände in das politisch-administrative System lässt eine Trennung beider Sphären nur aus einer organisationssoziologischen Sicht zu. Das heißt, die Bereiche sind nur aufgrund spezifischer Organisationen, die durch abgrenzbare Organisationsstrukturen mit auf Dauer angelegten Satzungen gekennzeichnet werden können, voneinander zu unterscheiden. Handlungsziele und Personen sind dagegen nicht immer nur einer Sphäre zuordenbar. Eine angemessene politikwissenschaftliche Erfassung der Funktion der Wohlfahrtsverbände wurde daher durch "die lange Zeit vorherrschende ›pressure-group-Orientierung‹ der liberal-pluralistischen Verbändetheorien […] verhindert" (Heinze/Olk 1981: 95).


Carsta Langner, Dr. phil., ist wissenschaftliche Referentin am Deutschen Jugendinstitut im Bereich 'Politische Sozialisation und Demokratieförderung'.



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