E-Book, Deutsch, Band 2933, 128 Seiten
Reihe: Beck'sche Reihe
Lauster Das Christentum
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-406-78194-0
Verlag: C.H.Beck
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Geschichte, Lebensformen, Kultur
E-Book, Deutsch, Band 2933, 128 Seiten
Reihe: Beck'sche Reihe
ISBN: 978-3-406-78194-0
Verlag: C.H.Beck
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Geschichtswissenschaft Allgemein Geschichte: Sachbuch
- Geisteswissenschaften Christentum, Christliche Theologie Christliche Kirchen, Konfessionen, Denominationen
- Geisteswissenschaften Christentum, Christliche Theologie Kirchengeschichte
- Geisteswissenschaften Christentum, Christliche Theologie Christentum/Christliche Theologie Allgemein Christentum: Sachbuch, Erbauungsliteratur
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II. Lebensformen des Christentums
Das Christentum prägt das Leben seiner Anhängerinnen und Anhänger durch unterschiedliche Formen der Vergemeinschaftung, Bräuche, Riten, Denkformen und Moralvorstellungen, die über Jahrhunderte gewachsen sind und den Einzelnen Orientierung bieten. Um die zentralen Dimensionen christlichen Lebens – Innerlichkeit, Institution, Ritus und Kultur – geht es im Folgenden. 1. Innerlichkeit: Die kontemplative Dimension
Das Christentum ist im Erleben der Menschen, in ihrem Nachdenken, Wollen und Fühlen wirksam. Ohne diese innere Resonanz hätte es keine Kraft. Der Begriff der Mystik thematisiert traditionell diese kontemplative Dimension, wobei Mystik hier in einem weiten Sinn als Erfahrung der Gegenwart Gottes in der Welt und nicht nur als das Erlebnis besonderer Nähe zu Gott oder gar Einigung mit ihm zu verstehen ist. Auf die große Bedeutung der Mystik und Innerlichkeit für das christliche Leben hat bereits Ernst Troeltsch, die große Gestalt des liberalen Kulturprotestantismus, aufmerksam gemacht, um die individuelle Seite stark zu machen und die christlichen Lebensformen nicht zu einseitig allein auf Kirche und Ritus zu reduzieren. Die Quellen der mystischen Tradition erzählen davon, wie eine höhere Dimension der Wirklichkeit in die Erfahrungswelt der Menschen eindringt und wie diese sich durch Askese und Kontemplation Gott annähern, um schließlich von ihm oder einer besonderen Erkenntnis ergriffen zu werden. Sie beschreiben dies in Bildern, die ihnen ihre kulturelle Umgebung zur Verfügung stellt. Der Apostel Paulus schreibt von seiner «Entrückung in den dritten Himmel» (2 Kor 12), der Philosoph Plotin – es gab auch philosophische Mystiker – von einem Erwachen zu sich selbst, in dem er einsieht, dass seine Seele zur Sphäre des Göttlichen gehört (Enn IV 8). Augustinus durchschreitet in seiner Vision in Ostia mit der Kraft des Denkens die Stufen des Kosmos und berührt für einen Augenblick die göttliche Wahrheit (Bekenntnisse IX 10). Meister Eckhart wird vom göttlichen Funken und Lichtstrahl in seiner Seele erfasst, und der Franziskaner Bonaventura beschreibt den Weg der Seele als Aufstieg zu Gott (Itinerarium mentis in Deum). Auch im Mittelalter artikulierten sich mystische Erfahrungen in der Sprache eines Weltbildes, das stark vom Platonismus und Neuplatonismus beeinflusst war. Die Gegenwart des Göttlichen ereignet sich, wenn die Seele aus der Welt der Materie hinaufsteigt in die Sphäre des Geistes. Die mystischen Bewegungen des Mittelalters bedeuteten eine «Demokratisierung» der religiösen Erfahrung (B. McGinn, Mystik III, 37), weil sie auch jenseits der Universitätstheologie artikuliert werden konnte. Das erklärt, warum die Frauenmystik so stark wurde. Frauen hatten im Mittelalter keinen Zugang zu Universitäten und kirchlichen Ämtern, ihre individuellen Erfahrungen verliehen einigen Mystikerinnen aber eine Autorität, die auch Bischöfe und Päpste anerkannten. Mit der Reformation und beginnenden Neuzeit verlor das platonische Weltbild an Überzeugungskraft. Der Akzent mystischer Ausdrucksformen verlagerte sich auf die Innerlichkeit. Luthers Christusfrömmigkeit, die er als innerlich stärkende und tröstende Begegnung mit der Person Jesus Christus beschrieb, bietet dafür ein schönes Beispiel. Aus den spiritualistischen Ausläufern der Reformation stieg ein interessantes neues Territorium auf, in dem Menschen die Gegenwart Gottes wahrnahmen. Die Naturfrömmigkeit Jakob Böhmes wirkte tief hinein in die Neuzeit, beeinflusste Romantik und Idealismus, aber auch naturfromme Seelen wie Goethe, Alexander von Humboldt und John Muir thematisierten die Natur als Sphäre geheimnisvoller göttlicher Gegenwart. Romantiker sprechen von Erfahrungen, in denen ihnen die Welt als Heimat und Zuhause aufscheint. Dichter erzählen von ihren Berührungen mit dem Geheimnis der Wirklichkeit, die sie trotz aller Schrecknisse der Welt mit dem Lauf der Dinge versöhnt. Die Linien der Mystik führen weit in die moderne Kultur und in alle christlichen Konfessionen hinein. Fjodor Dostojewski schilderte in Die Brüder Karamasow die Anziehungskraft der Mystik in der russischen Tradition, Rainer Maria Rilke, Edith Stein und Pierre Teilhard de Chardin sind Beispiele einer wirkmächtigen Rezeption mystischer Ideen im Katholizismus, der protestantische Theologe und Arzt Albert Schweitzer beschrieb, wie ihn das Aufleuchten der Ehrfurcht vor dem Leben als mystisches Erlebnis zu tätiger Lebenskraft inspirierte. Diese breite mystische Tradition findet neue Ausdrucksformen religiöser Erfahrung, sie repräsentiert die kontemplative Seite der Religion und bildet eine Brücke, die vom traditionellen Christentum zu dem hinüberführt, was Menschen heute bewegt. Das Christentum wirkt im Nachdenken der Einzelnen, in dem, was sie in ihrer Welterfahrung berührt und was sie in die alltägliche Lebensführung umsetzen. Die große Bedeutung individueller Religiosität unterstreicht schließlich auch eine der wichtigsten religiösen Praktiken des Christentums. Das Gebet wird nicht nur im gemeinschaftlichen Gottesdienst gesprochen, sondern auch allein. Ein Gebet ist Kontemplation, Nachdenken, «Weltandacht» oder ein Gespräch mit Gott. 2. Institution: Die Sozialgestalten des Christentums
Die Kraft für die individuelle christliche Lebensführung kann das Christentum seinen Anhängerinnen und Anhängern nur dann geben, wenn seine Motive und Impulse in einer Gemeinschaft vermittelt, bestärkt und abgesichert werden. Ein Christsein ohne Kirche gibt es nicht – so wie es keine Kirchen ohne Christinnen und Christen gibt. Wie sehr die innerliche Begeisterung und Ergriffenheit der Glaubenden von einer Einbindung in eine Gemeinschaft abhängt, wird schon am frühen Christentum sichtbar. Die Überzeugung, dass der Geist Christi unter ihnen gegenwärtig ist, verwirklichte sich nicht nur in den Herzen der frühen Christen, sondern auch in der Art, wie sie miteinander lebten und umgingen. Das Ideal des Liebeskommunismus, das Lukas in der Apostelgeschichte in so hellen Farben zeichnete, nahm Impulse auf, die auf Jesus selbst zurückgingen. Seine Jünger lehrte er: «Wer groß sein will unter euch, der soll euer Diener sein; und wer unter euch der Erste sein will, der soll aller Knecht sein.» (Mk 10,43–?44) Anders also als sonst üblich sollte es zugehen unter den Christinnen und Christen, die daraus den Anspruch ableiteten, als «Kontrastgesellschaft» (G. Lohfink) in der Welt zu leuchten. Aus dieser Berufung bezog das frühe Christentum seine Energie, sich als eine solidarische Gemeinschaft im unterstützenden Einstehen füreinander zu einem Ziel aufzumachen, das jenseits der Geschichte lag. Mit einer Vielzahl von Bildern beschreibt das Neue Testament dieses Gemeinschaftsideal. Es reicht vom antiken Freundschaftsbund im Johannesevangelium über das Bild von einem gemeinsam durch die Zeit wandernden Gottesvolk im Hebräerbrief und die Vorstellung, eine Familie zu sein, bis hin zu der Annahme, die Kirche sei eine eigene, der «Welt» enthobene Sphäre des göttlichen Heils. Paulus beschreibt, wie die Unterschiede zwischen den Geschlechtern, zwischen Nationalitäten, ja sogar zwischen Herren und Sklaven gleichgültig werden (Gal 3,28). Wo der Geist Christi präsent ist, werden die üblichen Verhaltensmuster in menschlichen Gemeinschaften außer Kraft gesetzt. Die Stärkeren hören auf, sich gegenüber den Schwächeren durchzusetzen: «Niemand suche das Seine, sondern was dem andern dient.» (1 Kor 10,24) Paulus fasst dies in das Bild der Kirche als Leib Christi zusammen. Der göttliche Geist realisiert sich notwendigerweise in den Einzelnen mit ihren besonderen Gaben (Charismen), die je für sich einen Wert haben, und fügt sie zu einem Ganzen zusammen. In diesen sozialen Erfahrungen verstand sich das frühe Christentum als ein Ereignis, das das Reich Gottes vorwegnimmt. Die wachsenden Gemeinden bildeten mit der Zeit Sozialformen aus und regelten Aufgaben, Rechte und Pflichten. Auch die religiöse Praxis nahm festere Formen an. Die Ausbildung von Traditionen legitimierte Glaubensinhalte und Glaubenspraktiken. Die zunehmende Institutionalisierung provozierte schon in der Alten Kirche und von da ab in regelmäßigen Abständen Widerstände. In ihnen scheint eine Sehnsucht nach Unmittelbarkeit und Authentizität auf. Einige in den Gemeinden wollten in der eigenen Gotteserfahrung nicht allein auf die Vermittlung durch Amtsträger oder die Vorgaben von Glaubensregeln angewiesen sein. Viele der Spaltungen innerhalb des Christentums sind Proteste gegen die vorherrschende Form des christlichen...