Leemann / Rosenmund / Scherrer Schule und Bildung aus soziologischer Perspektive (E-Book)
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-0355-0691-4
Verlag: hep verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Ein Studienbuch für Lehrpersonen in Aus- und Weiterbildung
E-Book, Deutsch, 272 Seiten
Reihe: Preselect
ISBN: 978-3-0355-0691-4
Verlag: hep verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Dieses E-Book enthält komplexe Grafiken und Tabellen, welche nur auf E-Readern gut lesbar sind, auf denen sich Bilder vergrössern lassen.
Der Bereich Schule und Bildung wird bislang vorwiegend von den Disziplinen Pädagogik und Psychologie bearbeitet. Bei der Fokussierung auf das Individuum stossen Lehrpersonen und Bildungsverantwortliche jedoch schnell an die Grenzen ihres professionellen Handelns. Um Situationen im Berufsalltag adäquat zu deuten, Probleme angemessen zu bearbeiten und Bildungsinstitutionen wissensbasiert steuern zu können, ist deren gesellschaftliche und historische Kontextualisierung Voraussetzung. In diesem Band werden deshalb spezifisch soziologische Zugänge zu Schule und Bildung vorgestellt.
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KAPITEL 2 Zur Soziologie des Lehrberufs
Geschichte, gesellschaftliche Lage und berufliches Selbstverständnis: Das Beispiel von Lehrerinnen und Lehrern an Volksschule und Gymnasium Ursula Streckeisen Einleitung Keine moderne Gesellschaft kann ohne die Institution Schule und ihre Kernakteure, die Lehrerinnen und Lehrer,28 bestehen. Neben der familialen Sozialisation setzt die Sicherung des gesellschaftlichen Zusammenhalts nämlich auch ausserfamiliale, im Rahmen des Bildungswesens organisierte Eingliederungsprozesse junger Menschen voraus. Ort dieser absichtsvollen, geplanten Sozialisation sind die Schulen, in denen Lehrerinnen und Lehrer der heranwachsenden Generation breit angelegtes Wissen sowie gesellschaftliche Normen und Werte vermitteln und die Kinder und Jugendlichen beim Erwachsenwerden begleiten. Der heutige Lehrerberuf mit all seinen Facetten ist das Ergebnis einer historischen Entwicklung, die Hand in Hand mit der Entstehung des öffentlichen Bildungswesens geht. Aus dem Dorfschulmeisterlein des Spätmittelalters wurde der staatlich angestellte ‹Herr Lehrer›; aus der Vielfalt von Theologen, Handwerkern und Küstern, die im 16. Jahrhundert auf dem Land einigen wenigen Kindern nebenbei das Schreiben und Rechnen beibrachten, wurde im 19. Jahrhundert eine gesellschaftlich sichtbare, ‹stolze› Berufsgruppe. Allerdings hatten diese Lehrer auch zunehmend Aufgaben zu übernehmen, die mehr den erstarkten Nationalstaat als sie selber interessierten und berufliche Spannungen erzeugten. Zu diesen Aufgaben gehörte vor allem auch das Selegieren von Schülerinnen und Schülern im Zusammenhang mit Schullaufbahnentscheiden. Der Begriff ‹Lehrer› verbindet sich im Alltagsdenken vielfach mit dem Bild des Volksschullehrers, jener Person also, die im Rahmen der heute obligatorischen Schule Unterricht erteilt. Der vorliegende Text geht weiter, da er auch die Lehrerinnen und Lehrer an Gymnasien29 einbezieht.30 Das ermöglicht Vergleiche, welche die Besonderheit der beiden Berufe (Volksschullehrer und Gymnasiallehrer) verdeutlichen. Auch der Gymnasiallehrberuf ist historisch entstanden: An die Stelle des ‹gelehrten Mönchs› der mittelalterlichen Klosterschulen trat ab dem 16. Jahrhundert der Theologe, der an einer sogenannten höheren Schule den Kindern privilegierter Milieus Unterricht erteilte, bevor er eine Pfarrstelle übernehmen konnte. Im 19. Jahrhundert trat der eigentliche Gymnasiallehrer auf den Plan. Man kann ihn als humanistischen Schulmann bezeichnen, der sich später zum Fachwissenschaftler wandelte. Das 20. und vor allem das 21. Jahrhundert sind dann von Entwicklungen im Bildungswesen geprägt, die zu einer Annäherung von Volksschul- und Gymnasiallehrberuf führen. Wie ist es so weit gekommen und in welchen Spannungsfeldern stehen die verschiedenen Lehrerinnen und Lehrer heute? Dies sind die Fragen, die uns im Folgenden beschäftigen. Abschnitt 1 legt mit einigen theoretischen Konzepten Grundlagen, die einen soziologischen Blick auf den Lehrberuf ermöglichen. Abschnitt 2 befasst sich mit der historischen Herausbildung der beiden Lehrberufe Volksschul- und Gymnasiallehrer. Wir zeigen in erster Linie, wie die Tätigkeit des Lehrens im Verlauf der Geschichte zunehmend ‹Berufsform› und dann ‹Professionsform› angenommen hat, und beleuchten die Frage, inwieweit die Entwicklungen heute wieder von diesen Formen wegführen, indem sie eine Deprofessionalisierung einleiten. Abschnitt 3 richtet den Blick auf berufliche Spannungen, mit denen Lehrkräfte heute konfrontiert sind. Zunächst thematisieren wir in diesem Abschnitt die Lehrer-Schüler-Beziehung in theoretischer Hinsicht und erörtern eine spezifische Spannung, die als wesentliches Charakteristikum des modernen Lehrberufs bezeichnet werden kann: die Spannung zwischen pädagogischen und nicht-pädagogischen, selegierenden Aufgaben. Vor diesem Hintergrund fragen wir danach, wie Lehrerinnen und Lehrer diese Spannung in ihren beruflichen Selbstdeutungen zu bewältigen suchen, und nutzen dabei Ergebnisse einer empirischen Studie, die sich für Volksschullehrerinnen und -lehrer interessiert.31 1Berufs- und professionstheoretische Erörterungen Gesellschaften haben Bestand dank der Arbeit, die von Menschen geleistet wird. Man denke an die Produktion von Nahrungsmitteln und Maschinen, an den Transport von Personen und Gütern oder an ärztliche Hilfe. Ein Grossteil dieser unverzichtbaren, gesellschaftlich nützlichen Arbeit nimmt in modernen Lebenszusammenhängen die Form der Erwerbsarbeit an und findet typischerweise in besonderen Arrangements ausserhalb von Familie und Verwandtschaft statt. Erwerbsarbeit ist arbeitsteilig organisiert, dabei bringt die Arbeitsteilung unter anderem eine Aufteilung der Arbeit auf verschiedene Berufe und Professionen mit sich, die in qualifiziertem Modus jeweils spezifische Aufgaben übernehmen. Das Beruflichkeitsprinzip und das Professionsprinzip sind besonders tief im deutschsprachigen Raum verankert. 1.1 Zum Berufsbegriff Unter ‹Beruf› verstehen wir in soziologischer Lesart zunächst ein Bündel von Arbeitsfähigkeiten, das sich gesellschaftshistorisch herausgebildet hat, sozial normiert und von anderen Berufen klar abgrenzbar ist (Beck, Brater und Daheim 1980 u. a.). Beruf ist keine Jedermannstätigkeit oder Jedefrautätigkeit, ein Mindestmass an fachlicher Ausbildung ist die Voraussetzung, um einen Beruf auszuüben (Weber 1922/1985). Beruf ist auch kein Job, der ohne inneres Engagement ausgeübt und beliebig gewechselt werden könnte. Vielmehr wird der Beruf mit einer gewissen Leidenschaft ausgeübt und bringt Anerkennung. Für das einzelne Individuum bildet er denn auch ein Stück weit die Basis der eigenen sozialen Identität, hat also stabilisierende Bedeutung (Schelsky 1965/1972). Auch für die Gesellschaft haben Berufe eine stabilisierende Bedeutung, denn sie stellen eine soziale Institution32 dar, die einen festen, dauerhaften Bestandteil des sozialen Ganzen bildet und die einzelnen Berufstätigen als solche gesellschaftlich integriert. Viele, aber nicht alle Berufe kennen einen Berufsverband, welcher Regeln für die Ausbildung und die Berufsausübung festlegt und Interessenpolitik betreibt. Eine solche Interessenpolitik strebt nicht zuletzt danach, dass dem Beruf die alleinige Berechtigung zur Ausübung bestimmter Tätigkeiten zugesprochen wird. In seiner reinsten Ausprägung hat ein Beruf Monopolcharakter. Jeder Beruf hat zwei Seiten; er ist gewissermassen doppelsinnig: Wer einen Beruf ausübt, erbringt in der arbeitsteiligen Gesellschaft nicht nur gesellschaftlich nützliche, sachliche Leistungen, sondern kann mit seiner Arbeit auch Geld für seinen Lebensunterhalt erwerben (Weber 1922/1985). In (kapitalistischen) Marktgesellschaften tun Berufsinhaber also gesellschaftlich Nützliches und sichern dadurch zugleich ihre eigene materielle Lage. Beck, Brater und Daheim sprechen in diesem Zusammenhang von einer objektiv-gesellschaftlich gegebenen «doppelten Zweckstruktur» (Beck, Brater und Daheim 1980, S. 243 ff.), die auf der subjektiven Ebene des Erlebens und Empfindens zu einer Ambivalenz zwischen einem sachbezogenen, gesellschaftlich nützlichen Engagement einerseits und einer instrumentellen, rein zweckorientierten Haltung andererseits führt. Die Autoren beziehen sich dabei auf die Marx’sche Unterscheidung von Gebrauchswert und Tauschwert menschlicher Arbeit (Marx 1890/1961). Auf der instrumentellen, tauschwert-orientierten Seite kann neben dem Interesse an finanziellen Ressourcen auch das Interesse an einem Zugewinn von zunächst immateriellen Ressourcen wie Macht, Status oder Prestige eine Rolle spielen. Die Doppelsinnigkeit moderner beruflicher Arbeit enthält die Gefahr, dass sich Tauschwert- und Gebrauchswertinteressen voneinander loslösen. Der Krebsforscher etwa, der sich hauptsächlich über seinen Aufstieg im Wissenschaftsbetrieb Gedanken macht und pausenlos publiziert, ohne sich weiter in die (sachbezogene) Krebsforschung zu vertiefen, trägt nicht zur Wissenserweiterung bei und vernachlässigt somit seine eigentliche Aufgabe. Die Idee der Doppeltheit des Berufs ist nicht neu. Schon Martin Luther unterschied einen geistlichen und einen weltlichen Beruf des Christenmenschen (vocatio spiritualis und vocatio externa). In der Aufklärung wurde zwischen einem ‹inneren› und einem ‹äusseren› Beruf unterschieden (Conzé 1972, S. 493 ff.). Diese Vorstellung prägt auch das Berufskonzept von Max Weber (1864–1920), vor allem in seinen Werken zur «Wissenschaft als Beruf» (1919/1988) und zur «Politik als Beruf» (1919/1988). In beiden Schriften betont Weber die Notwendigkeit der leidenschaftlichen Hingabe an eine Sache für den Fall, dass die berufliche Arbeit gelingen soll. Der Berufsinhaber33 lässt sich von seiner Aufgabe hinreissen und begeistert auch seine Kollegen oder Klienten. Ohne die Ausseralltäglichkeit der Leidenschaft, so Weber, kann die gewöhnliche, alltägliche Leistung des Fachmenschen nicht erbracht werden. In einem...