Leetz | Marischa - Mehr als ein Wunder | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 165 Seiten

Leetz Marischa - Mehr als ein Wunder

Eine Überlebensgeschichte
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-8353-4783-0
Verlag: Wallstein
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Eine Überlebensgeschichte

E-Book, Deutsch, 165 Seiten

ISBN: 978-3-8353-4783-0
Verlag: Wallstein
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Ein ungewöhnliches, leises Überleben.

Als geliebtes Kind aufgewachsen in Lodz überlebt Maria König (1921-2019), genannt Marischa, als junge Frau das dortige Ghetto sowie mehrere Lager. Als sie in Theresienstadt befreit wird, ist ihre gesamte Familie ermordet. Mit ihrem Mann Adi, ebenfalls ein Holocaust-Überlebender, lässt sie sich schließlich als überzeugte Sozialistin in der DDR nieder und lebt dort ein langes und - wie sie sagt - glückliches Leben.
Als Antje Leetz sie dazu ermutigt, ihre Erinnerungen in ein Mikrofon zu sprechen, damit diese nicht verloren gehen, ist Maria König fast 100 Jahre alt und lebt im Altersheim. Die beiden kennen sich schon lang, sind vertraut miteinander. Und so ruft sich Marischa das Erlebte in Erinnerung - teils zum ersten Mal. Sie ringt um Worte und Gedanken, sucht nach lange verdrängten Bildern, die hochkommen, wieder abtauchen. Im Erzählen entfaltet sich ihre Überlebensgeschichte - voller Verlust und Schmerz, aber auch Dankbarkeit, Lebensfreude und Humor - und ein faszinierendes Zeitpanorama.

Leetz Marischa - Mehr als ein Wunder jetzt bestellen!

Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


Kindheit in Lodz
Doch traurig fängt meine Geschichte gar nicht an. Hier ist ein schönes Foto von mir, siehst du. Da war ich 13 Jahre alt. Ich sitze auf dem Gras im Kreis der Kinder aus unserer Familie. Links von mir, das ist mein kleiner Cousin Stefan, das Mädchen mit der Schleife heißt Mirka, und ganz rechts von mir, nur halb zu sehen, das ist mein kleiner Bruder Alexander, der später im Ghetto verhungert ist. Ich weiß auch nicht, wie das Foto die Zeiten hat überstehen können. Es ist das einzige Bild, das mir von damals geblieben ist. Ein anderes kann ich dir nicht bieten. Das sind auch die einzigen Ferien, an die ich mich erinnern kann. Wir verbrachten sie in der Umgebung der Stadt, in einer sehr schönen Gegend an einem Fluss. Adi hat immer gesagt, ich strahle auf dem Foto was aus. Meinen kleinen Cousin neben mir, der mit den schwarzen Augen und den schwarzen Locken, der Stefan, den haben sie auch kassiert. Also in Auschwitz vergast. Mirka ist vor kurzem in Schweden gestorben. Wir waren gleichaltrig und haben viel Zeit miteinander verbracht. Ich war ein anderer Mensch damals. Wahrscheinlich war ich nach dem Krieg gänzlich anders als vor dem Krieg. Mein Vater hat früher immer gesagt: »Ich zeige ihr einen Finger, und da lacht sie schon!« Ich war so unbeschwert. Ich bin in Polen geboren. Meine Heimatstadt ist Lodz, eine Industriestadt mit einer ziemlich großen Bevölkerung für diese Zeit. Ungefähr 600.000 Einwohner. Lodz wurde auch das polnische Manchester genannt, weil es viele Textilfabriken gab mit Färbereien usw. Wie ich mich erinnere, war das eine Stadt ohne Kanalisation, mit engen Straßen, mit vielen Schornsteinen, aber auch mit viel Leben, sowohl was die Kultur betrifft als eben auch die Industrie. Wir waren zu Hause drei Kinder. Ich hatte zwei Brüder, einen älteren, den Joachim, Jaschek genannt, und den jüngeren, den Alexander. Eigentlich waren wir bis zum Krieg eine, ich würde sagen, ziemlich glückliche Familie. Wir gingen normal zur Schule, und die Eltern gaben sich Mühe, damit wir uns wohl fühlten. Sie hatten zwar einen ganzen Sack voller Sorgen, die aber zum Leben dazugehörten. Weil man jeden Monat Miete bezahlen musste und im Winter die Kohlen. Strom war auch nicht billig. Schon als Mädchen von acht Jahren wusste ich, dass das Leben nicht einfach ist, dass man jeden Tag überlegen muss, ob das Geld ausreicht. Aber wir haben immer gewusst, dass der Vater Arbeit hat und Geld nach Hause bringt. Und die Eltern versuchten, alles für die Familie zu geben. Heutige Kinder können sich nicht vorstellen, dass man glücklich sein kann, auch wenn man nur sehr wenige Spielsachen hat. Spielsachen kannte man damals in Polen kaum. Jedenfalls nicht in meinen Kreisen. Ich erinnere mich, dass wir Bauklötze besaßen aus Holz, und an eine Puppe erinnere ich mich. Aber ich glaube nicht, dass die Familie irgendwie Geld dafür ausgegeben hatte. Doch vermisst habe ich das nicht. Und auch gar nicht gewusst, dass andere Kinder vielleicht mehr besaßen. Wir wohnten in einem vierstöckigen Haus, in der dritten Etage. Hier wurde ich geboren. Gegenüber wohnte ebenfalls eine jüdische Familie. Aber unter uns wohnten Nichtjuden. Meine Mutter, Bella Wollenberg, mochte diese Wohnung sehr, weil sie ein Wohnzimmer, ein Schlafzimmer, ein Kinderzimmer, eine Küche und ein Bad hatte. Ja, das Badezimmer war sehr wichtig, geradezu ein Luxus, den nicht jeder in Polen kannte. Im Bad stand ein Ofen, den wir einmal in der Woche heizten. Dann wurde hübsch der Reihe nach gebadet. Erst die drei Kinder, zum Schluss die beiden Erwachsenen. Danach waren wir alle sauber. Kindergarten war bei uns kein Thema. Wenn eine Frau Kinder hatte, blieb sie in der Regel zu Hause. Ich besaß also kaum Gefährten. Manchmal ging ich zu meiner Tante Ida, die einen Sohn in meinem Alter hatte, mein Cousin. Mit dem war ich gerne zusammen. Mein Bruder Jaschek spielte nur selten mit mir, weil der Altersunterschied zwischen uns ziemlich groß war. Doch ich spielte auch gern allein, daran war ich gewöhnt. So weit ich zurückdenken kann, wusste ich, dass im Polen der damaligen Zeit zwischen den Christen und Juden nicht viele Gemeinsamkeiten bestanden. Meine Mutter ließ mich nie auf der Straße spielen, weil sie Angst hatte, dass wir von anderen nichtjüdischen Kindern geschlagen werden. Oder dass man nichts mit uns zu tun haben will. In dem Viertel, in dem wir wohnten, lebten viele Christen. Ich erinnere mich, im Haus gegenüber war so ein kleiner Laden, in dem meine Mutter kleine Sachen einkaufte, die sie jeden Tag brauchte. Die Besitzer waren Nichtjuden. Aber diesen Laden besuchte sie nur, weil er gleich gegenüber war und sie keine Zeit verschwenden musste. Meist ging sie in ein anderes, ein jüdisches Geschäft, das ein bisschen weiter entfernt lag. Sie nahm mich oft mit. Und da sah ich sie, lange vor dem Krieg, die Plakate, die an den Zäunen klebten und mir einen Schreck einjagten: »Juden raus! Geht nach Madagaskar!« Warum gerade nach Madagaskar ist mir bis heute ein Rätsel geblieben. Jedenfalls bin ich mit dem Bewusstsein groß geworden, dass die polnische Bevölkerung uns Juden nicht mochte. Damals habe ich mir viele Gedanken über meine Herkunft gemacht. Ich fragte mich oft, warum ich dunkle Haare und dunkle Augen habe und andere nicht. Oder ich dachte: »Ja, das stimmt, blaue Augen sind etwas Wunderbares.« Ich bewunderte die Mädchen in meinem Gymnasium, die blaue Augen hatten. Bis heute finde ich blaue Augen schön. Auch mein Adi hatte blaue Augen, obwohl er jüdischer Herkunft war. Aber in unserer Familie waren alle dunkel. Damals stand sogar in den Zeitungen, dass die Juden hässlich seien, und ihre typischen Merkmale minderwertig. Ich fragte mich: Was bedeutet es, wenn man anders aussieht? Und noch heute verwundert es mich ein bisschen, dass jeder gleich erkannte, dass man Jude ist. Ich bin doch genauso angezogen, trage die gleichen Sachen wie die anderen, dachte ich. Ich fühlte mich sehr isoliert. Genauso war es auch in der Schule. Ich besuchte ein polnisches Mädchengymnasium. Die Hälfte der Schülerinnen kam aus assimilierten jüdischen Familien, die nicht gläubig waren. In Lodz gab es zwar auch ein jüdisches Gymnasium, aber meine Eltern wollten unbedingt, dass ich ein polnisches besuche. Dort wurde auch Religion unterrichtet, ich hätte sogar das Fach »Jüdische Religion« wählen können, aber eben auch »Christliche Religion«. Doch beide Fächer waren freiwillig. Obwohl wir genauso viel Geld für die Schule bezahlten wie die anderen Familien, spürten wir jüdischen Mädchen, dass wir uns von den nichtjüdischen unterschieden. In der Jugend allerdings hat mich das weniger bedrückt als in der Kindheit, denn wir jüdischen Mädchen kannten uns und waren miteinander befreundet. Wir hielten wahrscheinlich deshalb so fest zusammen, weil die anderen nichts mit uns zu tun haben wollten. Vielleicht war es auch so, dass die anderen meinten, wir wollten nichts mit ihnen zu tun haben. Das kann ja auch möglich sein. Aber die anderen wurden nicht auf der Straße angepöbelt, so wie wir. Auch die Freunde meines Bruders waren alle nichtreligiöse Juden – sehr fortschrittliche junge Leute, die die Welt verbessern wollten. Aber an seinem Gymnasium hatte er auch Freunde unter den Nichtjuden. Sie waren vereint durch gemeinsame, meist politische Interessen. Ich habe mich oft mit ihm darüber unterhalten und ihn gefragt, warum es so viel Zwist zwischen Juden und Nichtjuden geben muss. Mein Elternhaus war nicht religiös. Mein Vater ging nicht in die Synagoge, und meine Mutter pflegte niemals am Freitag die Schabatt-Kerzen anzuzünden, wie es in gläubigen jüdischen Familien vorgeschrieben war. Ihre Eltern allerdings hielten sich streng an diese religiösen Riten. Trotzdem war uns immer bewusst, dass wir Juden sind, und wir haben uns zu unserer Herkunft bekannt. Wir fühlten uns verbunden mit Bekannten und Freunden, die allesamt Juden und genauso wie wir nicht religiös und nicht traditionell waren. Meine Eltern kauften vielleicht zum Pessachfest Matze.[2] Aber sie betrachteten das nicht als ihre Pflicht. Doch gleichzeitig kochte meine Mutter nur jüdische Gerichte, die Rezepte hatte sie von ihren Eltern übernommen. Sie mussten allerdings nicht unbedingt koscher sein. Aber diese Gerichte waren nach dem Geschmack meiner Mutter, und sie war es gewohnt, so zu kochen. Und es schmeckte uns allen. Schinken oder Schweinefleisch hat sie nie gegessen. Aber meinen Vater juckte das gar nicht. Er erklärte immer, die Welt von heute und auch die von morgen wird nicht davon abhängen, welche Religion einer hat. Und manchmal zog er mich an sich und sagte: »Du musst nicht zum Religionsunterricht gehen. Wenn du Fragen hast, komm zu mir. Ich erklär dir alles.« Er betrachtete Religion als etwas, das sich überlebt hatte, das wir nicht mehr brauchten. Ich wuchs in einer Atmosphäre auf, in der man sich wohlfühlen konnte in Polen. Ich spürte zwar, dass es Antisemitismus gab, aber ich wollte in diesem Land bleiben. Und ich genoss die besondere Atmosphäre, die in Polen herrschte, das nach dem Ersten Weltkrieg eine Chance zum Aufbau bekam. Ich liebte die polnische Sprache, die polnische Literatur und betrachtete das alles als, ja, als meine Muttersprache, als meine Kultur. Das Jiddische war nicht meine Mameloschn. Als unsere Heimat sahen wir Polen an. So wie auch viele Juden in Deutschland dies als ihre Heimat betrachteten. Wir waren eigentlich sehr patriotisch. Polen existierte ja erst seit dem Ende des Ersten Weltkriegs, musst du wissen. Davor war es...


Leetz, Antje
Antje Leetz, geb. 1947 in Frankfurt a. M., studierte an der Humboldt-Universität Berlin Germanistik und Slawistik und arbeitete viele Jahre als Verlagslektorin für moderne russische Literatur. Nach einem Arbeitsaufenthalt als Austauschredakteurin in Moskau von 1985 bis 1988 ist sie freiberuflich als Rundfunkautorin, Herausgeberin und Übersetzerin tätig.



Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.