Leonhard | Integration und Gedächtnis | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 390 Seiten

Leonhard Integration und Gedächtnis

NVA-Offiziere im vereinigten Deutschland
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-7445-1042-4
Verlag: Herbert von Halem Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection

NVA-Offiziere im vereinigten Deutschland

E-Book, Deutsch, 390 Seiten

ISBN: 978-3-7445-1042-4
Verlag: Herbert von Halem Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection



Politische Systemwechsel gehen oft mit Erinnern und Vergessen einher. Es kann zur Herausbildung und dauerhaften Verfestigung von Wirklichkeiten kommen, die unter Umständen individuell variieren. Nina Leonhard geht in ihrer Arbeit den Fragen nach, wie sich die gesellschaftliche Integration staatlicher Funktionsträger nach einem politischen Umbruch in struktureller sowie kultureller Hinsicht vollzieht und welche Bedeutung hierbei dem Umgang mit unterschiedlichen Wissensbeständen zukommt. Während der friedlichen Revolution 1989 und der darauf folgenden Wiedervereinigung stellen sich diese Fragen in besonderer Weise: Setzt doch die Schaffung einer neuen politischen Ordnung eine Neukonfiguration des gesellschaftlichen Wissensvorrates voraus. Am Beispiel, einer bis dato wenig beachteten Berufsgruppe, der ehemaligen Berufsoffiziere der Nationalen Volksarmee (NVA), analysiert die Autorin die als 'Wissensproblem' gefasste Integrationsproblematik in theoretischer wie empirischer Hinsicht. Auf Grundlage berufsbiographischer Interviews demonstriert sie eindrucksvoll, wie die betroffenen Offiziere das Ende der DDR verarbeiteten und welches Verhältnis sie zur Ordnung des vereinigten Deutschlands entwickelten. Die Untersuchung liefert neue Erkenntnisse über die Möglichkeiten und Grenzen des Umgangs mit konkurrierenden Wissensbeständen. Sie zeigt auf, wann und wie soziale Akteure von ihrer Vergangenheit Abstand nehmen oder genau dazu nicht in der Lage sind und leistet damit einen wichtigen Beitrag zur aktuellen Integrationsforschung.

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1. Einleitung
„So what is normality? Isn’t it just the way people manage to live under any particular circumstance (…) [?]“ (Gordimer 1994: 85) Anfang März 2011 erregte eine ungewöhnliche Begebenheit die öffentlichen Gemüter in Berlin (vgl. Leonhard 2014): Etwa hundert einstige Offiziere der Nationalen Volksarmee (NVA) der DDR hatten sich in Uniform in einem Lokal auf dem Gelände des Tierparks im Ostberliner Ortsteil Friedrichsfelde zusammengefunden, um der Aufstellung der DDR-Streitkräfte am 1. März 1956 zu gedenken (vgl. Hasselmann/Stollowksy 2011). Das Bekanntwerden der Feier rief allseits Kritik hervor: Alle im Berliner Abgeordnetenhaus vertretenen Parteien, einschließlich der damals mitregierenden Partei „Die Linke“, distanzierten sich von der Veranstaltung. Die Vereinigung der Opfer des Stalinismus (VOS) nahm sie zum Anlass, um ein Verbot des Zeigens von Uniformen und Symbolen der DDR in der Öffentlichkeit zu fordern (ebd.). Seitens der Behörden wurden indes keine weiteren Schritte unternommen, da der Berliner Verfassungsschutz Organisatoren wie Teilnehmer der Gedenkfeier als ungefährlich für die freiheitlich-demokratische Grundordnung der Bundesrepublik einstuft (vgl. Jacobs 2011). Die öffentliche Aufmerksamkeit für die Veranstaltung anlässlich des 55. Gründungstages der NVA im Berliner Tierpark ebbte daraufhin wieder ab. Dieser Vorfall ist in zweifacher Hinsicht aufschlussreich: Zum einen lenkt er die Aufmerksamkeit auf eine Personengruppe, die, von punktuellen Ausnahmen abgesehen,1 seit Jahren aus dem Licht der breiten Öffentlichkeit verschwunden ist und über deren Werdegang seit der Vereinigung der beiden deutschen Staaten und der damit verbundenen Auflösung der NVA vergleichsweise wenig bekannt ist. Zum anderen illustriert die Episode, dass mit Blick auf die DDR auch über zwei Jahrzehnte nach deren Untergang unterschiedliche soziale Erinnerungssowie Vergessensansprüche bestehen: Die vormaligen NVA-Angehörigen reaktualisierten mit der Veranstaltung im Tierpark Friedrichsfelde den 1957 in der DDR eingeführten und seitdem bis zum Ende der DDR alljährlich gefeierten „Tag der Nationalen Volksarmee“ und knüpften so an die militärische Gedenkpraxis in der DDR an. Genau dagegen richteten sich die Kritiker der Feier, indem sie die Legitimität einer derartigen Erinnerung unter Berufung auf den diktatorischen Charakter des DDR-Regimes und seiner Institutionen bestritten. Sie erneuerten ihrerseits die seit der Vereinigung in Politik und Öffentlichkeit vorherrschende negative Sichtweise der DDR und ihrer Streitkräfte. Wissenssoziologisch betrachtet handelt es sich hierbei um ein konflikthaftes Zusammentreffen unterschiedlicher Wissensbestände in Bezug auf die DDR beziehungsweise die NVA, welche die Existenz verschiedener sozialer Wirklichkeiten und damit ein Integrationsproblem markieren. Dass es unterschiedlich gelagerte Sichtweisen auf ein und denselben Gegenstand und somit unterschiedliche Wirklichkeiten geben kann, ist eine Beobachtung, die wir alltäglich machen: angefangen vom morgendlichen Disput zwischen Lebens(abschnitts)partnern darüber, wie das Frühstücksgeschirr in der Spülmaschine zu verstauen sei, bis hin zur Auseinandersetzung zwischen den im Parlament vertretenen politischen Parteien um die richtige Lösung des Problems der allgemeinen Gesundheitsversorgung in Zeiten knapper Kassen und steigender Ausgaben. Die Problematik, die dem erwähnten Vorfall zugrunde liegt, ist jedoch anders gelagert. Mit der im März 2011 abgehaltene Gedenkveranstaltung wurde an etwas erinnert, das lange – nämlich solange die NVA bestand – offiziell erwünscht und in diesem Sinne allgemein akzeptiert war. Ab einem bestimmten Zeitpunkt verlor dieses Gedenken indes nicht nur seinen ursprünglichen Zweck, sondern auch seine Legitimität: Das bis 1989 ‚richtige‘ Gedenken wurde mit der Vereinigung 1990 zu einer ‚falschen‘, das heißt offiziell und öffentlich unerwünschten Erinnerung. Diejenigen, die daran festhielten, wie etwa der frühere NVA-Armeegeneral und Verteidigungsminister der DDR Heinz Keßler2, der 1993 wegen des Schießbefehls an der innerdeutschen Grenze rechtskräftig verurteilt wurde und einer der Teilnehmer an der Veranstaltung im Tierpark war, verwandelten sich in soziale Außenseiter. Fälle wie dieser verdeutlichen, dass politische Systemwechsel immer auch Rahmenwechsel3 bedeuten: Die sozialen Bedingungen, nach denen individuelle wie kollektive Wissensbestände aufgegriffen und eingeordnet werden, verändern sich mit dem Wandel der politischen Ordnung. Politische Systemwechsel führen zu Veränderungen im „kommunikativen Haushalt“ einer Gesellschaft (Luckmann 1986: 206; siehe hierzu auch Knoblauch 1995: 302 ff.), gehen also mit Erinnern und Vergessen einher und implizieren sowohl die Bewahrung als auch die Modifizierung, Anpassung oder Aufgabe von Wissensbeständen und damit das, was man als ‚Gedächtnisarbeit‘ bezeichnen könnte. Wie die öffentliche Diskussion um die NVA-Gedenkfeier beispielhaft veranschaulicht, wandeln sich auf die Vergangenheit bezogene Wissensbestände allerdings nicht immer und überall in gleicher Weise. Vielmehr kann es zur Herausbildung und dauerhaften Verfestigung von Wirklichkeiten kommen, die unter Umständen sehr stark voneinander abweichen. Dies führt zu der Frage, wie dennoch eine wie auch immer geartete Vereinbarkeit und Anschlussfähigkeit von Wissensbeständen sichergestellt werden kann, welche die Voraussetzung für soziale Interaktion und wechselseitige Verbundenheit – kurz: für Integration – der Träger dieser jeweiligen Wirklichkeiten bildet. Und ab wann Differenzierung von Wissensbeständen und Desintegration, das heißt fehlende Anschlussfähigkeit und somit fehlende Kommunikation, zu einem gesellschaftlichen Problem werden. In einer Klärung dieser Frage, die auf die Bedeutung des Gedächtnisses für Integration abhebt, liegt die theoretische Zielstellung dieser Arbeit. Sie wird begründet und zugleich ergänzt durch ein empirisches Erkenntnisinteresse, das auf die Bestimmung von Lage und Selbstverständnis vormaliger NVA-Offiziere im vereinigten Deutschland abhebt. Erklärte Absicht ist es somit, sowohl einen Beitrag zum besseren Verständnis der beabsichtigten und unbeabsichtigten Folgen des gemeinhin längst als abgeschlossen angesehenen Vereinigungsprozesses zu leisten als auch die sozialwissenschaftliche Diskussion über Bedingungen und Faktoren sozialer Integration weiterzuentwickeln. 1.1 Problemaufriss: Die deutsche Vereinigung und das Problem der Integration von Fremden
Die Frage, was Gesellschaften zusammenhält, stellt sich aus soziologischer Sicht immer dann, wenn es um die grundsätzliche Erkenntnis von Formen und Funktionen sozialer Zusammenhänge geht. Das Problem gesellschaftlicher Integration tritt besonders augenfällig in Erscheinung, wenn es aufgrund äußerer oder innerer Umstände zu massiven Auflösungserscheinungen bestehender Strukturen kommt, die die bisherige gesellschaftliche Ordnung nachhaltig verändern. (Bürger)Kriege, Revolutionen und politische Systemwechsel sind Beispiele eines solchen beschleunigten Wandels der Modalitäten gesellschaftlichen Zusammenhalts. Auch die Vereinigung der beiden deutschen Staaten, die auf die friedliche Revolution im Herbst 1989 in der DDR folgte, ist ein solcher Fall, der aufgrund seiner Besonderheiten für die Untersuchung von Integrationsprozessen von speziellem Interesse ist. Die Entscheidung für einen Beitritt der DDR zur Bundesrepublik nach Artikel 23 des Grundgesetzes und damit gegen eine Konföderation (und die daraus resultierende Ausarbeitung einer gemeinsamen neuen Verfassung) nach Artikel 146 hatte bekanntlich die Übertragung der westdeutschen Institutionenordnung auf Ostdeutschland zur Folge. Die damit verbundene Komplexitäts- und Problemreduktion ermöglichte den schnellen Vollzug der Einheit (vgl. Lehmbruch 1990, 1995). Viele mit der Vereinigung zusammenhängende Probleme wurden damit allerdings aus dem politischen Entscheidungsbereich in andere gesellschaftliche Sphären verschoben: „Die Wahl der institutionellen Arena bestimmt den Handlungskontext und die Rationalitätskriterien, unter denen bestimmte Akteure handeln. Dabei werden Probleme in andere Handlungskontexte ausgelagert, auch bleiben alternative Lösungskriterien unbeachtet. Im Einigungsprozeß wurden viele Probleme externalisiert und blieben der Bewältigung der betroffenen Individuen überlassen.“ (Lepsius 2001: 62) Während sich das Alltagsleben für die überwiegende Mehrheit der Westdeutschen durch die Vereinigung kaum veränderte, wurden die Ostdeutschen durch die institutionelle Ausweitung der Bundesrepublik auf das Territorium der DDR quasi von einem Tag auf den anderen mit einem erheblichen Anpassungsdruck konfrontiert. Ihr Verhältnis zu den transformierten institutionellen Settings kann mit der Denkfigur des Fremden (vgl. Merz-Benz/Wagner 2002) soziologisch gefasst werden: Der Fremde, der nach Georg Simmels klassischer Definition als der „Wandernde, (…) der heute kommt und morgen bleibt“ ([1908a] 1968: 509) beschrieben werden kann, steht vor der Herausforderung, in seiner Doppelrolle als Außenstehender und Mitglied einer...


Dr. Nina Leonhard ist als Projektleiterin im Forschungsbereich Militärsoziologie am Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr in Potsdam tätig. Sie studierte Politikwissenschaft an der FU Berlin sowie am Institut d'études politiques de Paris. An der WWU Münster habilitiert sie sich 2016 mit der hier vorliegenden Studie im Fach Soziologie.



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