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E-Book

E-Book, Deutsch, 216 Seiten

Lesen, was kommt

E-Book, Deutsch, 216 Seiten

ISBN: 978-3-446-27064-0
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Im Frühjahr 2021 geht es um Herkunft, Familie, Identität und Zugehörigkeit. Ob humorvoll, ernst oder persönlich, lassen Sie sich überraschen und lesen Sie, was kommt!
Elf Leseproben, elf Bücher – von T. C. Boyle über Monika Helfer bis zu überraschenden Debüts. Die Suche nach der Familie beginnt bei „Vati“, dem großen Porträt einer Nachkriegskindergeneration, und führt über „Das achte Kind“, das gleich drei Väter hat, zu einem Mädchen, das so sehr „Die Fremde“ ist, dass sie sogar die Sprache ihrer Eltern aus Büchern lernen muss. Wie ein ewiges „Unter Wasser Nacht“ fühlen sich hingegen die Schuldgefühle eines Elternpaares an, das seinen Sohn verloren hat. Andere müssen beim Versuch, die deutsche Staatsbürgerschaft zu erlangen, „Eine Formalie in Kiew“ erledigen, was nichts ist gegen den Skandal, den eine Person of Colour entfacht, als klar wird, dass sie WEISS ist: was für eine „Identitti“! Noch spannender ist die „Unsichtbare Tinte“, die in einer französischen Detektei auftaucht, während auf dem Land „Der Tod in ihren Händen“ für Unruhe sorgt. Doch erst „Die Eroberung Amerikas“, ein Gleichnis für unsere von Gier gesteuerte Gesellschaft, zeigt, wie wichtig es nach „Ground Zero“ ist, die Welt endlich neu zu denken. Wie das gehen soll? „Sprich mit mir“ rät einer. Und meint wen?
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Leseprobe
Me and the devil Identitti Ein Blog von Mixed-Race Wonder-Woman Über mich: Das letzte Mal, dass ich mit dem Teufel sprach, war er nackt, sichtlich sexuell erregt und eine Frau. So viel zu sozialen Gewissheiten: Wenn man sich nicht einmal darauf verlassen kann, dass der Teufel ein Mann ist, kann man direkt jede Form von Identität ablegen wie ein altes T-Shirt! Was ich ja gerne tun würde, wenn ich denn eine hätte, die ich an- geschweige denn ablegen könnte. Genau darum ging es bei diesem wie jedem weiteren Treffen mit meinem Devil, der eine Devi ist: Eine indische Göttin mit zu vielen Armen und einer Kette aus den abgerissenen Köpfen ihrer Feinde. Ja, ich spreche von Kali. »Alles Dämonen«, sagte sie in demselben wegwerfenden Tonfall, in dem meine Cousine Priti ›alles Männer‹ sagen würde, und rüttelte ihre Kette, dass ihren erledigten Feinden die Zähne klapperten. Und tatsächlich sahen Kalis Dämonenköpfe alle verdächtig nach Männerköpfen aus. Doch sie war bereits mit anderen Dingen beschäftigt: »Lass uns um die Wette ejakulieren. Wer am weitesten spritzt, hat gewonnen.« Ich deutete verblüfft auf ihre haarige Vulva. »Wie willst du damit …?« »Ah! Nicht nur cis Männer können abspritzen«, rief Kali und guckte dabei so triumphierend, dass mir einen Moment lang nicht einmal auffiel, dass sie gerade cis gesagt hatte. »Und warum auch nicht? Drei Geschlechter hatten wir schon Jahrhunderte, bevor euer Gott auch nur geboren wurde.« »Aber du bist doch meine Göttin«, erinnerte ich sie. »Ich dachte, ich wäre dein Teufel?« »Wo ist da der Unterschied?« Race & sex. Wann immer Kali und ich redeten, ging es um race & sex. Also — in Ermanglung einer korrekten Übersetzung oder auch nur einer, die nicht sofort in bodenlose Abgründe führt — um mein Verhältnis zu Deutschland und Indien, meinen beiden Nicht-Heimatländern (remember: Mixed-Race Wonder-was-auch-immer), und um … Sex. Dieser Blog besteht vor allem aus Transkripten unserer Gespräche. Wenn Ihr ihn lange genug lest, werde ich Euch irgendwann verraten, warum ich mich die ganze Zeit mit einer Göttin unterhalte. Mein Name ist Nivedita Anand. Ihr könnt mich IDENTITTI nennen. Strange Fruit 1 Der Tag, an dem die Hölle ihre Schlünde öffnete und heulende Furien ausspie, fing an wie ein ganz normaler Tag, wenn ein normaler Tag mit einer Rakete anfängt. Das ist keine Rakete, das ist ein Satellit, las Nivedita, zumindest interpretierte sie die Whatsapp ihrer Cousine Priti so. Was Priti tatsächlich geschrieben hatte, war: tisNOrukula isssSATELITE!!! und dazu ein Emoji, das aussah wie ein Bund Spargel. Nivedita schaute an den neunzehn Betonetagen des Deutschlandfunks hoch, die prekär auf einem winzigen Sockel balancierten, der sich zum Rest des Funkhauses verhielt wie der Feuerschweif auf grafischen Darstellungen des Rückstoßprinzips zum Flugkörper, und textete zurück: Eindeutig eine Rakete! An der Spitze des Gebäudes, da, wo sich bei Saturn V die Apollokapsel befunden hatte, formten Eisenstreben einen Pyramidenpfeil in den gleißend grauen Himmel und Nivedita fühlte sich gleichzeitig erhaben und winzig angesichts dieses Betonraumschiffs, über dessen Eingang in blauen Buchstaben stand: Die Nachrichten. Stell dir vor, du wärst eine Terroristin, die schon mehrere Menschen umgebracht hat, riet ihr die nächste Whatsapp von Priti in einer noch fantasievolleren Ansammlung von Buchstaben, oder dass du eine Terroristin bist, die schon gefaked hat, she’d killed loads of Leute. Dann ist das hier ein Klacks. Und ein paar Sekunden später: A small step for you, a big step for humankind ROFL LMAO. Die Glastüren glitten lautlos vor Nivedita auf, sie betrat die heiligen Hallen des Deutschlandfunks. Es roch nach Kerzenwachs und Kunstleder wie bei einer Mischung aus Finanzamt und Geheimdienst, falls der Bundesnachrichtendienst so roch, wie James-Bond-Filme aussahen. Durch die Glasscheibe hatte sie nur den Anzug des Pförtners gesehen und erschrak, als er den Kopf hob, weil er nicht älter war als sie. Doch durch sein bisschen schwarze Dienstkleidung gehörte er zu einer anderen Generation und tanzte zu einer anderen inneren Trommel, es sei denn, er zog sein korrektes Jackett aus oder Nivedita ihre Mischung aus radical chic und seriös — was in vollkommener Unkenntnis der Codes bedeutete, dass sie ihre langen schwarzen Haare am Morgen zu einem Gretchenzopf geflochten hatte, der sich seitdem in stummem, aber entschlossenem Protest Strähne für Strähne auflöste. »Ich soll zu meinem Blog interviewt werden«, sagte sie den Satz, den sie die ganze Zugfahrt über auswendig gelernt hatte. Der Pförtner entgegnete kryptisch: »Wo?« »Äh … hier …?« Er sah sie väterlich an. »Nein, was ist der Name der Redaktion?« Einen Augenblick lang konnte sich Nivedita nicht einmal erinnern, was ihr eigener Name war. Sie fühlte sich wie ein schräg zugezogener Reißverschluss: verhakt und verrutscht. Dann klingelte das nachtblaue Festnetztelefon auf der Theke und rettete sie. »Nivedita Anand«, sagte sie im selben Moment, in dem er auflegte und verkündete: »Sie werden abgeholt.« Sie tat, was sie immer tat, wenn sie sich einer Situation nicht gewachsen fühlte, und ging aufs Klo. Nicht weil sie sich nach einem Quadratmeter Privatsphäre sehnte, sondern um in den Spiegel zu schauen und zu kontrollieren, ob sie noch da war. Auf dem Milchglas der Toilettentür stand: »Frau [ahd. Frouwa ›Herrin‹, ›Gebieterin‹], weibl. erwachsener Mensch. Die Wesensdefinition der F. variiert ja nach geograph. Raum, histor. Epoche sowie Gesellschafts- und Kulturtypus.« »Bist du drin?«, fragte Priti. »Ja«, raunte Nivedita. »Warum gehst du dann ans Handy?« Gespräche mit Priti verliefen immer nach Pritis Regeln, gleich würde ihr bestimmt einfallen, dass sie Wichtigeres zu tun hatte als mit Nivedita zu plaudern, auch wenn sie selbst angerufen hatte. Vor allem dann. Deshalb machte sich Nivedita nicht die Mühe, sich oder irgendetwas zu erklären, sondern sagte nur: »Du solltest das Klo hier sehen, das ist ein Proseminar in Germanistik.« »That’s the spirit!«, stimmte Priti resolut zu. »Fühl dich superior zu das toilet und dann … wait! … Something’s come up, Niv.« Wenn Priti Nivedita wohlgesonnen war, nannte sie sie Niv, ausgesprochen wie der irische Vorname Niamh, der Nieve ausgesprochen wurde. Priti kam aus Birmingham und mochte das, nicht weil man sich in Birmingham besonders mit irischen Frauennamen ausgekannt hätte, sondern weil sie damit Differenz markieren konnte. Als hätte irgendjemand zu bezweifeln gewagt, dass Priti Anders mit großem O wie Other war! Solange sie Nivedita mit dem Sternenstaub ihrer Anerkennung besprenkelte, fühlte sich Nivedita ebenfalls bemerkenswert und nicht merkwürdig. Nur konnte Pritis Laune jederzeit umschlagen, und in weniger großzügiger Stimmung nannte sie Nivedita Nivea, wie die weiße Hautcreme-Marke, die regelmäßig mit rassistischer Werbung Skandale auslöste. »Shit!« »Priti?« »Gotta go. Rufe dich später zurück!« Nivedita tippte auf das rote Telefonhörer-Icon und warf einen tiefen Blick in ihre eigenen Augen, der ihr so gut wie nichts verriet. Sie wünschte inständig, sich von außen sehen zu können, so wie andere sie sahen. Doch war sie genau dazu nicht in der Lage. Sie konnte sich noch nicht einmal so sehen, wie sie sich selbst sah. Aber sie konnte ihren Kajal verwischen, um intellektuellere Schatten um die Augen zu bekommen, also tat sie wenigstens das. Auf der anderen Seite der Milchglastür wartete eine kleine Frau mit einem großen Hund und sagte: »Willkommen bei Deutschlandfunk Nova, ich bin Verena. Kann ich dich Identitti nennen?« Verena hatte perfekte Grübchen wenn sie lächelte, und Nivedita stellte sich sofort vor, wie es wäre, mit ihr Sex zu haben. Dann stellte sie sich vor, wie es wäre, mit ihrem Hund Sex zu haben, verlor aber...


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