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E-Book

E-Book, Deutsch, 269 Seiten

Lesen, was kommt

E-Book, Deutsch, 269 Seiten

ISBN: 978-3-446-27472-3
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Im Frühjahr 2022 geht es um die Familie. Von der Jugend bis zum Tod – und immer auf der Spur nach Machtstrukturen, Verlusten, Erinnerungen und Geschichten, die uns und die Familie prägen.


Elf Leseproben, elf Bücher – von Yasmina Reza über Navid Kermani aus Deutschland und der ganzen Welt. Es geht los in den 70er Jahren, in Rom, wo uns „Der letzte Sommer in der Stadt“ in eine neue Welt eintauchen lässt, führt in die fast sehnsüchtig machende Freiheit San Franciscos der 80er Jahre, die in dem Satz „Die Gezeiten gehören uns“ gipfelt, und in die Gegenwart Australiens, wo „Die Feuer“ wüten, während drei Frauen an einem Abend ihr Leben verändern. In Deutschland lässt der „Dschinns“ Hüseyin und seine Familie auch nach 30 Jahren nicht los, während die Studentin Anna auf Max trifft und sich fragt, wie „unser wirkliches Leben“ aussehen könnte. Es wäre besser, „Wenn ich euch verraten könnte“ und endlich die Geschichte der Familie offenlegen würde, was „Serge“ im Roman von Yasmina Reza versucht, als er endlich mit seinen Geschwistern Auschwitz besucht. Den Vater Zach Wells lässt erst eine „Erschütterung“ aufschrecken und nach Rettung suchen, was andere gar nicht nötig haben, denn „Wir sind das Licht“, das alle Lücken des Lebens füllt. Eine weitere, vermeintliche, Lücke schließt Katja Kullmann, die endlich „Die singuläre Frau“ hochleben lässt, was sicher auch Navid Kermani gefallen würde, der sich für unser Miteinander wünscht: „Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen“.
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Leseprobe
1Wir sind dreizehn, fast vierzehn, und die Straßen von Sea Cliff gehören uns. Wir gehen durch diese Straßen zu unserer Schule, die hoch über dem Pazifik liegt, und wir rennen durch diese Straßen zu den Stränden, die kalt sind, windgepeitscht, bevölkert von Anglern und Freaks. Wir kennen diese breiten Straßen und wie sie bergab führen, eine Kurve beschreiben in Richtung Ufer, und wir kennen die Häuser. Wir kennen das aufragende Backsteinhaus, wo der Zauberer Carter the Great wohnte; er hatte eine Bühne im Haus, und sein Esstisch wurde durch eine Falltür nach oben gefahren. Wir wissen, dass Paul Kantner von Jefferson Starship in dem Haus gewohnt hat oder immer noch wohnt, da, wo die lange Schaukel über dem Meer hängt. Wir wissen, dass die Schaukel für China gedacht war, die Tochter, die er mit Grace Slick hatte. China wurde im selben Jahr geboren wie wir, und wann immer wir an dem Haus vorbeikommen, halten wir Ausschau nach China auf der Schaukel. Wir kennen das imposante lachsfarbene Haus, wo mal eine Party stattfand, bei der maskierte Einbrecher aufgetaucht sind; als ein weiblicher Gast ihren Ring nicht hergeben wollte, haben sie ihr den Finger abgeschnitten. Wir wissen, wo die Tennislehrerin von unserer Schule wohnt (dunkelblaues Tudorhaus, wird jedes Jahr zu Halloween mit Spinnweben geschmückt), wo die Dekanin der Zulassungsstelle wohnt (weißes Haus mit schwarzem Tor) — beides Frauen, beides Ehefrauen. Wir wissen, wo die Ärzte und Anwälte wohnen und wo die alteingesessenen San Fransciscoer wohnen, Leute, deren Familienname mit Villen und Hotels in anderen Teilen der Stadt in Verbindung gebracht werden können. Und da wir dreizehn sind und auf eine Mädchenschule gehen, wissen wir vor allem, wo die Jungen wohnen.  Wir wissen, wo der große, schlacksige Junge mit Schwimmhäuten an den Füßen wohnt. Manchmal gucken wir mit ihm und seinen Freunden bei ihm zu Hause auf der Sea View Terrace Bill-Murray-Filme und staunen darüber, dass die Jungs ganze Passagen mitsprechen können, so wie wir jedes Wort von The Outsiders auswendig kennen. Wir wissen, wo der Junge wohnt, der mir eines Tages am Strand meine Halskette zerreißt — eine silberne Kette, die mir meine Mutter geschenkt hat, er zerrt daran, und ich laufe vor ihm weg. Wir wissen, wo der Junge wohnt, der mich an dem Tag zu Hause besucht, als ich mein Himmelbett bekomme, und da er es für ein Etagenbett hält, klettert er hinauf und macht es kaputt. Es wird nie richtig repariert, und von da an neigen sich die Pfosten nach Westen. Wir haben den Verdacht, dass es dieser Junge und sein Freund gewesen sind, die vor unserer Schule, der Spragg School for Girls, einen Spruch in den feuchten Zement geschrieben haben. »Mädchen auf Spragg — Maden im Spegg«, stand im Zement. Schwer zu sagen, ob der Spruch mit dem Finger oder einem Stock geschrieben wurde, aber der Eindruck ist tief. Ha!, sagen wir. Zu doof, um »Speck« zu schreiben. Wir wissen, wo der süße Junge wohnt, dessen Vater bei der Army ist. Er ist gerade nach San Francisco gezogen und trägt kurzärmlige Karohemden, wie sie wohl in der Great-Lakes-Stadt angesagt waren, aus der er kommt. Wir wissen, dass sein Vater ein ziemlich hohes Tier sein muss, denn wieso sonst wohnt er nicht im Presidio wie die meisten von der Army? Wir denken nur selten über Army-Hierarchien nach, ihre Frisuren sind so deprimierend. Wir wissen, wo der einarmige Junge wohnt, wobei wir nicht wissen, wie er den Arm verloren hat. Er spielt oft im Park auf der 25th Avenue Tennis oder in der kleinen Gasse hinter dem Haus seiner Eltern Badminton, derselben kleinen Gasse, die zum Haus meiner Eltern führt. Viele Häuserblocks in Sea Cliff haben kleine Gassen, damit die Autos hinten in den Garagen parken können und nicht den Blick aufs Meer, auf die Golden Gate Bridge, versperren. In Sea Cliff dreht sich alles um den Blick auf die Brücke. Es war eines der ersten Viertel von San Francisco mit unterirdischen Stromleitungen, weil oberirdische Leitungen die Aussicht gestört hätten. Alles Hässliche ist versteckt. Wir kennen den Highschool-Jungen, der bei mir nebenan wohnt. Er kommt aus einer Familie, die im Goldrausch Bekanntheit erlangte — das weiß ich aus meinen Geschichtsbüchern über Kalifornien. Man sieht seine Eltern oft auf Fotos in den Gesellschaftsspalten der Nob Hill Gazette, die uns jeden Monat frei Haus geliefert wird. Der Junge ist blond und hat oft eine Gruppe Schulfreunde zu Besuch, dann gucken sie im Wohnzimmer zusammen Football. Von unserem Garten aus kann ich sehen, wenn sie sich ein Spiel anschauen. Zwischen unserem Grundstück und dem Haus seiner Eltern ist eine Lücke von einem Meter, und manchmal springe ich durchs offene Fenster und lande drüben im Wohnzimmer auf dem Fußboden. Ja, so kühn bin ich. Ich bin ein Rätsel an Kühnheit. Ich male mir aus, dass mich einer von ihnen auf den Schulball einlädt. Und dann eines Nachmittags schnappt mich einer der Jungen am Bund meiner Guess!-Jeans. Ich will entwischen und laufe einen Moment lang auf der Stelle wie eine Zeichentrickfigur. Die Jungen lachen; ich bin tagelang frustriert. Ich weiß, diese Geste und das Gelächter bedeuten, dass ich für sie ein kleines Mädchen bin und keine mögliche Begleitung für den Schulball. Danach ist das Fenster drüben immer geschlossen. Dann sind da noch die Prospero-Jungs, die Arztsöhne, die in unserem Haus gewohnt haben, bevor es von meiner Familie gekauft wurde. Sie sind legendär. Sie sind ein abschreckendes Beispiel. Als meine Eltern sich das Haus ansahen, war der Boden meines künftigen Zimmers mit Bierflaschen und Spritzen übersät. Die Fensterscheiben waren eingeschlagen. Wenn ich mich mit älteren Jungen unterhalte und erzähle, dass ich im Haus der Prospero-Jungs wohne, bekomme ich Aufmerksamkeit und, wie ich mir einbilde, kurzzeitig Respekt. Es ist unfassbar, wie gestört diese Jungen waren. Mütter schütteln die Köpfe und sagen, so traurig mit diesen Jungs, wo ihr Vater doch Arzt war und alles. Die Prospero-Jungs sind der Grund, weshalb meine Eltern das Haus für den Preis überhaupt bekommen haben. Die Jungs hatten es zugrunde gerichtet. Niemand sonst konnte die Vorstellung ertragen, ihre Kinder könnten so aufwachsen und Partys feiern und Spritzen benutzen und an die eigenen Wände obszöne Sachen sprühen. Mein Vater ist immer in der Lage gewesen, über die verkrachten Existenzen hinwegzusehen, deren Zeuge ein Haus geworden ist. Das ist seine geheime Macht. Er ist im dritten Stock einer Mietwohnung in einer kleinen Straße im Mission District aufgewachsen, und wie viele seiner Freunde hatte er schon mit fünfzehn alle möglichen Jobs gehabt. Er hat Zeitungen ausgetragen, war angestellt in einem Lebensmittelmarkt und Türsteher im Haight Theatre. Sechs Abende die Woche war er Kartenabreißer, und an seinem freien Tag sah er sich selber Filme an. Als Schüler ist er mit dem Fahrrad bis nach Sea Cliff zum Strand gefahren, er sah die prachtvollen Häuser und meinte zu seinen Freunden: »Eines Tages wohne ich in dieser Gegend.« Und so kam’s. Auch meine Mutter ist mittellos aufgewachsen (auf einem Bauernhof in Schweden in einer großen glücklichen Familie), und zusammen sind sie ein sparsames Paar — wir gehen nie essen, wir heizen nicht, außer wir haben Besuch, und manchmal zieht nicht mal dann etwas Wärme durchs Haus, nur starker Fischgeruch. Meine Schwester Svea, die zehn ist, isst als Einzige in unserer Familie gern Fisch, aber er kommt trotzdem jede Woche auf den Tisch, weil wir Schweden sind. Unser Wohnzimmer hat fünf große Fenster, die auf die Golden Gate Bridge gehen. An nebligen Tagen ist die Brücke ganz in Weiß gehüllt, man sieht nicht die Spur davon. An diesen Tagen erzählte mir mein Vater früher immer, Diebe hätten die Brücke gestohlen. »Keine Sorge, Eulabee«, sagte er dann zu mir, »die Polizei ist ihnen auf den Fersen — sie haben die ganze Nacht gearbeitet.« Am frühen Vormittag, wenn...


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