E-Book, Deutsch, 192 Seiten
Reihe: zur Einführung
Lessenich Theorien des Sozialstaats zur Einführung
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-96060-019-0
Verlag: Junius Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 192 Seiten
Reihe: zur Einführung
ISBN: 978-3-96060-019-0
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1. Der Sozialstaat als soziale Tatsache
1.1 Sinn und Sinnlichkeit
Den Sozialstaat als eine soziale Tatsache zu bezeichnen mag im ersten Moment banal klingen. Wir kennen den Sozialstaat als eine öffentliche Instanz, die für die Sicherung der materiellen Existenz der Bürger und Bürgerinnen eines politischen Gemeinwesens sorgt. In dieser Eigenschaft errichtet er Ämter, verpflichtet Personal, prüft Anspruchsberechtigungen, zahlt Gelder aus, gewährt Leistungen. Der Sozialstaat ist mit dem Sozialen befasst: Er kümmert sich um die Lebensbedingungen »seiner« Bevölkerung, er sorgt sich um die Lebenschancen der Leute, sucht gleiche oder gleichartige Ausgangspositionen herzustellen, offensichtliche Benachteiligungen auszugleichen, den Verlierern in der »Lotterie des Lebens« eine zweite, womöglich auch dritte Chance zu gewähren (Prantl 2010). Der Sozialstaat ist eine politische Institution zur Ordnung der gesellschaftlichen Verhältnisse gemäß bestimmten, allgemein geteilten Wertvorstellungen der sozialen Sicherheit, Gleichheit, Gerechtigkeit. Als solcher ist er eine in den je spezifischen sozialen Strukturen einer historisch-konkreten Gesellschaft verankerte Instanz der politischen Gestaltung des Sozialen – und also in der Tat, und zwar in doppeltem Sinne, eine soziale Tatsache. Was sonst? Die gesellschaftliche Bedeutung des Sozialstaats ist mit einer solchen ersten, noch eher alltagsweltlich gefärbten Annäherung an den Gegenstand durchaus angesprochen und angedeutet, aber aus der – im Folgenden einzunehmenden – soziologischen Perspektive noch keineswegs hinlänglich erfasst. Was Émile Durkheim, einer der anerkannten »Klassiker« der Disziplin, mit der Rede von den »sozialen Tatsachen« (les faits sociaux) als Motiv und Motor soziologischen Denkens und Verstehens meinte, geht über das zur sozialen »Faktizität« des Sozialstaats eingangs Gesagte hinaus. Dabei muss man Durkheims »übersoziologisierende« Position, wonach das Soziale nur aus dem Sozialen zu erklären sei (vgl. Durkheim 1895: 220 f.; vgl. Wrong 1961), nicht unbedingt teilen, um in die weiteren Überlegungen zum sozialen Charakter des Sozialstaats einen grundlegenden durkheimianischen Gedanken mit einzubeziehen: dass nämlich soziale Tatsachen gewissermaßen ein Eigenleben – jenseits, außerhalb, »oberhalb« der Individuen (in) einer Gesellschaft – führen und gleichsam einen äußeren Zwang auf den Einzelnen auszuüben vermögen bzw., genauer, dem oder der Einzelnen wie ein von außen auf ihn oder sie einwirkender Zwang erscheinen mögen. Das »Zwanghafte«, sozial Zwingende des Sozialstaats soll in dieser Einführung von Beginn an – neben der befähigenden, sozial ermöglichenden Dimension seines Handelns – im Zentrum einer theoretischen Erkundung und Ergründung der sozialstaatlichen Gesellschaftsformation stehen. Die in die Strukturbildungen und Strukturbildungsprozesse moderner Gesellschaften eingelagerte Dialektik von Freiheit und Zwang, Befreiung und Disziplinierung (Wagner 1994), wird vielleicht nirgendwo so deutlich (und damit auch soziologisch begreiflich) wie im Falle des Sozialstaats und seiner Institutionenordnung. Der Sozialstaat ist »sozial« zuallererst nicht in dem uns heute alltagssprachlich und -wissentlich geläufigen, normativ aufgeladenen Sinne seiner sorgend-helfenden, gesellschaftlich ausgleichenden und befriedenden Intervention. Er ist Sozial-Staat zunächst in dem (mehrfachen) analytischen Sinn, dass er (a) in seinem Handeln Bezug nimmt auf »soziale Probleme«: Armut und Arbeitslosigkeit, Alter und Krankheit, Hungers- und Wohnungsnot, Über- oder Unterbevölkerung; (b) durch sein Handeln solche – und im Prinzip beliebige andere – gesellschaftliche Phänomene überhaupt erst als »soziale Probleme« definiert, sie zu solchen deklariert (Kaufmann 1996); (c) über seine erklärte Verantwortungsübernahme für die politische »Lösung« dieser »Probleme« die von ihnen Betroffenen – den »Armen« und den »Arbeitslosen«, den »Rentner« und die »Patientin«, den »Hartz-IV-Haushalt« und den »sozialen Brennpunkt« – als Sozialfiguren und -räume gesellschaftlicher Sorge und Besorgnis konstruiert (Simmel 1908); und schließlich (d) diese »problematischen« Sozialfiguren und Sozialräume dementsprechend als Objekte sozialpolitischer Vornahmen im Namen der gesellschaftlichen »Gesamtheit« (vgl. ebd.: 546) behandelt: als individuelle und kollektive Adressen und Adressaten der über ihre öffentliche Versorgung und Unterstützung vermittelten gesellschaftlichen Steuerung und Regulierung, Normierung und Normalisierung, Kontrolle und Disziplinierung. Wohlgemerkt: Es geht hier wie im Weiteren nicht um »gut« und »böse«, wenn vom »sorgenden« Sozialstaat einerseits, dem »Zwangscharakter« seiner Institutionen und Interventionen andererseits die Rede ist. Es geht vielmehr einzig und allein darum, ein soziologisch angemessenes – und das heißt: seinen Januskopf, die Ambivalenzen seines Handelns, den strukturellen Doppelsinn seiner Tätigkeit vollständig erfassendes – Bild des Sozialstaats zu zeichnen. Es muss einer soziologischen Theorie des Sozialstaats gerade darum gehen, »die gängigen Vorstellungen über Gut und Böse im Raum der Sozialpolitik in Zweifel zu ziehen« (Achinger 1958: 11) – Vorstellungen, die gesellschaftlich ebenso weit verbreitet wie einer wissenschaftlichen Beobachtung sozialstaatlichen Handelns abträglich sind. Wenn im Folgenden die in der einschlägigen Literatur zu findenden Elemente eines theoretischen Zugangs zum Verständnis der sozialen Tatsache namens »Sozialstaat« zusammengetragen werden, dann liegt diesem Vorhaben die Absicht zugrunde, die dem Gegenstand inhärente (und dem Alltagsverstand unbezweifelbare) Normativität zu überwinden bzw. zu unterlaufen. Diesem Alltagsverständnis zufolge tut der Sozialstaat »Gutes« oder soll es jedenfalls tun: Armut bekämpfen, Arbeit schaffen, Bildung vermitteln, Teilhabe ermöglichen und vieles Andere mehr; nach Ansicht mancher Beobachter aber tut er dabei bisweilen auch »zu viel des Guten« und damit de facto »Schlechtes«: die Abgabenbelastung hochtreiben, die Arbeitsanreize reduzieren, die Selbsthilfefähigkeit der Menschen schwächen, den gesellschaftlichen Vormund spielen. Diese Alltagsbeobachtungen, ganz gleich ob sie von den vielzitierten »einfachen Leuten« oder von den vielgehörten Angehörigen der Funktionseliten artikuliert werden, legen jeweils bestimmte Wertmaßstäbe an sozialstaatliches Handeln an und beurteilen dieses nach Maßgabe der Einlösung entsprechender Wertideen: »Verteilungsgerechtigkeit« und »Chancengleichheit«, »Solidarität« und »Eigenverantwortung«. Die wissenschaftliche Beobachtung kann sich naheliegenderweise nicht darin erschöpfen, diese – als solche wohlbegründete – Alltagsperspektive auf den Sozialstaat schlicht zu reproduzieren. Sie wird vielmehr die Frage zu klären haben, ob und in welcher Weise sozialstaatliches Handeln historisch und systematisch tatsächlich durch den politischen Kampf für »ethische Prinzipien des Gesellschaftslebens« (Achinger 1958: 12) – welcher Art auch immer – motiviert und angetrieben wurde. Sie wird ergänzend die Frage zu prüfen haben, welche alternativen Erklärungsfaktoren für die Entstehung und Entwicklung des Sozialstaats in Rechnung gestellt werden müssen, etwa funktionale Erfordernisse oder partikulare Interessen. Sie wird sich der Frage zu stellen haben, ob die Etablierung des sozialstaatlichen Institutionensystems, wie wir es heute kennen und nutzend mitgestalten, von der Arbeitsvermittlung über die Ausbildungsförderung bis zur Altenhilfe, das Ergebnis intentionaler (sei es werte- oder interessengeleiteter) sozialpolitischer Handlungen war – oder aber als eigentlich unbeabsichtigte Nebenwirkung anderer Staatsaktivitäten, als eher zufälliges »Abfallprodukt« gesellschaftshistorischer Eventualitäten bzw. als unkalkulierbarer Effekt der prinzipiellen gesellschaftlichen »Unbestimmtheitslücke« (Vobruba 2009: 115) politischen Steuerungshandelns gelten muss. Schließlich wird sie auch die Frage zu beantworten haben, ob die »Gesellschaftsideale« (Achinger 1958: 12), deren politische Realisierung in der Selbstdeutung oder zumindest Selbstdarstellung der relevanten Akteure doch immer auch eine Rolle gespielt haben, in der sozialstaatlichen Praxis tatsächlich erreicht wurden, oder vorsichtiger formuliert: welche historisch-konkreten »institutionellen Realisierungen« (Kaufmann 2003a: 36) sie in den real existierenden Sozialstaaten erfahren haben. All diese Fragen einer bzw. an eine Soziologie des Sozialstaats werden in dem vorliegenden Einführungsband adressiert. Dabei soll, so sehr der Fokus auch auf die Theorien des Sozialstaats gerichtet ist, das plastische Bild eines gesellschaftlichen Arrangements entstehen, das...