Liptay | Roy Andersson | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, Band 60, 86 Seiten

Reihe: Film-Konzepte

Liptay Roy Andersson


1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-96707-435-2
Verlag: edition text+kritik
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, Band 60, 86 Seiten

Reihe: Film-Konzepte

ISBN: 978-3-96707-435-2
Verlag: edition text+kritik
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Obwohl Roy Andersson (*1943) seit seinem Debüt mit "Eine schwedische Liebesgeschichte" (1970) gerade einmal fünf Langspielfilme realisiert hat, gehört er zu den großen Stilisten und Philosophen des europäischen Kinos.

Ein Paar schwebt am Wolkenhimmel in enger Umarmung, unter ihnen eine zerbombte Ruinenlandschaft. Ein Vater bindet der kleinen Tochter im strömenden Regen die Schnürsenkel. Ein Priester hat seinen Glauben verloren, er sucht Hilfe beim Arzt, aber die Praxis hat bereits geschlossen. Szenen aus Roy Anderssons jüngstem Film "Über die Unendlichkeit" (2019) fügen sich – wie auch in anderen Filmen des Regisseurs – zu einer Reihe dramatisch lose verbundener Episoden. Darin wird die menschliche Existenz in ihrer ganzen Würde und Lächerlichkeit verdichtet. Alles Geschehen erscheint profan und transzendent, alltäglich und surreal zugleich. Roy Andersson ist ein lakonischer Erzähler und ein äußerst präziser Choreograph, der seine Filme aus Miniaturen fügt, in denen sich gerade deshalb das große Ganze zeigt, weil sich kaum etwas ereignet. Zärtlich und mitleidlos wird das menschliche Leben geschildert, die Sehnsucht nach Liebe, die Suche nach Sinn, die Bürde des Alltags, die Schrecken des Krieges, die Vergänglichkeit des Lebens und der Traum von der Unendlichkeit.

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Weitere Infos & Material


Thomas Koebner Der melancholische Satiriker
Roy Anderssons Trilogie SONGS FROM THE SECOND FLOOR, YOU, THE LIVING und EINE TAUBE SITZT AUF EINEM ZWEIG UND DENKT ÜBER DAS LEBEN NACH
I.
Eine unvergessliche Szene (in EINE TAUBE SITZT AUF EINEM ZWEIG UND DENKT ÜBER DAS LEBEN NACH), äußerlich fast ein Scherz, ein Sich-Verpassen, wie es tausendfach geschieht, doch schwingt in der Anordnung tiefgründige Melancholie mit: Ein schmaler, dunkel angezogener Mann steht auf einer leicht abschüssigen Straße vor den zwei Panoramafenstern eines Restaurants. Er war offenbar hier verabredet, ist sich aber nicht mehr schlüssig, zu welcher Zeit. Er telefoniert, kann aber wohl nur auf ein Band sprechen. Er geht zögernd die Straße hinauf, um die Ecke, kommt später wieder, da sitzen schon andere Gäste an den Tischen. Eine Runde lacht lauthals – man sieht es. Dagegen wirkt der einsame Mann vor dem Fenster wie ein trauriger Schatten, als sei sein misslicher Zustand, »bestellt und nicht abgeholt«, zugleich die Formel seiner Existenz. EINE TAUBE SITZT AUF EINEM ZWEIG UND DENKT ÜBER DAS LEBEN NACH Samuel Becketts Sentenz vom vergeblichen »Warten auf Godot« (der Titel seines in Paris 1953 uraufgeführten Theaterstücks) lässt sich mit dieser Szene assoziieren. Wer immer der Erwartete sein soll, er wird sich nie einfinden. Auch bei Roy Andersson hat sich jemand in einem absurden Spiel verfangen, er fragt und erhält keine Antwort, er zaudert und kommt kaum von der Stelle: Man könnte ebenso von einer existenzialistischen Parabel sprechen, einer Parabel vom versäumten oder gelähmten Leben. II.
Andersson schafft sich eine eigene Raumwelt. Fast alle Einstellungen sind im Atelier gedreht, für die Errichtung aufwändiger Bauten nimmt er sich mehrere Monate Zeit. Wenn kein realer Zug zur Verfügung steht, lässt er einige Waggons rekonstruieren. Für eine relativ kurze Einstellung – ein älterer Würdenträger wird aus einer Versammlung singender Alt-Burschenschaftler und ihrer Damen abgeholt (YOU, THE LIVING) – konzipiert er einen weit in die Tiefe reichenden Saal. Für das Kindesopfer, einen (erfundenen) fatalen Ritus mit öffentlicher Beteiligung (in SONGS FROM THE SECOND FLOOR), holt er nicht nur zahllose Komparsen zusammen, um sie in Kostüme zu stecken – um den Eindruck einer zuschauenden Menschenmasse zu erzeugen, behilft er sich damit, viele weitere Personen auf Papptafeln aufmalen zu lassen. Wiederholt ersetzt er Gebäudeteile durch Kulissen, die zum Teil kameraoptisch eingespiegelt werden. Im Gegensatz zum späten Federico Fellini, der sich mit Kamera und Schauspielern auch vorzugsweise im Atelier aufhielt, aber keine Zweifel daran ließ, dass sich die Handlung in einer künstlichen Szenerie abspielt (und das wogende Meer etwa aus blauen Plastikbahnen besteht), vertraut Andersson auf den Trompe-l’œil-Effekt: Die Schauplätze erwecken einen changierenden Eindruck, einerseits behaupten sie einen gewissen Realitätscharakter, andererseits verraten sie, dass hier Spielorte mit Holz, Leim und anderen Materialien »täuschend ähnlich« nachgebaut worden sind. So schaltet Andersson die Zufälle aus, die Aufnahmen »vor Ort« beeinträchtigen könnten, die Menschen, die durchs Bild laufen, sind von ihm auf Zuruf losgeschickt worden. Dafür bietet sich ihm die Möglichkeit, Scheinwerfer so zu dirigieren, dass oft eine eigentümliche, »unechte« und häufig recht helle Licht-Atmosphäre entsteht, die – unter anderen Indizien – an die Ausleuchtung einer Theaterbühne erinnert. III.
Unter diesen künstlichen Dekorationen fallen drei, sozial konnotierte Raumtypen besonders auf. Erstens: kleine Zimmer, durch deren Fenster man die vielstöckigen Wohnmaschinen sieht, in denen oft Menschen unterkommen, die eher dem Kleinbürgertum zuzurechnen sind. Ein grünlich-bläulicher Schimmer liegt bisweilen auf den gekalkten Fassaden. An den kahlen Wänden der Zimmer hängt, wenn überhaupt, nur ein kleines Bild, das bei Erschütterung in das darunter stehende Aquarium fällt (in YOU, THE LIVING). Fast immer ist eine Tür auf der der Kamera gegenüberliegenden Seite geöffnet, so dass ein schmaler Flur und ein angrenzendes Zimmer sichtbar werden, in dem sich oft Mitbewohner beschäftigen. Manchmal kommt eine Frau aus dem Flur ins Bild, im Negligé oder nackt und rundbäuchig unter einem Schlafrock. Manchmal treten Personen ans Fenster und sehen hinaus – in die Einöde dieser unwirtlichen Vorstadt. Desungeachtet können sich in diesen Raum-Kombinationen Dramen abspielen: Im Vorderzimmer will ein älterer Mann eine Weinflasche öffnen (in EINE TAUBE SITZT AUF EINEM ZWEIG UND DENKT ÜBER DAS LEBEN NACH), beim Korkenziehen erleidet er einen tödlichen Herzinfarkt, unbemerkt – seine Frau in der hinten angeschnittenen Küche werkelt eifrig weiter und singt vergnügt. Das Nebeneinander von einem drastisch ausgespielten Sterben und behaglicher Lebensroutine erzeugt eine Dissonanz, die merkwürdig genug kaum pathetische Erschütterung zur Folge hat. Als würde eine Autorstimme stoisch dazu murmeln: Das ist der Lauf der Dinge, so geschieht es eben, wir können nicht eingreifen. Der Gestus der unaufgeregten, fast unberührbaren Zeugenschaft, selbst bei ungeheuerlichen Visionen, kennzeichnet die Erzählweise Anderssons. Vermutlich handelt es sich um einen vorgetäuschten Gleichmut, der den Schrei des Entsetzens überspielen will. Man mag diese monotone Architektur von Schachteln als Kritik an der engen Wohnsituation in »Sozialbauten« verstehen, eine Enge, die zu Nachbarschaftskonflikten führen kann. Ein Mann übt auf einem Sousaphon, einer Steigerung der Tuba (in YOU, THE LIVING). Der Bewohner unter ihm, anscheinend aus dem Schlaf aufgescheucht, nimmt einen Stock und klopft gegen die Decke, der Putz rieselt herab, einer der Aufhänger der Deckenlampe reißt. Der Zornige demoliert allmählich sein eigenes Zimmer. Schnitt: Von der anderen Straßenseite beobachtet ein Mann die slapstickartige Zerstörung gegenüber, völlig gelassen sieht er dem Ausbruch des Chaos zu und lässt sich von seiner Frau im Off ins Bett rufen. Wieder erstaunlich, wie unbewegt dieser Betrachter im Bild bleibt – vielleicht verliert das Katastrophische aus großem Abstand seinen Schrecken. IV.
EINE TAUBE SITZT AUF EINEM ZWEIG UND DENKT ÜBER DAS LEBEN NACH Zweiter Standard-Ort: Bars, Kneipen, in denen stumme Personen an den Tischen sitzen, Statisterie, einsame, armselige oder sehr alte Menschen, die dahindämmern und eine Art lebender Kulisse bilden, vor der die Protagonisten agieren. Diese »Versammlungsorte« eignen sich für Zeitsprünge: In einem eher trüben Souterrain-Lokal beginnt die Wirtin (in EINE TAUBE SITZT AUF EINEM ZWEIG UND DENKT ÜBER DAS LEBEN NACH), die hinkende Lotta, plötzlich »Glory, glory, hallelujah« zu singen – die Szene soll sich 1943 abspielen –, und schenkt an viele junge Männer, die sich vor ihr aufreihen, einen Schnaps aus, als Gegenleistung für eine Umarmung oder einen Kuss. Bildzitate fließen ein, etwa wird auf den Times-Square-Kuss angespielt, eine berühmte Fotografie, die einen Soldaten zeigt, der sich nach dem Friedensschluss in New York über ein Mädchen beugt. Schweden war im Zweiten Weltkrieg neutral, auch wenn viele Sympathien dem Dritten Reich galten: An diese schmähliche Brüderschaft, zu der sich zumal das gehobene Bürgertum bereitgefunden hatte, erinnert Andersson in etlichen anderen Einstellungen. In dieser Kneipenszene, bei der hinkenden Lotta, sehen wir nur junge Männer vor uns, die in anderen, den kriegführenden Ländern in Uniform gesteckt und an die Front (und voraussichtlich in den Tod) geschickt worden wären. Da ist ein Kuss ein Versprechen von Leben. Und die Zeile »Glory, glory, hallelujah« der Refrain der »Battle Hymn of the Republic« aus dem Amerikanischen Bürgerkrieg. Eine hell erleuchtete Bar mit einer langen Theke, die an einer Seite rechtwinklig abgeknickt ist (in YOU, THE LIVING): Wenn die Glocke läutet, können die Gäste ein letztes Mal eine Bestellung aufgeben. Der Raum ist belebt wie ein Marktplatz. Einzelne Personen verhalten sich auffällig: eine an Weltschmerz und Selbstverachtung leidende Frau im mittleren Alter, die, betrunken, ihre Not unbeherrscht hinauskräht; ein stilles junges Mädchen, das einen Rockmusiker liebt und einen Wunschtraum erzählt. Ist diese Bar ein Gleichnis für eine Gesellschaft, die einzelnen durchaus erlaubt, »laut« zu werden, doch diese Schicksale (von einigen wenigen abgesehen) ohne viel Mitgefühl zur Kenntnis nimmt? Die alltäglichen Routinen setzen sich durch, schmelzen die Ausbrüche der (sinnlosen oder nicht genauer motivierten) Frustration und selbst die zart intimen Bekenntnisse in das Geräusch des Geredes ein. Ein Café, ebenerdig (in EINE TAUBE SITZT AUF EINEM ZWEIG UND DENKT ÜBER DAS LEBEN NACH), Leute von heute, meist stumm in sich versunken, eine Frau weint: Da dringt mit lautem Getrappel ein Reiter in historischer Uniform auf einem unruhigen Rappen von der Straße in den Innenraum, knallt mit dem gezogenen Degen auf die Tische und verscheucht die Frauen. Danach Auftritt des legendären schwedischen Königs Karl XII., der sich von einem Jungen hinter der Bar ein Glas Wasser einschenken lässt und anschließend seine Hand zärtlich auf dessen Hand legt. Was leistet diese Sequenz? Die Demontage...


Liptay, Fabienne
Fabienne Liptay ist Professorin für Filmwissenschaft an der Universität Zürich. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen u. a. Aspekte der Bildlichkeit und Erzähltheorie des Films sowie die Wechselbeziehungen zwischen den visuellen Medien und Künsten.

Liptay, Fabienne
Fabienne Liptay ist Professorin für Filmwissenschaft an der Universität Zürich. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen u. a. Aspekte der Bildlichkeit und Erzähltheorie des Films sowie die Wechselbeziehungen zwischen den visuellen Medien und Künsten.



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