E-Book, Deutsch, 437 Seiten
Reihe: Blaue Reihe
Lohmar Falsches moralisches Bewusstsein
unverändertes eBook der 1. Auflage von 2017
ISBN: 978-3-7873-3313-4
Verlag: Felix Meiner
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Eine Kritik der Idee der Menschenwürde
E-Book, Deutsch, 437 Seiten
Reihe: Blaue Reihe
ISBN: 978-3-7873-3313-4
Verlag: Felix Meiner
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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I.Menschenwürde-Skeptizismus
… we conceive it as the aim of the philosopher, as such, to do somewhat more than define and formulate the common moral opinions of mankind. His function is to tell men what they ought to think, rather than what they do think … Henry Sidgwick1 ARBEITEN ÜBER DIE MENSCHENWÜRDE beginnen gerne mit einem Hinweis auf den problematischen Charakter des Begriffs der Menschenwürde. Dieser Begriff, wird uns mit einiger Regelmäßigkeit mitgeteilt, stehe unter dem Verdacht, hoffnungslos vage oder gänzlich unbestimmt oder eine ›Leerformel‹ ohne Gehalt zu sein. Manche Autoren weisen uns auch darauf hin, dass dieser Begriff paradox ist oder zumindest paradox zu sein scheint. Viele Autoren verweisen auf die erstaunliche Diskrepanz zwischen der Inflation der moralischen und politischen Appelle an die Menschenwürde und der Situation der Theorie der Menschenwürde, die durch skeptische Reserviertheit auf der einen und durch tiefgreifende Dissense über den Gehalt und die systematische Bedeutung der Idee der Menschenwürde auf der anderen Seite gekennzeichnet ist. Die problematisierende Exposition trägt mittlerweile die Züge eines konventionellen stilistischen Elements, das dem Menschenwürde-Diskurs eine Aura von Komplexität und Substantialität verleiht. Denn so häufig der problematische Charakter der Idee der Menschenwürde von Autoren, die sie sich zum Thema machen, unterstrichen wird, so häufig sehen sie von diesem Punkt mehr oder weniger kommentarlos ab und entwickeln ihren Beitrag zum Menschenwürde-Diskurs so, als ob der auf dem Begriff oder der Idee der Menschenwürde lastende Verdacht den Wert der Argumente und der Urteile, in denen eben dieser Begriff figuriert, nicht weiter berühren könnte. Nicht selten scheinen Menschenwürde-Theoretiker einfach zu glauben, dass es Menschenwürde gibt, und die begrifflichen Probleme eher als technische Probleme der adäquaten Repräsentation der Ethik der Menschenwürde denn als Probleme zu begreifen, die die Ethik der Menschenwürde grundlegend in Frage stellen. Anders lässt sich schwer erklären, wie ein Theoretiker dazu kommen könnte, den Begriff der Menschenwürde, den er explizit für paradox erklärt, in seinen ethischen Überlegungen zu gebrauchen, so als hätte eine auf einem paradoxen – widersprüchlichen oder Widersprüche generierenden – Begriff aufgebaute Ethik ein solides Fundament: Auch als Würde interpretiert, behält die Sonderstellung [des Menschen] ihre doppelte Bedeutung. Als angeborenes Privileg ist sie eine unverdiente Würde, die allen Menschen zukommt, während sie als angeborene Verantwortung von jedem noch verdient werden muss. Die Situation ist paradox und doch für den Begriff charakteristisch: Die Menschenwürde ist ein Privileg, dessen man durch seine Lebensweise würdig werden soll und das trotzdem auch der Unwürdige nie verliert.2 Anders ist auch schwer zu erklären, wie ein Theoretiker dazu kommen könnte, zu behaupten, es gäbe Beweise für die Existenz der Menschenwürde, nachdem er uns zuvor erklärt hat, dass die Idee der Menschenwürde unbestimmt und unbegründbar sei und einen ›Phantom-Charakter‹ habe.3 Schließlich ist auf andere Weise auch schwer zu erklären, wie jemand behaupten kann, dass der Begriff der Menschenwürde für die Ethik wichtig sei, wenn er uns zuvor mitteilt, dass es unklar sei, was dieser Begriff beinhaltet.4 Alle diese Theoretiker scheinen zu verkennen, dass die Kritik der Idee oder des Begriffs der Menschenwürde auch die Ethik der Menschenwürde trifft. So macht es zum Beispiel wenig Sinn über den moralischen Status von Embryonen im Begriff der Menschenwürde zu diskutieren, wenn dieser Begriff paradox oder unbestimmt ist oder wenn er leer und der Begriff bloß eines ›Phantoms‹ ist. Auch moralische Argumente aus der Verletzung der Menschenwürde könnten kaum einen Wert haben, wenn der Begriff der Menschenwürde, wie einige Kritiker behaupten, eine gehaltlose ›Leerformel‹ ist. Denn wenn der Begriff der Menschenwürde leer ist, ist auch der Begriff einer Verletzung der Menschenwürde leer. Die Kritiker des Menschenwürde-Diskurses haben recht mit ihrem Verdacht, dass mit dem Begriff der Menschenwürde etwas nicht in Ordnung ist. Sie haben aber unrecht mit ihrer Diagnose des Problems. MENSCHENWÜRDE ist nämlich kein vollkommen vager oder gänzlich unbestimmter Begriff. Er ist kein Begriff, mit dem jeder jeden beliebigen Gehalt assoziieren könnte oder unter dem sich jeder vorstellen könnte, was auch immer er geneigt ist, sich darunter vorzustellen. Der Begriff der Menschenwürde hat – im Gegenteil – ein bestimmtes semantisches Profil, das ihn zu dem Begriff macht, der er ist. Er besitzt einen distinkten Gehalt, der sich durch philosophische Analyse darlegen lässt und auf dessen Grundlage sich die Adäquatheit von Menschenwürde-Konzeptionen beurteilen lässt. Der Begriff der Menschenwürde ist aber ein defekter Begriff. Er ist, genauer gesagt, ein inkohärenter Begriff. Das jedenfalls ist, grob gesagt, die zentrale These, für die ich im vorliegenden ersten Teil dieser Abhandlung argumentiere. Die hier vertretene These ist eine These ausschließlich über den Begriff der Menschenwürde. Sie ist keine These über den Begriff WÜRDE. Vom Begriff der Menschenwürde ist der Begriff der Würde sogar prinzipiell verschieden, da er, im Unterschied zu diesem, keinen anthropozentrischen Gehalt hat. Da die Inkohärenz des Begriffs der Menschenwürde mit seinem anthropozentrischen Gehalt zusammenhängt, ist die Quelle seiner Inkohärenz im Begriff der Würde gar nicht präsent. Die Behauptung, dass MENSCHENWÜRDE ein defekter Begriff ist, ist daher weder äquivalent mit der Behauptung, dass WÜRDE ein defekter Begriff ist, noch impliziert sie diese Behauptung. Unabhängig von der hier vertretenen These ist der Vorschlag einiger Autoren, auf den Gebrauch dieses Begriffs zu verzichten, nicht gerechtfertigt.5 Denn wenn der Begriff der Menschenwürde ein intakter Begriff und genauso unproblematisch ist wie (können wir hier unterstellen) der Begriff der Gerechtigkeit oder der Begriff der moralischen Falschheit, ist nicht zu sehen, wie es überhaupt einen vernünftigen Grund dafür geben könnte, auf seinen Gebrauch zu verzichten. Diese Forderung scheint dann sogar ziemlich sonderbar zu sein, da sie darauf hinausläuft, unser moralisches Denken und damit auch die Möglichkeiten unseres moralischen Wissens einzuschränken. Wenn MENSCHENWÜRDE ein intakter Begriff ist, dann sind auch Behauptungen wie die, dass die Erpressung von Geständnissen durch die Folter mit der menschlichen Würde unvereinbar sind, begrifflich intakt. Auf Urteile dieser Art zu verzichten, hieße dann, darauf zu verzichten, bestimmte moralische Wahrheiten denken zu können, und hieße darauf verzichten, andere moralische Urteile durch solche Wahrheiten rechtfertigen zu können. Das Argument, dass das Foltern von Menschen unrecht ist, weil diese Praxis die Menschenwürde verletzt, sieht immerhin wie eine ernstzunehmende Rechtfertigung der Überzeugung von der moralischen Falschheit der Folter aus. Prima facie ist daran genauso wenig auszusetzen wie an einem Argument, das die Verletzung autonomer Wünsche gegen die Folter ins Feld führt. Die bloße Tatsache, dass das Argument aus der Menschenwürde nicht alle Leute überzeugt, spricht genauso wenig gegen den Gebrauch des Begriffs der Menschenwürde, wie es gegen den Gebrauch des Begriffs der Autonomie spricht, dass sich nicht alle Leute davon überzeugen lassen, dass eine Verletzung autonomer Wünsche als solche etwas moralisch Schlechtes ist. Auf einen Begriff zu verzichten, von dem man glaubt, dass er intakt ist, scheint sogar eine irrationale Selbstbeschränkung des eigenen Denkens und der eigenen Erkenntnismöglichkeiten zu sein. So könnte es nach allem, was wir wissen, sein, dass die Frustration autonomer Wünsche nur deshalb moralisch problematisch ist, weil dadurch in der Regel die Menschenwürde der Menschen verletzt wird, um deren autonome Wünsche es geht. Wenn der Begriff MENSCHENWÜRDE intakt ist, würden wir uns durch einen Verzicht auf seinen Gebrauch der Möglichkeit der Erkenntnis eines solchen Zusammenhangs begeben. Wer auf den Gebrauch des Begriffs der Menschenwürde vollständig verzichten will, ist daher als ein rationaler epistemischer Akteur zumindest darauf festgelegt, zu vermuten, dass dieser Begriff nicht intakt ist. Wenn diese Vermutung nicht gerechtfertigt ist, scheint es für eine Politik der begrifflichen Zurückhaltung jedoch keinen vernünftigen Grund zu geben. 1. Die Anfechtbarkeit des Begriffs der Menschenwürde
Die skeptische Auffassung, dass MENSCHENWÜRDE ein defekter Begriff ist, wirft einige wichtige methodologische Fragen, darunter insbesondere Fragen in Bezug auf die Aussichten und die Möglichkeit der Rechtfertigung einer solchen Theorie, auf. Vor allem Teilnehmern am Menschenwürde-Diskurs wird die hier vertretene These als unglaubwürdig erscheinen. Sie werden sie aller Voraussicht nach sogar spontan und ohne weitere Untersuchung als falsch zurückweisen, d. h. sie werden die These zunächst einmal gar nicht im Lichte von Gründen, sondern unmittelbar als falsch bewerten. Eine solche spontane Zurückweisung scheint nicht gänzlich irrational zu sein. Unsere Begriffe unterliegen einer Unschuldsvermutung, d. h. wir dürfen darauf vertrauen, dass unsere Begriffe einen kohärenten Gehalt haben. Um berechtigt zu sein, unsere Begriffe zu verwenden, müssen wir nicht erst zeigen, dass sie...