E-Book, Deutsch, 160 Seiten
Reihe: dtv- Klassiker
London Der Ruf der Wildnis
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-423-42009-9
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 160 Seiten
Reihe: dtv- Klassiker
ISBN: 978-3-423-42009-9
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Jack London (eigentlich John Griffith Chaney) wurde am 12. Januar 1876 als uneheliches Kind in San Francisco geboren. Er wuchs in Armut auf und musste bereits früh zum Einkommen der Familie beitragen. Nach einer Zeit, in der er sich als Fabrikarbeiter, Robbenjäger und Landstreicher durchschlug, holte er das Abitur nach und begann 1896 ein Studium, das er jedoch schon nach einem Semester abbrach. Er ließ sich vom Goldrausch anstecken und schürfte in Alaska selbst nach dem Edelmetall. Zurück in Kalifornien stellten sich mit seinen Tiergeschichten und Erzählungen über das harte Leben einfacher Menschen der Arbeiterklasse erste literarische Erfolge ein. In kurzer Zeit wurde London sehr wohlhabend. Seine plötzliche Popularität überforderte ihn jedoch. Alkohol und ein extravaganter Lebensstil führten den Schriftsteller in den Ruin. Jack London starb am 22. November 1916 im Alter von nur 40 Jahren auf seiner Farm in Glen Ellen an Nierenversagen.
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2 Das Gesetz von Knüppel und Reißzahn
Bucks erster Tag am Strand von Dyea war ein Albtraum. Jede Stunde war erfüllt von Schrecken und Überraschungen. Aus dem Herzen der Zivilisation war er ins Herz des Chaos gestürzt worden. Hier gab es kein faules, sonnengeküsstes Leben, wo man nur herumlungern und sich langweilen musste. Hier gab es weder Frieden noch Ruhe, und keinen Augenblick Sicherheit. Es war alles Betrieb und Verwirrung, und Gesundheit und Leben waren jeden Augenblick in Gefahr. Es bestand die absolute Notwendigkeit, ständig auf der Hut zu sein; denn die Hunde und Männer hier waren keine Stadthunde und Stadtmenschen. Sie waren allesamt Wilde, die kein Gesetz kannten, außer dem Gesetz von Knüppel und Reißzahn.
Er hatte Hunde noch nie so kämpfen sehen wie diese wölfischen Kreaturen, und gleich seine erste Erfahrung damit erteilte ihm eine unvergessliche Lehre. Genau genommen war es eine Erfahrung, die nicht er selbst machte, sonst hätte er sie nicht überlebt und davon profitieren können. Das Opfer war Curly. Sie waren in der Nähe des Holzlagers untergebracht, und Curly näherte sich auf ihre freundliche Art einem Husky, der ungefähr so groß wie ein ausgewachsener Wolf war, wenn auch nicht halb so massig wie sie. Es gab keine Vorwarnung, nur einen blitzschnellen Sprung, ein metallisches Klicken der Zähne und einen ebenso schnellen Rückzug, aber Curlys Gesicht war vom Auge bis zum Unterkiefer aufgerissen.
Zuzuschlagen und gleich wieder zurückzuspringen – das war die Kampfesweise der Wölfe; aber das war noch nicht alles. Dreißig oder vierzig Huskys kamen angerannt und umringten die Kämpfer in einem aufmerksamen, schweigenden Zuschauerkreis. Buck hatte keine Ahnung, was diese stumme Aufmerksamkeit zu bedeuten hatte und warum sich die Huskys so gierig die Lefzen leckten. Curly stürzte sich auf ihren Widersacher, der wieder zuschlug und wegsprang. Ihren nächsten Ansturm wehrte er so geschickt mit der Brust ab, dass sie von den Beinen gestoßen wurde. Sie kam nie wieder hoch. Denn das war genau, worauf die anderen Huskys gewartet hatten. Knurrend und jaulend fielen sie über Curly her und begruben sie unter sich. Aus einer Masse von Hundeleibern mit gesträubten Fellen kam nur noch ihr Todesschrei.
Das geschah so plötzlich und unerwartet, dass Buck völlig verblüfft war. Er sah, wie Spitz seine rote Zunge heraushängen ließ, was seine Art des Lachens war; und er sah François, der sich mit einer Axt mitten unter die Hunde stürzte. Drei Männer mit Knüppeln halfen ihm, sie zu zerstreuen. Es dauerte auch nicht lange. Zwei Minuten, nachdem Curly zu Boden gegangen war, waren die letzten Angreifer weggeprügelt. Aber Curly lag schlaff und leblos im blutigen, niedergetrampelten Schnee, buchstäblich in Stücke gerissen, und das dunkle Halbblut stand über ihr und fluchte entsetzlich. Die Szene blieb in Bucks Erinnerung haften und quälte ihn bis in den Schlaf. So war das also. Kein fair play. Wenn du am Boden lagst, warst du erledigt. Nun, er würde dafür sorgen, dass er selbst nie zu Boden ging. Spitz ließ wieder seine Zunge raushängen und lachte, und von diesem Augenblick an hasste ihn Buck mit einem bitteren, unversöhnlichen Hass.
Noch ehe er sich von dem Schock erholt hatte, den Curlys tragischer Tod bei ihm ausgelöst hatte, traf ihn der nächste Schlag: François befestigte ein kompliziertes Arrangement von Riemen und Schnallen an ihm. Es war ein Geschirr, wie es die Kutscher bei ihm zu Hause den Pferden angelegt hatten. Und so wie er die Pferde hatte arbeiten sehen, so wurde er jetzt zur Arbeit gezwungen: Erst musste er François auf einem Schlitten in den Wald ziehen, der das Tal umgab, dann musste er eine Ladung Feuerholz zurückbringen. Obwohl er sich erheblich in seiner Würde gekränkt fühlte, weil er auf diese Weise zum Zugtier gemacht wurde, war er zu klug, um sich dagegen aufzulehnen. Er legte sich mächtig ins Zeug und tat sein Bestes, obwohl alles ganz neu und fremd für ihn war. François war streng, verlangte sofortigen Gehorsam und dank seiner Peitsche erhielt er ihn auch. Dave, der ein erfahrener Deichselhund war, kniff Buck jedes Mal in die Hinterläufe, wenn er etwas falsch machte.
Spitz war der Leithund. Er hatte ebenfalls schon Erfahrung, und obwohl er meist nicht an Buck herankam, knurrte er ab und zu vorwurfsvoll oder warf sich mit solcher Energie in die Zugleinen, dass Buck gezwungen war, ihm zu folgen. Buck lernte schnell und machte unter der Anleitung seiner zwei Teamkollegen und von François erstaunliche Fortschritte. Noch ehe sie ins Lager zurückkehrten, wusste er, dass er bei dem Ruf Ho! anhalten musste, dass er loslaufen musste bei dem Ruf Mush!, dass er in den Kurven weit ausschwenken und dass er Abstand zum Deichselhund halten musste, wenn der beladene Schlitten ihnen bergab dicht auf den Fersen war.
»Drei sähr gutte Hund«, sagte François zu Perrault. »Diesärr Buck zieht wie der Teufel. Dem bring isch alles ganz schnell bei.«
Am Nachmittag erschien Perrault mit zwei weiteren Hunden. Er hatte es eilig, mit seinen Depeschen auf den Weg zu kommen. Die Hunde nannte er »Billee« und »Joe«, zwei Brüder und echte Huskys, Söhne derselben Mutter, obwohl sie unterschiedlich wie Tag und Nacht waren. Billees einziger Fehler war seine übertriebene Freundlichkeit, während Joe das genaue Gegenteil war, säuerlich und in sich gekehrt, mit einem bösen Blick und ständigem Knurren. Buck empfing sie ganz kameradschaftlich, Dave ignorierte sie, während Spitz erst den einen und dann den anderen attackierte. Billee wedelte beschwichtigend mit dem Schwanz, rannte weg, als er sah, dass er bei Spitz mit Sanftmut nicht weiterkam, und winselte schließlich (immer noch beschwichtigend), als dessen scharfe Zähne seine Flanken trafen. Joe dagegen drehte sich, egal wie Spitz ihn umkreiste, ständig so rasch auf den Hinterläufen herum, dass man immer nur seine gesträubte Mähne, seine zurückgelegten Ohren, seine zuckenden, knurrenden Lefzen, seine rasend schnell schnappenden Zähne und teuflisch glitzernden Augen sah – die Verkörperung kampfbereiter Angst. So furchterregend war dieser Anblick, dass Spitz gezwungen war, auf seinen Versuch einer Züchtigung zu verzichten, und um seine Verlegenheit zu verbergen, stürzte er sich erneut auf den harmlosen, winselnden Billee und jagte ihn bis an den Rand des Lagers.
Bis zum Abend hatte Perrault sich noch einen weiteren Hund gesichert, einen alten Husky, lang, mager und ausgezehrt, mit einem von vielen Schlachten zernarbten Gesicht und nur einem verbliebenen Auge, das vor seiner Unerschrockenheit warnte und ihm Respekt verschaffte. Sein Name war Sol-leks, das bedeutet »Der Zornige«. Genau wie Dave verlangte er nichts, gab nichts und erwartete nichts; und als er langsam und absichtsvoll in ihre Mitte trat, ließ sogar Spitz ihn in Ruhe. Sol-leks hatte allerdings eine Besonderheit, wie Buck zu seinem Unglück erfuhr. Er mochte es nicht, wenn man sich ihm von seiner blinden Seite her näherte. Diesen Fehler machte Buck ohne Absicht, und dass es sich um eine Ungeschicklichkeit handelte, merkte er erst, als Sol-leks zu ihm herumwirbelte und ihm die Schulter von oben nach unten bis zum Knochen aufriss, in einer Länge von acht Zentimetern. Danach vermied es Buck, sich der blinden Seite von Sol-leks zu nähern, und hatte auch bis zum Ende ihrer Zusammenarbeit nie wieder Ärger mit ihm. Sol-leks einziger Ehrgeiz im Leben schien darin zu bestehen, in Ruhe gelassen zu werden, ganz wie Dave; allerdings sollte Buck später feststellen, dass beide noch einen weiteren, sehr viel tieferen Ehrgeiz besaßen.
An diesem Abend hatte Buck ein großes Problem mit dem Schlafen. Das von einer Kerze erleuchtete Zelt glänzte warm in der Mitte der weißen Fläche; aber als er ganz selbstverständlich hineinging, bombardierten ihn sowohl Perrault als auch François mit Flüchen und Küchengeräten, bis er sich von seiner Bestürzung erholte und schmählich in die Kälte nach draußen flüchtete. Ein kalter Wind wehte, der ihn bitter kniff und besonders giftig in die verwundete Schulter biss. Er legte sich auf den Schnee und versuchte zu schlafen, aber der Frost zwang ihn bald wieder zitternd auf die Beine. Unglücklich und verzweifelt wanderte er zwischen den vielen Zelten umher, nur um festzustellen, dass jeder Platz genauso kalt wie der andere war. Hier und da stürzten sich wütende Hunde auf ihn, aber er stellte das Nackenhaar auf und knurrte (er lernte schnell), und sie ließen ihn unbehelligt passieren.
Schließlich kam ihm eine Idee. Er würde zurückgehen und nachsehen, wie sich seine Teamkameraden verhielten. Zu seiner Überraschung waren sie verschwunden. Erneut wanderte er durch das große Lager, suchte aber vergeblich nach ihnen und kehrte wieder zurück. Waren sie im Zelt? Nein, das konnte nicht sein, sonst wäre er ja nicht daraus vertrieben worden. Aber wo konnten sie dann sein? Mit hängendem Schwanz und zitternden Gliedern umkreiste er verloren und ratlos das Zelt. Plötzlich gab der Schnee unter ihm nach und seine Vorderläufe sanken ein. Unter seinen Pfoten zappelte etwas. Mit gesträubtem Fell sprang er knurrend zurück, voller Furcht vor dem Unsichtbaren und Unbekannten. Aber ein freundliches kleines Kläffen beruhigte ihn, und er kehrte zurück, um die Sache genauer zu untersuchen. Ein Hauch warmer Luft stieg ihm in die Nase, und dann entdeckte er Billee, der sich unter dem Schnee zu einem gemütlichen Ball zusammengerollt hatte. Billee jaulte beruhigend, krümmte und wand sich, um seinen guten Willen zu zeigen, und ging sogar so weit, Buck als Zeichen des Friedens mit seiner nassen, warmen Zunge das Gesicht abzulecken.
Eine weitere Lektion. So machten die anderen das...