E-Book, Deutsch, 277 Seiten
Lorch Freiheit für alle
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-593-42466-8
Verlag: Campus
Format: PDF
Kopierschutz: 1 - PDF Watermark
Grundlagen einer neuen Sozialen Marktwirtschaft
E-Book, Deutsch, 277 Seiten
ISBN: 978-3-593-42466-8
Verlag: Campus
Format: PDF
Kopierschutz: 1 - PDF Watermark
Seit über 60 Jahren gilt die Soziale Marktwirtschaft in der Bundesrepublik Deutschland als Richtschnur der Wirtschaftspolitik. Alexander Lorch prüft, inwiefern dieses Konzept und die ihm zugrunde liegende Gesellschaftstheorie des Ordoliberalismus heute noch zeitgemäß sind. Er zeigt anhand aktueller philosophischer und wirtschaftsethischer Debatten Wege und Perspektiven auf, eine moderne Soziale Marktwirtschaft zu entwickeln. Die umfassende Freiheit der Bürger, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, gilt dabei als zentrale Forderung für eine freiheitliche und sozial gerechte Gesellschafts- und Wirtschaftspolitik.
Alexander Lorch ist Postdoctoral Researcher am Lehrstuhl für Wirtschaftsethik der Haas School of Business an der University of California in Berkeley.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
1;Inhalt;6
2;1 Einleitung;10
2.1;1.1 Die Orientierungskrise des Liberalismus;10
2.2;1.2 Ordoliberalismus und Soziale Marktwirtschaft als Ausgangspunkte der Suche nach einer freiheitlichen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung;14
2.3;1.3 Weiterentwicklung der ordoliberalen Ideen zu einem politischen Liberalismus;17
2.4;1.4 Methodische Leitgedanken – Der Beitrag der politischen Philosophie;22
3;2 Ordoliberale Ordnungspolitik als Ausgangspunkt der Betrachtung;24
3.1;2.1 Begriffsbestimmung;24
3.2;2.2 Grundlagen des Ordoliberalismus;29
3.2.1;2.2.1 Ablehnung der kollektivistischen Planwirtschaft;29
3.2.2;2.2.2 Kritik am klassischen Liberalismus;31
3.2.3;2.2.3 Die ordoliberale Suche nach einem dritten Weg;34
3.3;2.3 Unterschiedliche Ausgestaltungen des Ordoliberalismus;43
3.3.1;2.3.1 Die Wettbewerbsordnung von Eucken und der Freiburger Schule;44
3.3.2;2.3.2 Der Sozialhumanismus von Rüstow und Röpke;50
3.3.3;2.3.3 Müller-Armack und die Soziale Marktwirtschaft;59
3.4;2.4 Zwischenfazit: Gemeinsamkeiten und Unterschiede der ordoliberalen Ansätze;68
4;3 Die Bedeutung des Ordoliberalismus für eine Gesellschafts- und Wirtschaftspolitik des 21. Jahrhunderts;70
4.1;3.1 Die Analyse der Gesellschaftskrise und die Forderung nach einer neuen Gesamtordnung;71
4.2;3.2 Ordoliberale Individualethik;74
4.2.1;3.2.1 Unzeitgemäße Individualethik;75
4.2.2;3.2.2 Paradoxe Individualethik;77
4.2.3;3.2.3 Ordoliberaler Kulturpessimismus;80
4.2.4;3.2.4 Ordoliberale Demokratieskepsis;83
4.3;3.3 Ordoliberale Ordnungsethik;86
4.3.1;3.3.1 Die ordoliberale Sorge um den Markt;88
4.3.2;3.3.2 Die implizite Ethik des Wettbewerbs;91
4.3.3;3.3.3 Das Kriterium der Marktkonformität;96
4.4;3.4 Mythos und Hegemonie: Die Soziale Marktwirtschaft heute;99
4.5;3.5 Beurteilung des Ordoliberalismus;103
4.6;3.6 Zwischenfazit: Der Freiheitsbegriff als zentrales Problem des Ordoliberalismus;109
5;4 Substantieller Liberalismus als Grundlage einer neuen Sozialen Marktwirtschaft;116
5.1;4.1 Politische Philosophie der Freiheit: Autonomie in Gesellschaft;117
5.2;4.2 Freiheit und Verantwortung;125
5.3;4.3 Verwirklichung von Freiheit;128
5.3.1;4.3.1 Reale Freiheit bei Van Parijs;130
5.3.2;4.3.2 Substantielle Freiheit bei Sen;132
5.3.3;4.3.3 Zwischenfazit: Substantielle Freiheit als regulatives Prinzip;134
5.4;4.4 Substantieller Liberalismus als freiheitliche Gesellschaftsordnung;135
5.5;4.5 Zum Verhältnis von liberaler Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung;140
6;5 Aufgaben einer Politik der Freiheit;145
6.1;5.1 Substantielle Freiheit als politische Agenda;146
6.2;5.2 Verfassung der Freiheit und Verwirklichungschancen;148
6.3;5.3 Mitverantwortung für die Freiheit in Gesellschaft;155
6.3.1;5.3.1 Gesellschaftliche Verantwortung und republikanischer Bürgersinn;155
6.3.2;5.3.2 Kollektive Verantwortung und ihre Organisation angesichts komplexer Systemzusammenhänge;162
6.4;5.4 Globale Probleme nationalstaatlicher Ordnungspolitik;164
6.4.1;5.4.1 Die Globalisierung als politische Herausforderung;164
6.4.2;5.4.2 Postnationale Demokratie und substantieller Liberalismus;168
6.4.3;5.4.3 Problemlösungskompetenz einer transnationalen Demokratie;178
6.5;5.5 Zwischenfazit: Substantieller Liberalismus als normative Fundamentalorientierung;180
7;6 Prinzipien einer substantiell-liberalen Wirtschaftsordnung;183
7.1;6.1 Marktwirtschaft und Freiheit;185
7.2;6.2 Ordnungspolitische Prinzipien des substantiellen Liberalismus;187
7.2.1;6.2.1 Vitalpolitisches Grundprinzip und ökonomische Funktionsbedingung;191
7.2.2;6.2.2 Systembedingungen;193
7.2.3;6.2.3 Bedingungen des Tauschs;201
7.2.4;6.2.4 Regulierende Politik;206
7.3;6.3 Substantieller Liberalismus als neue Soziale Marktwirtschaft;208
8;7 Freiheit und Verantwortung – Ausgewählte Herausforderungen des substantiellen Liberalismus;211
8.1;7.1 Chancen für alle? Wirtschaftliche Ungleichheit und Teilhabegerechtigkeit;212
8.1.1;7.1.1 Verteilungsgerechtigkeit in Deutschland;212
8.1.2;7.1.2 Gestaltung von Chancen- und Teilhabegerechtigkeit als Aufgabe einer Politik der Freiheit;219
8.1.3;7.1.3 Zwischenfazit: Freiheit in Gesellschaft für alle;238
8.2;7.2 Verantwortung für alle? Die gesellschaftliche (Re-)Integration der Finanzwirtschaft;240
8.2.1;7.2.1 Die Folgen der Finanzkrise und »das befremdliche Überleben des Neoliberalismus«;240
8.2.2;7.2.2 Die gesellschaftliche Bedeutung der Finanzwirtschaft;243
8.2.3;7.2.3 Das Problem der »strukturierten Verantwortungslosigkeit«;249
8.2.4;7.2.4 Zwischenfazit: Gesellschaftliche Mitverantwortung für alle;257
8.3;7.3 Die Bedeutung des substantiellen Liberalismus für aktuelle gesellschaftspolitische Herausforderungen;258
9;8 Fazit: »Freiheit für alle« statt »Wohlstand für alle«;259
10;Literatur;263
1 Einleitung 'Wenn auch gerade der Nationalökonom besonders geneigt sein wird, vor der Überschätzung des wirtschaftlichen Elements in der Geschichte zu warnen, so darf er doch die Behauptung wagen, daß sich unsere Kultur deshalb überall in unlösbar scheinende Probleme verstrickt, weil sie mit der elementaren Aufgabe einer wohlgeordneten und dem Menschen angemessenen Wirtschaftsverfassung nicht recht fertig wird.' Wilhelm Röpke 1.1 Die Orientierungskrise des Liberalismus Der Gedanke von Wilhelm Röpke scheint immer noch mindestens so aktuell wie vor 75 Jahren, als er ihn äußerte: Auch heute scheint die Wirtschaft in einer Verfassung zu sein, die weder wohlgeordnet noch dem Menschen angemessen ist. Und eben wegen dieser Wirtschaft tun sich zunehmend gravierendere Probleme auf. Seit die Bundesrepublik Deutschland im Jahr 2008 in den Sog der weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise geraten ist, lässt sich eine ordnungspolitische Orientierungslosigkeit beobachten, da die vormaligen Leitplanken des Neoliberalismus mit der Wirtschaftskrise an Glaubwürdigkeit und Rückhalt verloren haben. Die drängenden Probleme, die vielerorts die Frage nach einer angemessenen Gestaltung der Wirtschaft aufwerfen, können mit der neoliberalen Ideologie nicht gelöst werden: Die Finanzwirtschaft scheint kaum mehr eine Verbindung zur Realwirtschaft zu haben, es gibt (auch in Deutschland) seit vielen Jahren schon eine wachsende Ungleichverteilung des Reichtums; Unternehmen und deren Lobbyisten beeinflussen die Politik, während gleichzeitig Politikverdrossenheit herrscht und die Bürger kaum mehr glauben, von der Politik überhaupt wahrgenommen zu werden. Dringende weltwirtschaftspolitische Themen wie die Neuordnung der Finanzmärkte werden aufgrund nationaler oder parteipolitischer Interessen nur zögerlich adressiert. Als Ergebnis dieser beispielhaften Entwicklungen fordern die Bürger von der Politik, die Deutungshoheit über gesellschaftspolitische Fragen von der Wirtschaft zurück zu erlangen, wie beispielsweise in den Forderungen der Occupy-Bewegung deutlich wird. Die einseitigen neoliberalen Vorschläge wie Wirtschaftswachstum, Privatisierung und Deregulierung, die in den vergangenen Jahrzehnten die Gestaltung der gesellschaftlichen Institutionen maßgeblich geprägt haben, haben offenkundig versagt und sind nicht mehr zur Lösung der aktuellen Probleme geeignet, sondern vielmehr wesentlich mitverantwortlich für die jüngsten Verwerfungen. Der Neoliberalismus scheint Ausdruck einer Denkweise, die sich in ihrer Radikalität heute kaum noch so unwidersprochen wie in den letzten beiden Jahrzehnten äußern kann: 'Blamiert hat sich die Agenda, die Anlegerinteressen eine rücksichtslose Dominanz einräumt, die ungerührt wachsende soziale Ungleichheit, das Entstehen eines Prekariats, Kinderarmut, Niedriglöhne und so weiter in Kauf nimmt, die mit ihrem Privatisierungswahn Kernfunktionen des Staates aushöhlt, die die deliberativen Reste der politischen Öffentlichkeit an renditesteigernde Finanzinvestoren verscherbelt, Kultur und Bildung von den Interessen und Launen konjunkturempfindlicher Sponsoren abhängig macht.' (Habermas 2012: 100) Dass Habermas mit dieser Analyse Recht haben könnte, zeigt sich nun in einem Legitimationsproblem des Neoliberalismus, der als gesellschafts- und wirtschaftspolitische Orientierung nicht mehr tragbar ist - wie der Niedergang der FDP als der liberalen Partei in Deutschland beispielhaft zeigt. Sie hatte zuletzt nur noch ein wirtschaftsliberales Programm vertreten, das in seiner Einseitigkeit nun kaum noch Rückhalt bei den Wählern findet. Das ordnungspolitische Vakuum, das durch den Misskredit, in den der Neoliberalismus geraten ist, entstanden ist, konnte bisher noch nicht mit neuen überzeugenden Ideen zur Gestaltung einer modernen, nachhaltigen liberalen Gesellschaft und einem darin eingeschlossenen marktwirtschaftlichen System gefüllt werden. In der derzeitigen 'normativen Orientierungskrise' (vgl. Ulrich 2010b) sind die Bürger und mit ihr die Politik auf der Suche nach 'eine[r] gemeinsame[n] Vorstellung darüber, wie eine Gesellschaft wirtschaften und zusammenleben möchte' (Hengsbach 2004: 163). Wilhelm Röpke, einer der Autoren und Vordenker des Ordoliberalismus, äußerte nach dem Zweiten Weltkrieg, 'daß die Krisis unserer Gesellschaft mit der Krisis des Liberalismus zusammenfällt' (Röpke 1947: 8, Hvh. im Original) - und so widmete sich der Ordoliberalismus zwar schon seit der Weimarer Rerpublik, doch immer intensiver seit den 1930er Jahren der Aufgabe, die Grundlagen einer neuen liberalen Gesellschaftsordnung zu entwerfen, die aus den Fehlern des klassischen Liberalismus lernen sollte. Ganz in diesem Sinne geht es heute darum, '[a]uf der Suche nach einer neuen Ordnung' (vgl. Dahrendorf 2003) die erneute Krise des Libera-lismus anzuerkennen und zu diskutieren, ob und wie dieser weiterentwickelt werden kann und sollte. Angesichts der herrschenden Orientierungslosigkeit tauchen im politischen Diskurs derzeit Konzepte und Begriffe mit dem Versprechen auf, die verloren gegangene Orientierung wieder herzustellen: In Deutschland beschwören Politiker fast aller Couleur die ordoliberale Idee einer Sozialen Marktwirtschaft. Der Begriff 'Soziale Marktwirtschaft' wird mit der Hoffnung verbunden, dass er durch die Verknüpfung von wirtschaftlicher Freiheit und sozialer Gerechtigkeit einen Orientierungspunkt darstellen könnte. So stellt beispielsweise Wolfgang Schäuble (2010), der deutsche Bundesfinanzminister, einen direkten Bezug zu diesen Konzepten der Vergangenheit her und verbindet sie mit der Frage, 'wie wir es schaffen, wieder und wieder, dass in einer marktwirtschaftlichen Ordnung Freiheiten verantwortlich genutzt werden. Das sind die alten Fragen, die Eucken, Röpke, Rüstow und andere Vertreter der Freiburger Schule und des Ordoliberalismus gestellt haben. Ihre Antwort lautete: Durch die Soziale Marktwirtschaft'. Schäuble nennt hier Autoren und Konzepte, die seit der Finanzkrise eine Renaissance erleben. Auch Peer Steinbrück (SPD) spricht davon, die Soziale Marktwirtschaft wieder mit Leben füllen zu wollen (vgl. Steinbrück 2012: 33). Sahra Wagenknecht (Die Linke) fordert ein 'Erhard reloaded' (Wagenknecht 2011: 347), Christian Lindner (FDP) sieht die 'Notwendigkeit, die ursprüngliche Freiheitsordnung von Walter Eucken, Wilhelm Röpke und Ludwig Erhard zu aktualisieren und neu durchzusetzen' (Lindner/Vogl 2012: 14). Der Entwurf der 'grünen Marktwirt-schaft' von Bündnis 90/Die Grünen 'ist immer auch soziale Marktwirtschaft' (Bündnis 90/Die Grünen 2007: 4). Und nicht zuletzt spricht auch die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel von dem Bemühen ihrer Regierung, 'Freiheit in einer Ordnung der Sozialen Marktwirtschaft' (Merkel 2009b) schaffen zu wollen. Spätestens seit die EU-Verfassung eine 'soziale Marktwirtschaft' als gemeinsame Wirtschaftsordnung der Europäischen Union bestimmt hat, wird deutlich, wie bedeutsam dieses wirtschaftspolitische Konzept, das grundsätzlich in den 1940er und 1950er Jahre konzipiert wurde, auch heute immer noch ist. Das Interesse an einer Wiederbelebung der Sozialen Marktwirtschaft als ordoliberalem Konzept scheint auf alle Fälle groß zu sein. Doch was vermitteln diese Begriffe tatsächlich, und wie kommt es, dass sich Politiker so unterschiedlicher Parteien darauf beziehen? Betrachtet man die Literatur zur Sozialen Marktwirtschaft und zum Ordoliberalismus, fällt es schwer, ein eindeutiges Bild von diesen Konzepten zu bekommen. So schreibt Hentschel beispielsweise, dass man kaum mehr definieren könne, was eigentlich mit dem Begriff der Sozialen Marktwirtschaft gemeint sei und er im Grunde nur von 'Vieldeutigkeit und Undeutlichkeit geprägt' (Hentschel 1998: 25) sei. Ptak kommt nach einer ausgiebigen Analyse von Ordoliberalismus und Sozialer Marktwirtschaft zum Ergebnis, man fände 'in der Sozialen Marktwirtschaft keine Orientierung. Ihr konzeptioneller Gehalt ist ebenso aufgebraucht wie sie umgekehrt allein vom Mythos vergangener Zeiten lebt' (Ptak 2004: 299). Zinn erwidert jedoch, die konzeptionelle Leere der Begriffe sei nicht den Begriffen inhärent, sondern Teil einer Gesellschaftskrise: 'Die Krise der sozialen Marktwirtschaft ist inzwischen weit mehr als eine ökonomische Krise. Sie ist Teil einer umfassenderen Krise - einer Krise der gesellschaftlichen Kohäsion, einer Krise der deutschen Demokratie und einer Krise der bundesrepublikanischen Identität.' (Zinn 2009: 283) Diese Krise verursache dann die politische Orientierungslosigkeit, die also nicht allein das eigentliche Problem darstellt, sondern vielmehr ein Symptom für eine größere gesellschaftliche Schieflage ist. Es geht folglich auch nicht nur darum, Wirtschaftspolitik zu gestalten, sondern es geht um einen gesamtgesellschaftlichen Entwurf, der abhanden gekommen ist und nun eines Ersatzes bedarf. Es geht ganz akut darum, eine 'neue Leitidee des gesellschaftlichen Fortschritts' (Ulrich 2009a: V) zu entwickeln. Die Suche nach einer solchen Idee, die Orientierung in gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Fragen zu geben vermag, konstituiert den Arbeitsauftrag der folgenden Untersuchung.