E-Book, Deutsch, 334 Seiten
Reihe: Systemische Horizonte
Luhmann / Baecker Einführung in die Systemtheorie
9. Auflage 2024
ISBN: 978-3-8497-8257-3
Verlag: Carl Auer Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 334 Seiten
Reihe: Systemische Horizonte
ISBN: 978-3-8497-8257-3
Verlag: Carl Auer Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Im Unterschied zu allen anderen Einführungen in die Systemtheorie führt hier der Urheber selbst in seine Theorie ein. Die Vorlesung zur Einführung in die Systemtheorie, die diesem Buch zugrunde liegt, zeigt Niklas Luhmann auf dem Höhepunkt seines souveränen Umgangs mit einer anspruchsvollen Theorie und der zu beschreibenden Gesellschaft.
Die Einführung wird ihrem Namen auch insofern gerecht, als es Luhmann darum ging, seinem studentischen Publikum ein eigenes Arbeiten mit dieser Theorie zu ermöglichen. Sie ist deshalb eine Fundgrube für einfache Ideen im Umgang mit schwierigen Fragen und bietet eine Palette von Konzepten und Theoremen, die es erlauben, Wahrnehmung, Beschreibung und Denken zu schulen – sowohl für die Beobachtung von Politik und Wirtschaft, Religion und Wissenschaft, Kunst und Erziehung, Familie und Organisation als auch für die Einschätzung aktueller Fragen der Kognitionsforschung, ökologischer Probleme und sozialer Bewegungen.
Das Buch klärt die wichtigsten Grundlagen der allgemeinen und der soziologischen Systemtheorie mithilfe präziser Begriffsvorschläge und einer Fülle von Beispielen. Darüber hinaus dokumentiert es, dass der Witz zu den wichtigsten Ressourcen ernsthafter Theoriearbeit gehört. Keiner von Luhmanns Texten ist so gut verständlich und nachvollziehbar wie dieser.
Zielgruppe
Philosophen, Pychologen, Sozialwissenschaftler, Studierende, Therapeuten
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
Weitere Infos & Material
II.Allgemeine Systemtheorie
1. Theorie offener Systeme
Dritte Vorlesung
In dieser Stunde beginne ich mit dem Versuch, einige Überlegungen zu einer allgemeinen Systemtheorie zusammenzustellen. Das Wort, der Begriff »allgemeine Systemtheorie« überzieht die Sachverhalte beträchtlich. Eigentlich gibt es eine solche allgemeine Systemtheorie nicht. Zwar wird in der soziologischen Literatur immer auf die Systemtheorie Bezug genommen, so als ob es sich um etwas handele, das im Singular vorhanden wäre, aber wenn man genauer zusieht und wenn man über die soziologische Literatur hinausgreift, wird es schwierig, einen entsprechenden Gegenstand, eine entsprechende Theorie zu finden. Es gibt mehrere allgemeine Systemtheorien. Es gibt Versuche, systemtheoretische Ansätze zu verallgemeinern, das heißt, die Schranken einer bestimmten Disziplin zu überschreiten, aber im Allgemeinen ist dann immer noch deutlich zu erkennen, in welcher Disziplin der Ausgangspunkt dieser Abstraktionen liegt. Im Allgemeinen gibt es auch beträchtliche Barrieren zwischen den verschiedenen Disziplinen oder den verschiedenen Theoriemodellen, die Verallgemeinerungen von einer bestimmten Ausgangslage her zu formulieren versuchen. Diese Situation ist vielleicht historisch bedingt. In den 50er-Jahren hat man versucht, eine allgemeine Systemtheorie zu formulieren. Die entsprechende Terminologie beginnt in dieser Zeit. Damals wurde eine Gesellschaft für »General Systems Research« gegründet.1 Es entstand ein »General Systems«-Jahrbuch als Fokus für Publikationen mit dieser Interessenrichtung. Und es gab die Idee, dass man von verschiedenen Ausgangspunkten her Gedanken zusammenbringen und kombinieren könnte, die dann eben so etwas wie eine allgemeine Systemtheorie produzieren sollen. Das war nicht ohne Erfolg. Aber es lohnt sich, zunächst einmal in die Quellen dieser Überlegungen zurückzugehen und die verschiedenen Ausgangspunkte zusammenzustellen, um dann zu sehen, wo jeweils der kritische Fokus, die Probleme einer solchen Generalisierung gelegen haben und weshalb man über eine bestimmte Schwelle systemtheoretischer Entwicklungen nicht hinausgekommen ist. Meine Absicht ist es in dieser Stunde, zunächst einmal diese Entwicklung aufzuzeigen und ihre Grenzen zu markieren, um dann mit einem Neuansatz zu versuchen, einzelne Gesichtspunkte einer Art zweiten Generation, einer »second order cybernetics«, einer »Theorie beobachtender Systeme« und dergleichen zu formulieren. Also zunächst einmal zu den Ausgangspunkten. Eine Entwicklung lag in der Metapher oder in Modellen, die mit dem Begriff des Gleichgewichts gearbeitet haben. Das hatte zunächst einmal insofern eine mathematische Grundlage, als man mit mathematischen Funktionen zu arbeiten versuchte, aber die Metaphorik ist auch unabhängig davon interessant und im Übrigen eine der ältesten Quellen des systemischen Denkens, längst in Gebrauch, bevor man das Wort »System« mit einer gewissen Prominenz versah, längst natürlich auch, bevor man von »Systemtheorie« im eigentlichen Sinne sprechen konnte. Ich weiß nicht genau, wann das angefangen hat, aber die Gleichgewichtsmetaphorik ist im 17. Jahrhundert in der Idee des »balance of trade« schon selbstverständlich in Gebrauch, motiviert gegen Ende des Jahrhunderts auch die Vorstellung eines internationalen, speziell eines europäischen Gleichgewichts der Nationen (oder politischer Faktoren) und findet darüber hinaus eine allgemeine und relativ unbestimmte Verwendung. Wenn man auf diese Entwicklung zurückblickt, kann man sagen, sie ist durch eine Unterscheidung zu kennzeichnen, nämlich die Unterscheidung zwischen einem stabilen Zustand und einer Störung. Normalerweise wird der Akzent auf Stabilität gelegt. Man stellt sich ein Gleichgewicht als stabil vor, das nur auf Störungen reagiert, und zwar in der Weise reagiert, dass entweder das alte Gleichgewicht wiederhergestellt oder ein neuer Gleichgewichtszustand erreicht wird. Die Metapher setzt eine gewisse Mechanik, eine gewisse Implementation, eine gewisse Infrastruktur voraus, die dafür sorgen, dass das Gleichgewicht erhalten wird. Von daher ist die Vorstellung dominant, dass Gleichgewichtstheorien Stabilitätstheorien sind. Wenn man genauer hinsieht, und solche Hinweise gibt es schon im 17. Jahrhundert, wird das jedoch fragwürdig. Wenn man sich an der Vorstellung einer Waage, eines Gleichgewichtszustandes zweier Waagschalen, orientiert, wird sofort deutlich, dass dieses Gleichgewicht außerordentlich leicht zu stören ist. Man braucht nur auf einer der Waagschalen ein kleines Gewicht hinzuzufügen, und schon ist die Waage debalanciert. Das heißt, man kann die Idee des Gleichgewichts als eine Theorie betrachten, die die Störempfindlichkeit eines Systems bezeichnet und auch lokalisiert – man weiß, was man tun muss, wenn man das Gleichgewicht stören will. Unter einem Gesichtspunkt, der in der Vorlesung immer wieder vorkommen wird, ist diese Theorie eine Theorie einer spezifischen Unterscheidung und nicht so sehr die Theorie eines wünschenswerten Zustandes oder einer bestimmten Art von Objekten. Der Begriff des Gleichgewichts enthält eine Theorie, die Interesse hat zu sehen, wie das Verhältnis von Störung und Stabilität geordnet werden kann. Vielleicht kann man sogar sagen, aber das geht über die Literatur hinaus, dass sie Interesse hat zu sehen, wie das Verhältnis von Störung und Stabilität gesteigert werden kann, sodass ein System trotz hoher Störbarkeit immer noch stabil ist. Wenn man das auf die Mathematik projiziert, richtet sich das Interesse auf die Frage, an welchen mathematischen Gleichungen man so ein Verhältnis ablesen kann. Dennoch ist dieses Moment der Störung in der Tradition und auch in der neueren Verwendung von Gleichgewichtstheorien zwar immer wieder gesehen worden, aber der Akzent lag deutlich auf Stabilität. So als ob es ein Wert sei, ein System stabil zu halten, und als müssten sich die Einrichtungen, die das Gleichgewicht garantieren, darum bemühen, das System stabil zu halten. Das gilt vor allem für die ökonomische Theorie, für die Vorstellung eines ökonomischen Gleichgewichts, einer Ausgeglichenheit verschiedener ökonomischer Faktoren. Hier haben auch Zweifel eingesetzt, ob man überhaupt vom Gleichgewicht als einem stabilen Zustand sprechen könne, wenn man die Realität mit einbezieht, wenn man also nicht nur mathematische Funktionen im Auge hat, sondern sich vorstellt, wie wirkliche Systeme, etwa ökonomische Systeme, etwa Produktionssysteme, stabil sein können. Von da aus ist es zu Überlegungen gekommen, ob nicht gerade umgekehrt Ungleichgewicht eine Stabilitätsbedingung sein könnte. Danach könnte ein ökonomisches System nur dann stabil sein, wenn es entweder zu viele Waren produziert, um auf jeden Fall, wenn es auf dem Markt zu einer Nachfrage kommt, etwas anbieten zu können, oder wenn es umgekehrt zu viele Käufer produziert und zu wenig Waren, um auf alle Fälle Käufer zu haben, die gegebenenfalls, wenn genug Waren vorhanden sind, diese auch kaufen. János Kornai, ein ungarischer Ökonom, hat solche Anti-Äquilibriums-Konzepte entwickelt.2 Man sieht, dass damit jeweils die westliche und die östliche Wirtschaft innerhalb der kapitalistisch-sozialistischen Kontroverse abgebildet werden: Entweder müssen Waren knapp gehalten werden und Käufer oder Nachfrage im Überfluss vorhanden sein, dann ist man im sozialistischen System, oder umgekehrt müssen Käufer knapp sein und Waren im Überfluss angeboten werden, dann ist man im kapitalistischen System. Jedenfalls haben wir es hier mit einer Version der Nichtgleichgewichtstheorie zu tun, die sich von der klassischen und der neoklassischen Ökonomie dadurch unterscheidet, dass sie Stabilität aus dem Gleichgewicht in ein Ungleichgewicht verlegt. Das Gleichgewichtsmodell jedenfalls begründet einen Strang von Entwicklungen in Richtung auf eine allgemeine Systemtheorie. Das war jedoch in den 50er-Jahren keine neue Entdeckung, sondern nur eine Variante, auf die man gegebenenfalls zurückgreifen konnte. Neu waren zwei andere Problemkreise, die dann auch stärker als diese Gleichgewichtstheorie die weitere Entwicklung der Systemtheorie beeinflusst haben. Neu war vor allem die aus der Thermodynamik kommende Frage, wie denn überhaupt Systeme erhalten werden können, wenn man davon ausgehen muss, dass die Physik, zumindest die Physik geschlossener Systeme, dazu tendiert, Entropie zu erzeugen, also alle Unterscheidungen aufzulösen, einen unterscheidungslosen Zustand herbeizuführen oder, physikalisch gesprochen, einen Zustand herbeizuführen, in dem keine nutzbare Energie mehr vorhanden ist, also keine Energie, die irgendwelche Unterschiede erzeugen kann. Wie ist es, wenn dies ein allgemeines physikalisches Gesetz ist, möglich, die Tatsachen der physikalischen, chemischen, biologischen, sozialen Welt überhaupt zu erklären? Wie ist es möglich zu erklären, dass Ordnung vorhanden ist und dass man, wenn man die Perspektive auf einige Milliarden Jahre beschränkt, nicht sehen kann, dass sich tatsächlich eine solche Entwicklung zur Entropie abzeichnet? Wie ist,...