Machado de Assis | Das babylonische Wörterbuch | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, Band 9, 256 Seiten

Reihe: Manesse Bibliothek

Machado de Assis Das babylonische Wörterbuch

Erzählungen
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-641-18662-3
Verlag: Manesse
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Erzählungen

E-Book, Deutsch, Band 9, 256 Seiten

Reihe: Manesse Bibliothek

ISBN: 978-3-641-18662-3
Verlag: Manesse
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



«Der großartigste lateinamerikanische Autor aller Zeiten.» Susan Sontag
Was wäre geschehen, hätte nicht Jesus die Bergpredigt gehalten, sondern der Teufel? Was, wenn Männer und Frauen ihre Seelen und Rollen tauschten? Joaquim Maria Machado de Assis, berühmtester Klassiker Brasiliens und Vorbote des Magischen Realismus, stellt in seinen Erzählungen ironisch alle Konventionen auf den Kopf. Lustvoll spielt er mit den Erwartungen seiner Leser und lotet Grenzen aus: von Gut und Böse, Vernunft und Wahnsinn, bürgerlichem Schein und Sein. Dieser Auswahlband versammelt Machado de Assis' beste Geschichten - allesamt Neu- und deutsche Erstübersetzungen - zu einem Panorama kompromissloser Originalität.

Joaquim Maria Machado de Assis (1839-1908) wurde in Rio de Janeiro geboren. Aus einfachsten Verhältnissen stammend, absolvierte er zunächst eine Druckerlehre, arbeitete dann als Journalist und trat in den Staatsdienst. Sein vielseitiges literarisches Werk umfasst Lyrik und Theaterstücke, über 200 Erzählungen und 9 Romane, darunter «Die nachträglichen Memoiren des Bras Cubas» (Manesse 2003) und «Dom Casmurro» (Manesse 2013). Mitbegründer der Brasilianischen Akademie für Sprache und Dichtung, wurde er 1879 auch deren erster Präsident. In der letzten Dekade seines Lebens galt Machado de Assis als intellektueller Doyen und Nationalhelden Brasiliens.

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Die Akademien von Siam Kennen Sie die Akademien von Siam? Natürlich weiß ich, dass es in Siam nie Akademien gegeben hat. Aber lassen Sie uns annehmen, es hätte sie gegeben, und zwar vier an der Zahl; und jetzt hören Sie mir zu. I Wenn die Sterne des Nachts viele milchfarbene Glühwürmchen durch das Dunkel aufsteigen sahen, pflegten sie zu sagen, das seien die Seufzer des Königs von Siam, der sich gerade mit seinen dreihundert Konkubinen vergnüge. Und sie fragten sie augenzwinkernd: «Königliche Seufzer, was treibt der schöne König Kalaphangko gerade?» Worauf die Glühwürmchen mit feierlichem Ernst antworteten: «Wir sind die erhabenen Gedanken der vier Akademien von Siam; und wir führen das gesamte Wissen des Universums mit uns.» Eines Nachts waren es so viele Glühwürmchen, dass die Sterne sich verängstigt in ihre Alkoven flüchteten und die Glühwürmchen einen Teil des Weltraums in Besitz nahmen, wo sie für immer unter dem Namen Milchstraße verblieben. Auslöser für diese imposante Himmelfahrt von Gedanken war gewesen, dass die vier Akademien von Siam ein einzigartiges Problem lösen wollten: «Warum gibt es Männer, die weiblich, und Frauen, die männlich sind?» Das Naturell des jungen Königs hatte sie darauf gebracht. Kalaphangko war seiner ganzen Anlage nach eine Dame. Alles an ihm verströmte ausgesuchteste Weiblichkeit: Seine Augen waren liebevoll, die Stimme silberhell, seine Umgangsformen sanft und willfährig, und er hatte einen wahren Abscheu vor Waffen. Die siamesischen Krieger stöhnten, doch das Land freute sich. Es gab, nach Manier des Königs, der nichts anderes im Sinn hatte, nur noch Tanz, Komödien und Gesänge. Und so kam es auch zu jener Fantasie der Sterne. Auf einmal präsentierte eine der Akademien folgende Lösung für das Problem: «Einige Seelen sind männlich, andere weiblich. Die beobachtete Anomalie ist eine Frage des falschen Körpers.» «Einspruch», brüllten die anderen drei. «Die Seele ist geschlechtslos; mit der äußerlichen Unterscheidung hat sie nichts zu tun.» Dies genügte, um die Gassen und die Wasser von Bangkok mit akademischem Blut zu färben. Zunächst war es nur eine Kontroverse, dann kam es zu gegenseitigen Vorwürfen und schließlich zu Prügeleien. Zu Beginn der Vorwürfe war alles noch harmlos; keine der rivalisierenden Parteien ließ sich zu einer Beleidigung hinreißen, die nicht streng vom Sanskrit abgeleitet worden wäre, der akademischen Sprache des Landes, des Lateins von Siam. Doch dann verloren sie jede Scham. Die Rivalität geriet außer Rand und Band, stemmte die Hände in die Hüften und ließ sich herab auf das Niveau der Schändlichkeit, der Beleidigung, der Fausthiebe und Übeltaten, bis die aufgebrachte, das Geschlecht der Seele proklamierende Akademie beschloss, die anderen zu vernichten, und einen unheilvollen Plan ausheckte … Winde, die ihr vorbeizieht, traget fort diese Seiten, damit ich nicht erzählen muss die Tragödie von Siam! Wie schwer fällt es mir doch – wehe mir! –, wie schwer fällt es mir, diesen unnachahmlichen Racheplan zu Papier zu bringen. Die Mitglieder besagter Akademie taten ganz geheim und begaben sich just in dem Augenblick zu den anderen Akademikern, als diese, über das berühmte Problem gebeugt, eine Wolke von Glühwürmchen in den Himmel sandten. Kein langes Gerede, kein Erbarmen. Vor Wut schäumend, stürzten sie sich auf die Gegner. Wer hatte fliehen können, war nur für kurze Zeit auf der Flucht; er wurde verfolgt und angegriffen und starb am Ufer des Flusses, auf einem der Boote oder in einer der dunklen Gassen. Alles in allem achtunddreißig Tote. Den gegnerischen Wortführern wurde jeweils ein Ohr abgeschnitten, woraus anschließend Ketten und Armbänder für den siegreichen Präsidenten, den erhabenen U-Tong, gefertigt wurden. Siegestrunken feierten sie ihre Tat mit einem festlichen Bankett und sangen dazu diese großartige Hymne: «Der Ruhm sei unser, denn wir sind der Reis der Wissenschaft und das Licht des Universums.» Die Stadt erwachte bestürzt. Schrecken befiel die Menschen. Niemand wollte eine so rohe und hässliche Tat durchgehen lassen; einige trauten gar ihren Augen nicht … Ein einziger Mensch hieß alles gut: Es war die schöne Kinnara, Zierde der königlichen Konkubinen. II Sanft zu Füßen der schönen Kinnara liegend, bat der junge König um ein Lied. «Ich schenke Euch kein anderes Lied als dieses: Ich glaube an die geschlechtliche Seele.» «Dann glaubst du an das Absurde, Kinnara.» «Eure Majestät glauben also an die geschlechtslose Seele?» «Das ist ebenso absurd, Kinnara. Nein, ich glaube weder an die geschlechtslose noch an die geschlechtliche Seele.» «Aber woran glauben Eure Majestät dann, wenn Ihr an keines der beiden glaubt?» «Ich glaube an deine Augen, Kinnara, sie sind die Sonne und das Licht des Universums.» «Aber Ihr müsst Euch entscheiden: Entweder glaubt Ihr an die geschlechtslose Seele und bestraft die noch existierende Akademie, oder Ihr glaubt an die geschlechtliche Seele und sprecht sie frei.» «Wie köstlich ist doch dein Mund, meine süße Kinnara! Ich glaube an deinen Mund: Er ist der Quell der Weisheit.» Kinnara erhob sich erregt. So, wie der König ein weiblicher Mann war, war sie eine männliche Frau – ein Büffel mit Schwanenfedern. Und dieser Büffel lief nun in dem Schlafgemach umher. Doch gleich darauf war er wieder der Schwan, der innehielt, sich herabbeugte, den König zwischen zwei Zärtlichkeiten um einen Erlass bat und diesen auch erhielt. In diesem Erlass wurde die Doktrin der geschlechtlichen Seele für rechtmäßig und orthodox erklärt und die andere für absurd und pervers. Am selben Tag noch wurde das Dekret an die triumphierende Akademie geschickt, an die Mandarine und in die Pagoden, ins ganze Königreich. Die Akademie hängte Lampions auf; der öffentliche Frieden war wiederhergestellt. III Doch die schöne Kinnara heckte einen teuflischen Plan aus. Eines Nachts, als der König gerade ein paar Staatspapiere durchsah, fragte sie ihn, ob die Steuern pünktlich bezahlt würden. «Ohimè!»,1 rief dieser aus, das Wort wiederholend, das er von einem italienischen Missionar gehört hatte. «Bisher sind nur wenige Steuern bezahlt worden, und ich wollte die Steuerzahler nicht köpfen lassen … Nein, niemals … Blut? Nein, ich will kein Blut …» «Und wenn ich ein Allheilmittel für Euch wüsste?» «Was für eines?» «Eure Majestät haben verordnet, dass die Seelen weiblich und männlich sind», sagte Kinnara nach einem Kuss. «Angenommen, unsere Körper sind vertauscht. Dann muss man doch nur jede Seele wieder mit dem Körper vereinen, der ihr zusteht. Lasst uns die unseren tauschen …» Kalaphangko lachte herzlich über diese Idee und fragte, wie der Tausch denn vonstattengehen solle. Sie antwortete, nach der Methode des Hindu-Königs Mukunda, der sich in den Körper eines Brahmanen hineinbegeben habe, während in den von Mukunda ein Narr geschlüpft sei – so hieß es jedenfalls in der den Türken, Persern und Christen überlieferten Sage. Ja, aber was war mit der Anrufungsformel? Kinnara behauptete, sie zu besitzen; ein alter buddhistischer Mönch habe eine Abschrift davon in einer Tempelruine gefunden. «Abgemacht?» «Ich glaube nicht an mein eigenes Dekret», erwiderte der König lachend, «doch was soll’s, falls es stimmt, dann tauschen wir …, aber nur für ein halbes Jahr, nicht länger. Danach tauschen wir die Körper wieder zurück.» Sie vereinbarten, dass es noch in derselben Nacht passieren sollte. Während die Stadt schlief, ließen sie die königliche Piroge2 kommen, setzten sich hinein und ließen sich treiben. Keiner der Ruderer bemerkte sie. Als die Morgenröte sich zeigte und die golden glänzenden Kühe sich am Himmel abzeichneten, sprach Kinnara die geheimnisvolle Anrufung; ihre Seele löste sich und schwebte frei umher, darauf wartend, dass der Körper des Königs ebenfalls frei werde. Der ihre war auf den Teppich gefallen. «Bist du bereit?», fragte Kalaphangko. «Ja, ich bin in der Luft und warte. Eure Majestät verzeihen die Unwürdigkeit meiner Person …» Doch die Seele des Königs hörte den Rest schon nicht mehr. Funkelnd schlüpfte sie aus dem eigenen Gefäß und drang in Kinnaras Körper ein, während Kinnaras Seele sich der königlichen Hülle bemächtigte. Beide Körper erhoben sich und sahen einander an – man stelle sich nur das Erstaunen vor. Es war wie bei Buoso und der Schlange3, wie beim alten Dante; doch sehet hier meine Kühnheit. Der Dichter gebietet Ovid und Lukan zu schweigen, weil er findet, die von ihm beschriebene Metamorphose sei wertvoller als die der anderen beiden. Ich befehle allen dreien zu schweigen. Buoso und die Schlange sind nicht mehr da, während meine beiden Helden, nunmehr körperlich vertauscht, weiterhin miteinander reden und leben – was natürlich, Bescheidenheit hin oder her, noch dantesker ist. «Es ist wirklich merkwürdig», sagte Kinnara, «sich selbst anzusehen und plötzlich eine Hoheit zu sein. Spüren Eure Majestät nicht dasselbe?» Beiden ging es nun gut, wie Menschen, die endlich das richtige Haus gefunden haben. Kalaphangko streckte sich genüsslich in Kinnaras weiblichen Kurven. Diese wiederum richtete sich in Kalaphangkos aufrechtem Oberkörper ein. Siam hatte endlich einen König. IV Die erste Amtshandlung...


Pfister, Manfred
Manfred Pfister ist Professor für Englische Literaturwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Er hat sich vor allem mit seinem Standardwerk zur Dramentheorie einen Namen gemacht. Weitere Schwerpunkte seiner Arbeit sind die Theorie der Intertextualität und die Erforschung interkultureller Gattungen, insbesondere des Reiseberichts und der Übersetzung. Er hat u.a. Bücher zu William Shakespeare, Laurence Sterne und Oscar Wilde veröffentlicht und war Mitherausgeber einer englischen Literaturgeschichte.

Gareis, Marianne
Marianne Gareis wurde 1957 in Süddeutschland geboren. Sie studierte Lateinamerikanistik, Anglistik und Ethnologie an der Freien Universität Berlin und lebte anschließend mehrere Jahre in Portugal. Seit 1989 arbeitet sie als Übersetzerin, zunächst vor allem portugiesischer, seit einigen Jahren verstärkt brasilianischer Literatur. 2014 erhielt sie für ihre Übersetzung des brasilianischen Klassikers »Dom Casmurro« von Machado de Assis den renommierten Straelener Übersetzerpreis der Kunststiftung NRW. Marianne Gareis lebt in Berlin.

Strasser, Melanie P.
Melanie P. Strasser studierte Philosophie und Übersetzen an der Universität Wien sowie an der Universität Porto und der Bundesuniversität Santa Catarina, Brasilien. 2016 Stipendiatin für die Berliner Übersetzerwerkstatt. Zurzeit ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Romanistik der Universität Wien und promoviert über Übersetzungstheorien in Brasilien.

Machado de Assis, Joaquim Maria
Joaquim Maria Machado de Assis (1839-1908) wurde in Rio de Janeiro geboren. Aus einfachsten Verhältnissen stammend, absolvierte er zunächst eine Druckerlehre, arbeitete dann als Journalist und trat in den Staatsdienst. Sein vielseitiges literarisches Werk umfasst Lyrik und Theaterstücke, über 200 Erzählungen und 9 Romane, darunter «Die nachträglichen Memoiren des Bras Cubas» (Manesse 2003) und «Dom Casmurro» (Manesse 2013). Mitbegründer der Brasilianischen Akademie für Sprache und Dichtung, wurde er 1879 auch deren erster Präsident. In der letzten Dekade seines Lebens galt Machado de Assis als intellektueller Doyen und Nationalhelden Brasiliens.



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