Mai | Der kurze Sommer der Freiheit | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 320 Seiten, Format (B × H): 125 mm x 205 mm

Mai Der kurze Sommer der Freiheit

Wie aus der DDR eine Diktatur wurde
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-451-83002-0
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Wie aus der DDR eine Diktatur wurde

E-Book, Deutsch, 320 Seiten, Format (B × H): 125 mm x 205 mm

ISBN: 978-3-451-83002-0
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Zu recht bekannt und Teil unserer Erinnerungskultur ist die mutige Tat und das erschütternde Schicksal der Gruppe um die Geschwister Scholl. Doch wer kennt Herbert Belter? Wer kennt Wolfgang Ihmels, Jutta Erbstößer oder Wolfgang Natonek? Auch Herbert Belter wurde von den Henkern eines totalitären Staates ermordet, nachdem er Flugblätter verteilt hatte, auch er war erst 21 Jahre alt am Tag seines gewaltsamen Todes.

Klaus-Rüdiger Mai erzählt auf der Grundlage intensiver Quellenrecherchen erstmals die ganze Geschichte des mutigen Widerstands Leipziger Studenten gegen die Stalinisierung Ostdeutschlands und bettet ihre Geschichte ein in die Unterdrückung demokratischer Anfänge in der DDR von ihrer Gründung 1949 bis zum Volksaufstand vom 17. Juni 1953. Ein Lehrstück über das Werden einer Diktatur und über Mut und Widerstand.

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Prolog:
Zweierlei Arten des Erinnerns: Sophie Scholl und Herbert Belter
Zu Recht bekannt und Teil unserer Erinnerungskultur ist die mutige Tat und das Schicksal der Studentin Sophie Scholl. Doch wer kennt Herbert Belter? Herbert Belter aus Rostock war 20 Jahre alt, als er 1949 das Studium der Volkswirtschaft an der Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät (Gewifa) in Leipzig aufnahm. Sophie Scholl aus Ulm hatte gerade ihren 21. Geburtstag gefeiert, als sie in München 1942 begann, Biologie und Philosophie zu studieren. 21 Jahre zählte Sophie Scholl, als die Nationalsozialisten sie am 22. Februar 1943 in München durch das Fallbeil ermordeten. So alt war auch Herbert Belter, als die Kommunisten ihn am 28. April 1951 in Moskau durch Genickschuss hinrichteten. Wir wissen von Sophie Scholls Mut und Unerschrockenheit, wie sie unbeirrt in den Tod ging. Am Morgen vor dem Prozess im Münchener Justizpalast in der Prielmayerstraße unter dem Vorsitz des berüchtigten Präsidenten des Volksgerichtshofes Roland Freisler, der eigens aus Berlin nach München angereist kam – im Grunde ein Psychopath –, um selbst das Todesurteil über Sophie Scholl, Hans Scholl und Christoph Probst zu fällen, erzählte sie ihrer Zellenmitbewohnerin Else Gebel den Traum, den sie in der Nacht zuvor gehabt hatte. Im Traum brachte Sophie an einem schönen Sommertag ein Kind im weißen Kleid zur Taufe. Zur Kirche musste sie einen steilen Berg hinaufgehen, doch trug sie das Kind sicher in ihrem Arm. Plötzlich jedoch öffnete sich eine Gletscherspalte. Das Kind vermochte sie noch auf die sichere Seite zu legen, bevor sie in die Tiefe stürzte. Für Else Gebel legte Sophie den Traum so aus: Das Kind sei ihre Idee, die sich am Ende durchsetzen werde, auch wenn sie, die Wegbereiter, es nicht mehr erleben, sondern vorher sterben würden. Diese Idee bestand in der Freiheit der Bürger und der Ablehnung von Diktatur und Gesinnungszwang. Das Vorletzte, was wir von Herbert Belter wissen, ist die Beschreibung eines Bildes, das sich seinen Mitverurteilten eingeprägt hat. Die Mitglieder der sogenannten Belter-Gruppe waren zu 25 bzw. zehn Jahren Arbeitslager verurteilt worden und befanden sich auf dem Weg nach Workuta. Herbert Belter hatten die Schergen des sowjetischen Staatssicherheitsdienstes von seinen Kommilitonen getrennt. Im weißrussischen Brest sahen die Gefährten Herbert Belter, den seine Bewacher über die Gleise führten, die Augen verbunden, als ginge es schon zur Erschießung und nicht zum Zug nach Moskau, zum letzten Mal. Ein erbarmungswürdiges Bild, ein Bild voller Einsamkeit, ein Bild der Verlorenheit. Das Letzte, was man von Herbert Belter weiß, ist, dass er am 28. April 1951 im Keller des Butyrka-Gefängnisses wahrscheinlich von einem der blutrünstigsten Henker Stalins, dem berüchtigten Wassili Blochin, auch ein Psychopath, per Genickschuss ermordet wurde. Die Eltern kamen zu Sophie Scholls Beerdigung, noch heute kann man ihr Grab, das ihres Bruders sowie Christoph Probsts letzte Ruhestätte auf dem neben der Justizvollzugsanstalt Stadelheim gelegenen Friedhof am Perlacher Forst aufsuchen. Jahrelang schrieben die Eltern von Herbert Belter Briefe an die Behörden der DDR, den Ministerpräsidenten und den Präsidenten der DDR, um etwas über den Verbleib ihres Sohnes, der plötzlich verschwand, zu erfahren. Nichts hörten sie von der Hinrichtung ihres Sohnes, nie standen sie an seinem Grab. Es existiert auch kein Grab. Nach der Hinrichtung wurde sein Leichnam im Krematorium des angrenzenden Friedhofes Donskoje verbrannt und dann in einem Massengrab verscharrt, das die Asche von über 800 Deutschen birgt, die seit Kriegsende nach Moskau verschleppt und dort ermordet worden waren. Herbert Belters Prozess fand unter Ausschluss der Öffentlichkeit in einem Keller am Hauptsitz der sowjetischen Staatssicherheit in Dresden in der Bautzener Straße statt. Ausdrücklich heißt es im Protokoll des Prozesses, dass die Verhandlung als „geschlossene Gerichtssitzung […] ohne Teilnahme der Staatsanwaltschaft und der Verteidigung“1 stattfindet. Im Februar kam Herbert Belter in Moskau an, wurde in eine Todeszelle gesperrt, bis er zwei Monate später tief in der Nacht in den Keller geführt und erschossen wurde. Niemand weiß von der Einsamkeit der letzten beiden Monate, von der Erschütterung, der Hoffnung vielleicht, niemand weiß, was Herbert Belter, ein junger Mann von 21 Jahren, in seinen letzten beiden Monaten durchgemacht hat. Keine Quelle wird je darüber Auskunft geben, kein Augenzeuge berichten. Vielleicht werden in einer Zeit nach Putin, in einer Zeit, in der Russland, wie zu hoffen steht, die Freiheit erlebt, die Archive sich wieder öffnen. Vielleicht wird doch noch ein Schriftstück auftauchen, das Auskunft über die letzten Tage dieses allzu kurzen Lebens gibt. Es scheint so zu sein, dass diejenigen, die gegen das nationalsozialistische Regime Widerstand geleistet haben, ganz anders in unserer Erinnerungskultur beheimatet sind als diejenigen, die sich gegen den Kommunismus stellten und dafür ebenfalls mit dem Leben oder langen Haftstrafen bezahlten. Messen wir die beiden deutschen Diktaturen in unserer Erinnerungskultur mit unterschiedlichem Maß? Konkreter gefragt, gewichten wir die Opfer der beiden Diktaturen unterschiedlich? Ist es bestimmten politischen Kräften gelungen, die kommunistische Diktatur, den linken Totalitarismus im Zuge der Bereinigung ihres politischen Erbes zu verharmlosen? Doch wie kann man diese Frage beantworten, wenn sie sich aus dem einfachen Grund nicht stellt, weil man nichts von Herbert Belter weiß? Bevor also gefragt werden kann, ob und wie man an Herbert Belter erinnern kann, müssen wir uns vergegenwärtigen, wer er, wer Werner Ihmels, wer Wolfgang Natonek war.   Das einzige Bild von Herbert Belter   In „1984“, dem Roman, den die Studenten der sogenannten Belter-Gruppe als Tarndruck verteilt hatten, schrieb George Orwell: „Die Menschen verschwanden einfach, immer mitten in der Nacht. Der Name wurde aus den Listen gestrichen, jede Aufzeichnung von allem, was einer je getan hatte, wurde vernichtet; dass man jemals gelebt hatte, wurde geleugnet und dann vergessen. Man war ausgelöscht, zu Nichts geworden; man wurde vaporisiert, wie das gebräuchlichste Wort dafür lautete.“2 George Orwell schildert in dem Roman, wie wichtig es für totalitäre Machthaber ist, die Geschichte auszulöschen und die Vergangenheit umzuschreiben. In ihren Geschichtskonstruktionen stören wirkliche Menschen, weil die Wirklichkeit stört. Um ihre neuen Utopien unters Volk zu bringen, eine große Transformation ins Werk zu setzen, müssen die Verbrechen, die bei der Umsetzung dieser Utopien begangen wurden, in Vergessenheit gebracht werden. Als man in der DDR die Verbrechen Stalins und seiner Partei nicht mehr totschweigen konnte, trennte man Stalin von dieser Partei, lud bei ihm alle Schuld ab und fand für die Opfer des Kommunismus den Begriff der Gestehungskosten des Fortschritts. Weil Diktaturen und totalitäre Machthaber mit dem Mittel der damnatio memoriae, mit der Auslöschung der Erinnerung an Menschen zum Zwecke der Auslöschung und des Umschreibens von Geschichte arbeiten, ist es so wichtig, ihren Opfern ihre Geschichte und damit auch ihre Würde zurückzugeben. Doch es geht nicht nur um sie. Es geht auch um uns. Friedrich Hans Eberle, der Vater einer der zehn jungen Männer, die im Januar 1951 in jenem Keller im sächsischen Hauptsitz des sowjetischen Staatssicherheitsdienstes verurteilt wurden, schrieb über die Zeit, als die Nationalsozialisten an die Macht kamen: „Was hätte ich denn tun können? Das hätte man am Anfang vielleicht verhindern können und da hat niemand gewusst, wo das alles hinführt.“ Seinem Sohn wurden diese Worte zur Mahnung, als in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) und der jungen DDR wieder eine Diktatur etabliert wurde. Darin besteht die große Aufgabe und der Sinn von Erinnerungskultur: den Opfern ihre Würde und ihre Geschichte zurückgeben, damit die Späteren dafür sensibilisiert werden können, „wo das alles hinführt“ oder hinführen kann. Was wir erinnern wollen, ist, wo sich Menschen als Menschen verhalten haben und wo nicht, und was Freiheit und Demokratie kosten. Damit ist zugleich gesagt, dass eine abstrakte Erinnerungskultur eine contradictio in adjecto ist, sie darf kein Alibi oder eine akademische Eitelkeit sein, sondern muss konkret, muss biografisch präzise vorgehen, wenn sie eine Kultur des Erinnerns sein will und nicht nur Fundus für wohlfeile Sonntagsreden. Ihr Gegenstand sind Menschen, deren Lebensgeschichte sie zu erzählen hat, Menschen wie Sophie Scholl und Herbert Belter. Aber erst dann, wenn Herbert Belter so bekannt ist wie Sophie Scholl, können wir wirklich in Deutschland von einer vollständigen Erinnerungskultur reden. Herbert Belter war kein „Rechter“. Er gehörte sogar der SED an – und dennoch empörte ihn, dass die angekündigten Wahlen von 1949, die gleich nach der Gründung der DDR stattfinden sollten, auf das Jahr 1950 verschoben wurden, um sie dann als sogenannte Blockwahl abzuhalten, die als reine Farce stattfand. Sophie Scholl war keine „Linke“. Gegen die Diktatur der Nationalsozialisten leistete sie Widerstand, weil sie es als ihre Pflicht als Mensch und als Christin ansah. Weil sie nicht links war, stufte sie ein linker Autor aus kommunistischem DDR-Adel als „ideologisch fragwürdig“ ein.3 So beginnen...


Mai, Klaus-Rüdiger
Klaus-Rüdiger Mai, Dr. phil, geb. 1963, ist Germanist, Historiker und Philosoph. Sein Spezialgebiet sind die religiösen, philosophischen und künstlerischen  Kulturen Europas gestern und heute sowie die Geschichte und Gegenwart Ostdeutschlands und Osteuropas. Er ist erfolgreicher Roman- und Sachbuchautor, Essayist und Publizist und lebt mit seiner Familie bei Berlin.

Klaus-Rüdiger Mai, Dr. phil, geb. 1963, ist Germanist, Historiker und Philosoph. Sein Spezialgebiet sind die religiösen, philosophischen und künstlerischen  Kulturen Europas gestern und heute sowie die Geschichte und Gegenwart Ostdeutschlands und Osteuropas. Er ist erfolgreicher Roman- und Sachbuchautor, Essayist und Publizist und lebt mit seiner Familie bei Berlin.



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