E-Book, Deutsch, 344 Seiten
Martin / Villard / Mercier Aurélien Massons PARIS NOIR
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-95988-087-9
Verlag: CulturBooks Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Ein literarisches Städteporträt
E-Book, Deutsch, 344 Seiten
ISBN: 978-3-95988-087-9
Verlag: CulturBooks Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
»Eine dermaßen hochkarätige Krimi-Anthologie, dass man beim Lesen schier den Mund aufsperrt und mit den Ohren schlackert! Feinster Stoff ...« Hammett-Krimibuchhandlung Literarisches Städte-Porträt - 12 exklusive Geschichten der besten französischen Noir-Autoren. 12 Kurzgeschichten, 12 Blickwinkel, 12 Stadtviertel - und 12 faszinierende Teile eines größeren Puzzles. Ein spannendes Städteporträt und eine Entdeckungsreise durch die Kriminalliteratur Frankreichs. »Paris Noir« führt den Leser mit 12 exklusiven Storys durch die Banlieues und das mittelalterliche Zentrum der Stadt mit seinen gewundenen Gassen, seinen Geistern und den tief in der Geschichte vergrabenen Geheimnissen. Mitten hinein in Kriminalität, Schießereien, verwickelte Affären und zerstörte Träume - denn Paris ist nicht nur die Stadt der Liebe ... Stimmen »Zwölf französische Autoren liefern in 'Paris Noir' eine schwarze menschliche Komödie ... Die Gespenster der Vergangenheit begegnen den Schrecken der Moderne, das Urwüchsige mischt sich mit dem Intellektuellen.« Fritz Göttler, Süddeutsche Zeitung »Grandios Sammlung ... Literarisch eine Klasse für sich, könnte die Bandbreite nicht größer sein: Waghalsige oder verrückte Ich-Erzähler, gnadenlose Chronisten oder poetische Dichter.« Joachim Schneider, Badische Zeitung. »Eine dermaßen hochkarätige Krimi-Anthologie mit tatsächlich aktuellen Paris- und tatsächlich Noir-Geschichten, dass man beim Lesen schier den Mund aufsperrt und mit den Ohren schlackert! Hier wurde alles richtig gemacht: immer heutig, keine ollen Kamellen, alles Erstveröffentlichungen, kein Durchhänger. Feinster Stoff ... Hier ahnt man Paris. Die Wucht, die Dimensionen dieser Stadt, dieser Weltstadt, dieses historischen europäischen Zentrums.« Robert Schekulin, Hammett »In den Storys prallen Geschichte und Kultur, die bis ins Mittelalter zurückreichen, mit der heute allgegenwärtigen Gentrifizierung, dem brutalen Klassenkampf und der Migration in den Vierteln und Vororten zusammen ... Das Konzept funktioniert definitiv und dürfte uns 2018 noch viel Freude bereiten. Immerhin sind bereits die Anthologien 'Berlin Noir' und 'USA Noir' in Vorbereitung.« Christian Endres, Doppelpunkt »Die dutzend Erzählungen sind wandlungsreich, düster und bieten schaurige, stimmungsvolle und gute Unterhaltung.« Hauke Harder, Leseschatz »Die dämmrigen und verschwitzten Schauplätze der Verbrechen in ?Paris Noir? erinnern eindringlich daran, dass die Franzosen den ?Noir? erfunden haben.« The New York Times
Der Herausgeber: Aurélien Masson wurde 1975 geboren und war ab 2002 Lektor und von 2005 bis 2017 Herausgeber der legendären Série Noire der Édition Gallimard, einem von Frankreichs führenden Verlagshäusern. »Man bewohnt seine Stadt nicht, man erträumt sie. Ich möchte Sie einladen, mir in diesen Traum zu folgen.« Aurélien Masson (HG) Start einer Reihe mit internationalen Top-Autorinnen und -Autoren »Paris Noir« ist der Auftakt zu weiteren internationalen Noir-Anthologien. Jedes Buch besteht aus exklusiv für die Reihe geschriebenen Storys namhafter Autorinnen und Autoren und talentierter Newcomer. Jede Geschichte spielt in einem anderen Viertel einer Stadt - oder Gegend eines Landes. So entstehen packende literarische Porträts mit ungewöhnlichen, breit gefächerten Einblicken. Der nächste Band der Reihe: Frühjahr 2018: »Berlin Noir«. Herausgegeben von Thomas Wörtche. Mit exklusiven Storys von Rob Alef, Max Annas, Zoë Beck, Katja Bohnet, Ute Cohen, Johannes Groschupf, Kai Hensel, Susanne Saygin, Ulrich Woelk, Mike Wuliger, Miron Zownir u. a.
Weitere Infos & Material
Der Chinese
Von Chantal Pelletier
Ménilmontant
Es war das Letzte, was Luc mir auf seinem Weg nach draußen sagte: »Sei nicht blöd, Sonia, nimm deine Tabletten.« Ich nickte. Ich hätte meine Medikamente wieder nehmen sollen, aber ich dachte, ich wäre stabil, und ich hatte es satt, mir die Scheißdinger jeden Tag reinzuwerfen. Draußen, entlang unserer Fenster, brachen die ersten Hyazinthen durch die Erde ihrer Keramiktöpfe. Wir gingen in den Hof, und mich überkam eine Woge der Zuneigung für die beiden Kirschbäume, die vor der Wohnung des Hausmeisters vor sich hin starben, und für die Grashalme, die zwischen den schiefen Pflastersteinen ihr Chlorophyll vorantrieben. Selbst der Anblick der verblichenen Fassaden gefiel mir. »Keine Sorge«, sagte ich. Er umarmte mich, oder genauer gesagt: Ich umarmte ihn. So waren wir, wir zwei. Ein umgekehrtes Paar. Ich war größer, schwerer. An Luc war nichts Athletisches, und ich war als Teenager Schwimmchampion gewesen. Achtzehn Jahre später waren davon Bizeps, Schultern und Oberschenkel immer noch übrig. Ich glaube, das war es, was Luc gefallen hatte: meine maskuline Seite. Aber an diesem Tag war alles vorbei. Luc ging, um sich einem anderen Gegner zu stellen. Wir küssten uns auf die Wange. Ich sah zu, wie er davonging. Ich wusste, ich würde mir nicht noch mal die Zeit nehmen, um mich an jemand anderen zu gewöhnen. Zu viel Arbeit, keine Geduld mehr. Was Luc betraf, so hatte der bereits einen neuen Slalom begonnen, ohne auch nur daran zu denken, dafür zu trainieren. Von uns beiden war ich diejenige, die am meisten lächelte. Luc wusste, dass er, indem er ging, mir einen größeren Gefallen tat als sich selbst. Was ihn nicht davon abhielt, sich schuldig zu fühlen. Das tat mir beinahe weh. Er trat durch das Hoftor nach draußen. Ich stellte ihn mir vor, wie er in den überfüllten Lieferwagen kletterte. Wahrscheinlich würde er in diesem Moment Reue verspüren: Er hasste logistische Probleme. Die Unannehmlichkeiten des Umzugs würden ihn für eine lange Zeit aus dem Gleichgewicht bringen. Ich machte mich wieder an das Dressing meines griechischen Salats, fügte etwas Zitrone hinzu und eine Prise gemahlenes Oregano. Ich probierte. Nicht schlecht. Ich gab das Rezept, die Liste der Zutaten und die nummerierten Schritte, in den Computer ein und nannte diesen banalen Endivie-Tomate-Feta-schwarze-Oliven-Salat Griechischer Sommersalat. Ein neuer Titel ist genug, um ein altes Rezept frisch klingen zu lassen, das galt hier, und das galt für alles andere. Ich sah aus dem Fenster, und mir fiel auf, dass die Pflastersteine im Hof weniger dunkel waren, der Tag heller als in den vorherigen Wochen. Der Frühling war unterwegs. Ich fühlte mich irgendwie berauscht und war plötzlich überzeugt davon, dass Freiheit und Frühling eine wunderschöne Hochzeitsfeier abgeben würden, wenn ich denn wollte. Ich hatte nicht entschieden, ob ich Jérôme anrufen sollte. »Mir geht’s gut, danke!« Ungeachtet dessen, was Luc sagt, bin ich höflich, besonders meinen Kunden gegenüber, und Jérôme war nun mal mein Hauptkunde: Ich kreierte die meisten der Rezepte für sein Magazin Foodgourmet. Wie gewöhnlich, oder mehr sogar als sonst, mit Arbeit überlastet, verhandelte er gerade den Verkauf einer chinesischen Ausgabe seines Magazins an einen Verlagskonzern in Shanghai, und angesichts der Tatsache, dass er fähig war, seine Seele in kleine Stückchen geschnitten als Schlüsselanhängerdeko verhökern zu können, drehte er durch. 1,3 Milliarden potenzielle Kunden. Sogar ein Tausendstel dieses Glücksfalls wäre ein Vermögen wert gewesen. Ich wusste sofort, dass er um einen Gefallen bat. Ich brauchte länger, um zu verstehen, um was für einen: Die letzten drei Tage hatte er für einen Chinesen den Stadtführer gespielt. Hingebungsvoll, aus gutem Grund: Er war der Cousin des Mannes, mit dem er in Shanghai verhandelte. Aber jetzt war es zu viel, im Ernst! Ob ich ihm wohl eventuell bis um neun heute Abend in Orly, dann fliege der anstrengende Kamerad weiter nach Mailand, diese Last abnehmen könne? Er hielt mir eine seiner Reden, »Ich mache es wieder gut, die Zukunft des Unternehmens steht auf dem Spiel« oder »Ich bin so überarbeitet, ich zahle dir das Äquivalent von drei Rezepten, du kannst nicht Nein sagen.« Ich sagte Nein, aber ich konnte nicht Nein sagen. Abgesehen davon war es weniger schlimm, einen chinesischen Touristen durch die Hauptstadt zu führen, als an Rezepten herumzubasteln, die ich auf Fotos sah: Wenn man seine Vorstellungskraft bemühte, konnte dies als Tomate durchgehen, jenes als Sauce béarnaise, und das ganze Ding als eine Scheibe Kalbskopf. Weil es genau das war, zu dem mein Job geworden war: Ich schaute komplett lahme Bilder von komplett lahmen Gerichten an und dachte mir plausible Rezepte dafür aus. Um die Wahrheit zu sagen, verlor man dabei seinen Appetit, sogar ich, und ich liebe Essen. Ohne diese Geschichte hätte ich meine Autopsie eines Salats gemailt und wäre zu Hause geblieben; jetzt druckte ich ohne Bedauern meine Seite aus, ganz aus dem Häuschen, rauszugehen und dem Frühling direkt in die Augen zu sehen. Ich sah ihn sofort, als ich die Büroräume von Foodgourmet betrat. Mich traf der Schlag! Mein Chinese zeichnete sich gegen liebliches Licht und die begrünten Kaskaden an den Hängen des Parc de Belleville ab. Im Hintergrund verbeugte sich das neblige Paris vor solcher Schönheit, goldener Haut und geschürzten Lippen, einem echten Stück China, dem bernsteinfarbener Tee die Farbe braunen Zuckers verliehen hätte. In diesem Moment wusste ich, dass ich meine Tabletten hätte nehmen sollen. Ich kriegte die Krise. Dabei fühlte ich mich nicht mal wirklich zu asiatischen Männern hingezogen. Zu sanft, ganz und gar nicht sexy. Sie haben etwas beinahe Eunuchenhaftes an sich, dachte ich, obwohl ich mich nie schlau gemacht hatte. Wahrscheinlich assoziierte ich sie mit den Bediensteten am kaiserlichen Hof in China, die kastriert waren, weil Seine Hoheit keine Rivalen unter seinem Dach duldete. Kurz, ich konnte mit chinesischen Männern nichts anfangen. Nein, es waren Ganoven, die mir Nervenkitzel bereiteten: haarige Brocken, die ihre Hemdsärmel ausfüllen, Schultern zur Schau stellen, die groß genug sind für zwei, dicke Arme und große, schroffe Hände, ruppige Männer, die dich mit ihren Tenorstimmen ins Unterholz schwatzen ... An diesem Tag aber verflüchtigten sich all meine Vorurteile. Ich hätte heftige Medikation gebraucht, um mein Urteilsvermögen wiederherzustellen, das sich ziemlich schnell verabschiedet hatte. Alles schmolz, meine Beine waren wie Pudding, mein Herz sank zwischen die Schenkel, und rasend, als wäre ich in einem Nest roter Ameisen, fiel es mir schwer, der Versuchung zu widerstehen, ihn zu bespringen und lebendig zu verspeisen. Dabei hatte ich seit Jahren niemanden vergewaltigt. Der Kerl roch nach der Art Erdbeeren, die man im Wald findet, nicht in Supermärkten; wie wahnsinnig lief mir das Wasser im Mund zusammen, ein Zeichen, dass ich meinen Appetit nicht komplett verloren hatte. Seine perfekten Lippen schenkten mir ein unwiderstehliches Lächeln. Der Schuft hatte keine Angst: Er hatte keinen blassen Schimmer von den Risiken, die er einging. Jérôme kam dem armen Kerl zu Hilfe, indem er mich am Arm packte und flüsterte, er würde für all meine Ausgaben aufkommen. Es war mir völlig egal; ich konnte nicht aufhören, ihn anzusehen. Als er aufstand, bemerkte ich, wie gut gebaut er war, nicht zu dünn und gleichzeitig nicht zu dickbäuchig, stark, aufrecht, gute Schenkel und ein ziemlich feines Arbeitsgerät, das durch seine schwarze, fließende Hose hindurchschien. Er hatte sogar Schultern und Brustmuskeln unter seinem dunkelblauen Sakko, und seine großen Augen strahlten in seinem goldenen Gesicht, unter Lidern, die mit einem Pinsel gemalt schienen. Diese unaufhörliche Kurve war unglaublich! Ich hatte so was noch nie zuvor gesehen! Er sprach nur gebrochen Englisch, und ich natürlich auch, das kam uns gelegen. Er war offensichtlich erfreut darüber, nicht länger als ein Stück Töpferarbeit die Lobby von Foodgourmet zu dekorieren. Ich wollte verschwinden. Ich gab Jérôme meinen Griechischen Salat und schnappte mir den Chinesen. Er hatte nur eine kleine Tasche dabei; er reiste mit leichtem Gepäck, ein echtes Plus. Ich ließ ihn durch den Parc de Belleville laufen, einfach nur, um ihm zu zeigen, dass Paris eine sehr grüne Lunge hatte und dass die schönste Stadt der Welt noch etwas anderes zum Angeben hatte als den Eiffelturm und Sacré-Coeur. »Very nice!« Es war in der Tat sehr schön. Eine Gruppe asiatischer Menschen machte vor Forsythien, die in voller Blüte standen, Tai Chi. Sie würden ihm bestimmt vertraut vorkommen. Ich erklärte ihm, dass wir seine Tasche erst in meiner Wohnung abstellen würden. Wonach stand ihm anschließend der Sinn? »As you like.« Er hätte das nicht sagen dürfen, aber woher hätte er das wissen sollen. Elf Uhr morgens. Ich hatte noch einige Stunden Zeit, dann war er reif. Egal mit welchem Rezept. Ich war bereit, mich mit etwas Schnellem zufriedenzugeben, al dente gekocht. Dort, in der Ruhe des Parks, entschied ich, nichts zu überstürzen, nichts kaputt zu machen. Schön langsam. Wie eine ganz normale Frau. An der Kreuzung der Rue des Pyrénées und der Rue de Ménilmontant zeigte Paris schamlos seine Unterwäsche bis rauf zum Eiffelturm-Strumpfband, wir ließen die Ampel zweimal grün werden, um den Striptease besser zu würdigen. Ich musste an den armen Luc denken, der sich beim Ausladen des...