E-Book, Deutsch, 328 Seiten
Matthies Spielbälle
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-7445-1022-6
Verlag: Herbert von Halem Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Neuverhandlungen der Arbeitswelt im Medium Literatur
E-Book, Deutsch, 328 Seiten
ISBN: 978-3-7445-1022-6
Verlag: Herbert von Halem Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Bereits seit einigen Jahren wird dem Wissen fiktionaler Literatur in den Sozial- und Kulturwissenschaften verstärkte Aufmerksamkeit zuteil. Vor allem der Roman gilt als Medium, dessen Inhalte zwar auf außerliterarische Quellen verweisen, die zugleich aber ein alternatives Wissen über gesellschaftliche Gegenstände vermitteln. Annemarie Matthies geht, dem folgend, in ihrer Arbeit der Frage nach, welches Wissen fiktionale Literatur zwischen 1990 und 2009 über die Arbeitswelt bereithält. Das Werk kann sich dabei auf eine große Materialgrundlage stützen: Analog zu den Transformationen der vergangenen Jahre – vom Systemumbruch zu Hartz IV, vom Platzen der New Economy-Bubble zur aktuellen Finanzmarktkrise – erschienen zahlreiche Romane, welche sämtliche Sphären und Figuren des gegenwärtigen Arbeitsmarktes verhandeln. Dabei zeigt sich, dass die Literatur den Lebensbereich Arbeit ebenso ausführlich wie kritisch beschreibt. Zudem werden Wirklichkeitsentwürfe kreiert, die sich keinem wissenschaftlichen Diskurs zuordnen lassen, auch wenn sie ein Wissen über Arbeit in der Gegenwart vermitteln. Mit diesem interdisziplinären Werk demonstriert die Autorin aufschlussreich, inwiefern das angeeignete Wissen alternativ ist und welche außerwissenschaftlichen Interpretationen der Arbeitswelt derzeit existieren.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Sozialwissenschaften Soziologie | Soziale Arbeit Spezielle Soziologie Wirtschaftssoziologie, Arbeitssoziologie, Organisationssoziologie
- Wirtschaftswissenschaften Volkswirtschaftslehre Volkswirtschaftslehre Allgemein Beschäftigung, Arbeitslosigkeit
- Geisteswissenschaften Literaturwissenschaft Literarische Stoffe, Motive und Themen
- Geisteswissenschaften Literaturwissenschaft Literatursoziologie, Gender Studies
Weitere Infos & Material
I Verhältnisbestimmungen. Arbeitswelt, Erzählung und das Wissen der Literatur
1 Einleitung
Das Thema Arbeit kehrt in den Fokus gesellschaftlicher (Selbst-)Beschreibungen zurück – davon künden Bezugnahmen in Kunst,1 medialem Diskurs2 und sozialwissenschaftlicher Theorie.3 Offen ist zwar, ob es sich dabei um den Anfang einer neuen Gegenwartsdiagnostik oder um ein kurzzeitiges Phänomen handelt; die perspektivische Frage nach Relevanz und Stellenwert von Arbeit in gegenwärtigen gesellschaftstheoretischen Verhandlungen wird sich erst in einigen Jahren beantworten lassen. Angesichts dessen aber, dass Arbeit als gesellschaftliches Verhältnis auch vor ihrer wissenschaftlichen und künstlerischen Wiederentdeckung nicht verschwunden war, erscheint eine andere Frage mindestens so relevant wie diejenige nach ihrem künftigen Status im Diskurs: Wie genau verhält es sich mit der theoretischen Verhandlung der Arbeitswelt in den Dekaden, in denen „Arbeit und Kapitalismus ihren Status als Schlüsselkategorien soziologischer Gesellschaftsanalyse eingebüßt“4 haben? Die Antwort auf diese Frage erweist sich als ambivalent. Einerseits ist weder der Soziologie noch der öffentlichen Wahrnehmung ein Geheimnis, dass die Arbeitswelt bereits seit den 1990er Jahren einer umfassenden Transformation unterworfen wird. Mittlerweile schlüsselbegrifflich besetzte Großereignisse wie der Systemumbruch 1989/1990,5 das Platzen der New-Economy-Blase nach der Jahrtausendwende,6 die sukzessive Umsetzung der Agenda 2010 in den 2000er Jahren7 und die seit 2007/2008 andauernde Finanzkrise und ihre fundamentalen Wirkungen auf die Welt der Arbeitenden gehören zum soziologischen Spezial- ebenso wie zum Allgemeinwissen. Auch im medialen Diskurs lagen und liegen Relevanz und Problematik der Arbeitswelt offen zutage: Schlagworte wie Flexibilisierung, Rationalisierung, Kosten-Nutzen-Kalkulation, Standortsicherung, Profitmaximierung und der dazugehörige Personalabbau sind seit einer knappen Dekade ebenso omnipräsent wie die mit der Arbeitswelt verbundenen Topoi Work-Life-Balance, Burnout-Syndrom, Mobbing und Stress am Arbeitsplatz. Insofern, so lässt sich einerseits festhalten, wirkt es angesichts der Präsenz des Gegenstands fast redundant, von einer grundlegenden Veränderung der Arbeitswelt zwischen den frühen 1990er Jahren und dem Beginn der aktuellen Finanzkrise zu künden. Andererseits jedoch fallt angesichts der fundamentalen Transformation der Arbeitswelt auf, dass die Dauerpräsenz des Gegenstands Arbeit zu keiner Großdebatte geführt hat. Stattdessen entstehen zwischen Systemumbruch und Finanzmarktkrise zahlreiche Diskurse, in denen die Arbeitswelt stets eine Rolle, aber kaum je die Hauptrolle spielt. Dabei kann überdies eher von Einzel- und Spezialdiskursen denn vom Diskurs der Arbeitswelt gesprochen werden: Autonome Verhandlungen – beispielsweise der konfliktreichen psychosozialen Dimensionen der Arbeitswelt8 oder der Erosion von Normalarbeitsverhältnissen9 – nehmen zwar Bezug auf arbeitsweltliche Phänomene und damit verknüpfte politische und ökonomische Entscheidungen und Ereignisse. Sie lassen ihren immanenten Zusammenhang jedoch mehr erahnen als den Zusammenhang selbst zum Gegenstand des Erkenntnisinteresses zu machen. Dabei erweist sich auch der Aspekt der qualitativen Bestimmungen von Arbeit insofern als bemerkenswert, als diese weitgehend inexistent sind. Die Arbeitssoziologin Sabine Pfeiffer weist in diesem Kontext darauf hin, dass die Bestimmung von „Arbeit als Lebenstätigkeit und Gattungsleben, als Naturaneignung und Objektivation und in ihrer Gesellschaftlichkeit“10 nach dem Systemumbruch weder in der Arbeits- und Industriesoziologie noch im öffentlichen und medialen Diskurs Raum habe. Diese Tendenz dauert aktuell an: So hat sich im Zuge der Finanzmarktkrise zwar ‚die‘ Ökonomie als öffentlich verhandelter Gegenstand re-etabliert; das allerdings bei einer gleichzeitigen De-Thematisierung (nicht nur) von (konkreter) Arbeit: „In den aktuellen Debatten über Verlauf und Bewältigung der kapitalistischen Krisen wird viel über Geld in Form von Schulden, Zinsen, Steuern oder Währungen und über Institutionen, die mit Geld umgehen, wie Banken, Staaten und internationale monetäre Institutionen, geredet. Die sogenannte Realökonomie kommt dabei nur am Rande und Arbeit eigentlich überhaupt nicht vor.“11 Während die These, dass Arbeit in aktuellen Debatten „überhaupt nicht“ thematisiert werde, übertrieben erscheint,12 lässt sich der Befund der „merkwürdig abhängige[n] Position“13 von Arbeit dahingehend ausweiten, dass sich ihre bemerkenswerte Dependenz nicht allein in theoretischen Bezugnahmen, sondern vor allem auch in praktischen Umgangsweisen zeigt. Insofern verweist der von Nies und Sauer beobachtete theoretische Stellenwert von Arbeit durchaus auf einen objektiv-praktischen Sachverhalt, der spätestens mit der Finanzmarktkrise und ihren Auswirkungen auf die Arbeitswelt überaus deutlich wird. Zugleich bleibt festzuhalten: Die faktische und empirisch ersichtliche Abhängigkeit der Arbeit von ökonomischen Erfolgsmaßstäben ändert erstens nichts an ihrer Relevanz für die nach wie vor hohe Anzahl derjenigen, welche Arbeit verrichten und auf diese als ihr Lebensmittel angewiesen sind. Zweitens löst auch der stets ex ante angelegte Maßstab finanzieller Rentabilität von Arbeit die Notwendigkeit von Arbeit für eine gesellschaftliche Produktion nicht auf. Zusammengenommen kann gelten, dass Arbeit insofern einen zentralen gesellschaftlichen Stellenwert innehat, als sie sowohl als Sache für sich (als in allen Gesellschaftsformen notwendig zu verrichtende konkrete Tätigkeit) als auch im Kapitalismus der unmittelbaren Gegenwart die auf je unterschiedliche Weise unabdingbare Voraussetzung individuellen wie gesellschaftlichen Lebens darstellt. So jedoch wird Arbeit zwischen 1990 und 2008 theoretisch tatsächlich nicht verhandelt, sondern allenfalls in Formen, welche ihre abhängige Position gleichermaßen widerspiegeln wie beglaubigen: etwa als eine potentiell mangelhafte Tätigkeit, deren Produktivität noch zu steigern ist; als Produzentin von materieller Unsicherheit und Prekarität; als Sphäre psychosozialer Konflikte und Problemlagen; zugleich aber auch als stets zur Disposition stehendes knappes Gut. Einleitend, und an dieser Stelle notwendig verallgemeinernd, lässt sich in Bezug auf die Frage, wie die Arbeitswelt vor ihrer Rückkehr in den Fokus medialen und wissenschaftlichen Interesses gegen Ende der 2000er Jahre verhandelt wird, mithin zweierlei festhalten: In quantitativer Hinsicht wird die Arbeitswelt angesichts ihrer ebenso fundamentalen wie kontinuierlichen Wandlungen erstaunlich wenig thematisiert. Und in qualitativer Hinsicht lässt sich als Tendenz erkennen, dass Arbeit dort, wo sie verhandelt wird, primär als abhängige Variable und darin als problematisches gesellschaftliches Verhältnis bestimmt wird. Die Gültigkeit dieses Befunds allerdings relativiert sich, wenn ein an Bezugnahmen auf die Arbeitswelt nach dem Systemumbruch interessierter Blick ein Medium inkludiert, welches in den Kultur- und Sozialwissenschaften seit einigen Jahren als Wissensträger und Mittler gesellschaftlicher (Selbst-)Beschreibungen verhandelt wird: die fiktionale Literatur. Geradezu spiegelverkehrt zu öffentlichmedialem und wissenschaftlichem Diskurs zeigt sich, dass das, was sich in der Soziologie erst jüngst bemerkbar macht, für die Literatur annähernd selbstverständlich erscheint: dass Arbeit ein Thema ist. Obgleich die Antwort auf die Frage nach einer quantitativen ‚Angemessenheit‘ für die Verhandlung von Arbeit keinen objektiv festlegbaren Kriterien folgen kann, lässt sich doch festhalten, dass sie im Medium der fiktionalen Literatur vergleichsweise massenhaft stattfindet. Vor allem seit der Jahrtausendwende künden zahlreiche Klappentexte von Arbeit und Arbeitslosigkeit, von Ökonomisierung und Entgrenzung in der Arbeitswelt, von Angestellten- und Freiberuflerwelten, von Entlassungen, Burnout, Mobbing und Schikane am Arbeitsplatz. Aber auch in den 1990er Jahren ist die Arbeitswelt keineswegs abwesend in der fiktionalen Literatur, sondern vielmehr ein Gegenstand der besonderen ästhetischen und inhaltlichen Verhandlungsweise. An Diversität mangelt es in der Literatur zwischen den 1990er Jahren und dem Jahr 2008 dabei nicht: Abgesehen von Arbeit in der industriellen Produktion wird nahezu jede Sphäre der kapitalistischen Arbeitswelt literarisch inszeniert. Und es zeigt sich, dass sich nach dem Systemumbruch auch, aber keineswegs ausschließlich bereits etablierte Schriftsteller14 dem Gegenstand Arbeit widmen, sondern dass darüber hinaus eine erhebliche Anzahl junger Autoren durch die erzählerische Bezugnahme auf das Thema Arbeitswelt in Erscheinung tritt. Was in den 1990er und frühen 2000er Jahren von der Industrie- und Arbeitssoziologie vermisst wird – die Hinwendung zu neuen oder veränderten Arbeitswelten15 –, findet im Medium der fiktionalen Literatur dieser Zeit durchaus...