E-Book, Deutsch, 272 Seiten
Mayer Die Vermessung des Unbekannten
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-96092-917-8
Verlag: FinanzBuch Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein Essay über Geld und Gesellschaft in Zeiten radikaler Unsicherheit
E-Book, Deutsch, 272 Seiten
ISBN: 978-3-96092-917-8
Verlag: FinanzBuch Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Seit uns der Glaube an die göttliche Vorsehung abhandengekommen ist, flüchten wir uns in den Versuch, die Zukunft mit mathematischen Wahrscheinlichkeiten zu vermessen und radikale Unsicherheit in berechenbare und somit versicherbare Risiken zu überführen. Da wir nicht alles privat versichern können, haben wir einen »Versicherungsstaat« errichtet, der den Auftrag hat, unsere Lebensrisiken zu minimieren und uns gegen die Restrisiken abzusichern.
Doch dies ist eine Illusion. So sehr wir es uns auch wünschen mögen: Die Zukunft lässt sich nicht vermessen und fundamentale Ungewissheiten lassen sich nicht in kalkulierbare Risiken überführen. Das hat bereits die Große Finanzkrise gezeigt und wird in der Corona-Pandemie eindrucksvoll bestätigt. Dennoch schwingt sich der Staat zum obersten Risikomanager auf. Um die daraus entstehenden Kosten zu stemmen, besteuert der Staat seine Bürger bis zur teilweisen Konfiszierung ihrer Vermögen. Schlussendlich zerstört die Risikogesellschaft – in dem Bemühen, der radikalen Unsicherheit zu entgehen – sich selbst, und der Versicherungsstaat muss Konkurs anmelden.
Thomas Mayer, einer der renommiertesten deutschen Wirtschaftsexperten und mehrmaliger Manager-Magazin-Bestsellerautor, zeigt, wie es dazu kam, dass wir den Umgang mit fundamentaler Ungewissheit verlernt haben, und welche tiefgreifenden Konsequenzen dies in Wirtschaft, Finanzen, Politik und Gesellschaft hat. Er bleibt jedoch nicht bei der Analyse des Problems stehen, sondern zeigt auf, wie ein richtiger Umgang mit radikaler Unsicherheit aussehen könnte, und hat konkrete Empfehlungen für den Einzelnen, der unter den Bedingungen einer kurzsichtigen Politik wirtschaftliche Entscheidungen für die Zukunft treffen muss.
»Thomas Mayer ist einer der besten Kenner der Marktwirtschaft sowie des Finanz- und
Geldsystems, einer, der [...] nicht im Elfenbeinturm der Wissenschaft stecken bleibt.«
Frank Schäffler
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Kapitel 1
Die Dunkle Seite des Mondes
In seinem Roman Die Vermessung der Welt erzählt Daniel Kehlmann die Geschichte von Alexander von Humboldt und Carl Friedrich Gauß.3 Der eine, Humboldt, will die Welt empirisch, der andere, Gauß, theoretisch vermessen. Beide Verfahren ergänzen sich, weil wir die ihnen unterliegende mathematische Logik in einem großen Teil der für uns wahrnehmbaren Umgebung gespiegelt sehen. Wir sehen, was sich uns mit dem uns mitgegebenen Wahrnehmungsapparat offenbart. Aber die Gegenwart ist nur ein flüchtiger Moment. Dauernd müssen wir in der Gegenwart Entscheidungen treffen, deren Folgen sich erst in der Zukunft zeigen. Doch die Zukunft liegt im Dunklen. Wir müssen sie ergründen. Seit uns der Glaube an die göttliche Vorsehung abhandengekommen ist, haben wir uns zu ihrer Ergründung angewöhnt, in mathematischen Wahrscheinlichkeiten zu denken. Wenn wir schon nicht wissen können, was passieren wird, dann können wir doch vielleicht eine Liste der möglichen Entwicklungen erstellen und für jede eine Wahrscheinlichkeit vergeben. In seinem Buch Against the Gods erzählt der Finanzhistoriker Peter L. Bernstein die Geschichte der Vermessung der Zukunft mithilfe der Wahrscheinlichkeitsrechnung.4 Dazu muss mathematisch unfassbare Unsicherheit in mathematisch messbare Risiken verwandelt werden. Aus den uns vorstellbaren, künftig möglichen Entwicklungen wählen wir diejenige mit der höchsten Wahrscheinlichkeit als Prognose und vertrauen darauf, dass die Wahrscheinlichkeiten anderer Entwicklungen mit der Größe der Abweichung von der Prognose sinken. Unsicherheit wird scheinbar zum messbaren und damit versicherbaren Risiko. Einige, aber nicht alle Risiken können wir privat versichern. Deshalb errichten wir den Versicherungsstaat, den wir beauftragen, unsere Lebensrisiken, die wir privat nicht versichern können oder wollen, zu minimieren und die Restrisiken öffentlich zu versichern. Im Gegensatz zur Vermessung der Welt scheitert die Vermessung der Zukunft – und damit der Versicherungsstaat – aber immer wieder an der mathematischen Unbeherrschbarkeit eigentlicher, »radikaler« Unsicherheit, die man auch als fundamentale Ungewissheit bezeichnen könnte. Die Wahrscheinlichkeitsrechnung versagt. Wer lange in den Finanzmärkten unterwegs war, hat dies oft genug erlebt. Er weiß, dass Geldanlegen in der Kunst besteht, mit Überraschungen aller Art umzugehen, vom »gewussten Ungewussten« bis zum »ungewussten Ungewussten« (siehe Kapitel 2). Letzteres, das ungewusste Ungewusste entzieht der Vermessung der Zukunft mit den Methoden der Mathematik vollständig den Boden. Meine erste denkwürdige Erfahrung mit der Unberechenbarkeit der Zukunft machte ich im Jahr 1994, ungefähr vier Jahre, nachdem ich in die Welt der Wall Street eingetreten war. Die Jahre davor war der Zins – hier die Rendite auf zehnjährige US-Staatsanleihen – von 8,9 Prozent im September 1992 auf 5,4 Prozent im September 1993 gefallen. Der Zinsrückgang war eine Bonanza für die Anleihehändler, die diese Papiere für die Lagerhaltung kauften (da der Preis steigt, wenn die Zinsen fallen). Ich erinnere mich heute noch an den Eintrag von Larry Becerra, der bei Goldman Sachs ein großes Rad in diesem Bereich drehte, auf der internen Chatline der Firma: »Buy bonds until your hands bleed!« Als die US-Notenbank, die Federal Reserve, dann Anfang 1994 ihren Leitzins, die Federal Funds Rate, erhöhte, stieg die Rendite auf zehnjährige Staatsanleihen bis auf 8 Prozent im November 1994. Die Preise fielen, die Händler machten Verluste, Goldman Sachs kam ins Trudeln und die Partner der Firma, die damals noch mit ihrem gesamten Vermögen hafteten, verließen reihenweise das Unternehmen. Sogar Steven Friedman, der zusammen mit Jon Corzine Goldman Sachs leitete, schmiss hin. Gefragt, wie es denn sein könne, dass die Firma so viel Geld verloren habe, wenn die Wahrscheinlichkeit für einen viel geringeren Verlust doch mit weniger als 1 Prozent angeben worden sei, antwortete Bob Litterman, der damals oberste Risikomanager von Goldman Sachs, Ereignisse mit mehr als drei Standardabweichungen vom Mittelwert und einer Wahrscheinlichkeit von weniger als 0,27 Prozent seien zwar selten, aber doch möglich. Im weiteren Verlauf der 1990er-Jahre machte ein Hedgefonds mit dem Namen »Long-Term Capital Management« (LTCM) Furore. Treffender wäre der Name »Trades for the Short-term« gewesen. LTCM wurde nicht nur von dem Starhändler (und früherem Salomon Brothers-Chefhändler) John Meriwether geleitet, sondern hatte mit Myron Scholes und Robert C. Merton auch zwei Nobel-preisträger der Wirtschaftswissenschaften in seinem Anlagekomitee. Das Markenzeichen des Fonds war, die auf der Wahrscheinlichkeitsrechnung aufbauende moderne Finanztheorie (Modern Finance) mit enorm gehebelten Finanzwetten in die Praxis umzusetzen. Ich war geblendet von der Reputation dieser mit Preisen geadelten Genies, wenn ich als einfacher Bankenökonom meine begrenzten Überlegungen bei diesem Kunden vortragen durfte (Goldman Sachs war zu dieser Zeit ein Primary Broker für LTCM). Was konnte schon schiefgehen, wenn zwei Nobelpreisträger die Zukunft vermessen würden? In der Asien- und Russlandkrise lösten sich die Berechnungen jedoch in Luft auf, der Fonds ging pleite und drohte aufgrund seiner hohen Verschuldung die ganze Finanzbranche in den Abgrund zu ziehen. Ein Konsortium von Wall-Street-Firmen übernahm die Positionen von LTCM und die US Federal Reserve senkte die Zinsen, um die Lage zu stabilisieren. Damit befeuerte die Notenbank aber nur eine Rally am Aktienmarkt, die schließlich im Jahr 2000 mit dem Platzen der Blase von Internetwerten endete. Als ich im Herbst 2002 von Goldman Sachs zur Deutschen Bank nach London wechselte, sagte man mir, dass das klassische Kreditgeschäft überholt sei. Die Zukunft gehöre sekuritisierten (in handelbare Wertpapiere transformierten) Krediten, deren Risiken man exakt kalkulieren könne, wenn sie nach den Regeln der modernen Finanztheorie geschickt zusammengepackt worden seien. Was sich nicht verpacken ließ, könne man mit Credit Default Swaps gegen Kreditausfall versichern. Unter Anshu Jain, dem Leiter des Bereichs »Global Markets«, drehte die Deutsche Bank ein großes Rad auf dem hochkomplexen Gebiet der Collateralized Debt Obligations. Aber auch da erwies sich der Glaube an die Vermessbarkeit der Zukunft als Illusion. Die »wissenschaftlich« zusammengebastelten Finanzprodukte platzten und lösten die Große Finanzkrise von 2007/2008 aus, die zur Großen Rezession von 2008/2009 führte. Anshu Jain war wegen der aus seinem Bereich kommenden Verluste für die Deutsche Bank zerknirscht, aber Josef Ackermann, der Vorstandsvorsitzende, hielt an ihm fest (was er vielleicht später bereute, als Jain gegen seinen Willen seine Nachfolge antrat). Für mich war die Große Finanzkrise ein Weckruf, stellte sie doch alles infrage, was ich bis dahin als wahr betrachtet hatte. Ich nahm an, dass alle Beteiligten auf der ganzen Welt dies ebenso sehen würden. Doch diese Annahme war naiv und stellte sich als großer Irrtum heraus. Die große Mehrheit der Akteure in der Finanzbranche und in den Zentralbanken machte weiter wie bisher. Sie glaubte weiterhin an die Vermessbarkeit der Zukunft mit wissenschaftlichen Methoden, obwohl sich diese Methoden – weil von der Wirklichkeit falsifiziert –als Pseudo-Wissenschaft erwiesen hatten. Aber auch in anderen Bereichen von Wirtschaft und Gesellschaft klammern wir uns an die Vermessbarkeit der Zukunft und unsere vermeintliche Fähigkeit, damit Risiken beherrschen zu können. Ein herausragendes Beispiel ist der Klimawandel. Für die überwiegende Mehrheit der Menschen ist der Klimawandel das größte Risiko für die Menschheit. Eine »Eurobarometer-Umfrage« der Europäischen Kommission fand heraus:5 Für 93 Prozent der EU-Bürgerinnen und -Bürger ist der Klimawandel ein »ernstes« Problem, für 79 Prozent ein »sehr ernstes«. 92 Prozent der Befragten halten es für wichtig, dass ihre Regierung ehrgeizige Ziele für die Steigerung des Anteils erneuerbarer Energien festlegt, und 89 Prozent der Befragten sind der Auffassung, dass ihre Regierung Maßnahmen zur Verbesserung der Energieeffizienz bis 2030 unterstützen sollte. 84 Prozent sprechen sich für eine Aufstockung der öffentlichen Finanzmittel für den Übergang zu sauberer Energie aus, selbst wenn dies mit einer Kürzung der Zuschüsse für fossile Brennstoffe verbunden wäre. 92 Prozent der Befragten – und mehr als acht von zehn Befragten in jedem EU-Land – sind sich einig, dass die Treibhausgasemissionen auf ein Minimum gesenkt und die verbleibenden Emissionen kompensiert werden sollten, um die EU-Wirtschaft bis 2050 klimaneutral zu machen. Das war im Jahr 2019. Zum Zeitpunkt dieser Umfrage stellte die Mutation des Coronavirus SARS-CoV-1 zu SARS-CoV-2 ein Risiko mit viel größeren...