E-Book, Deutsch, 386 Seiten
Meder Der unbekannte Leibniz
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-412-51377-1
Verlag: Böhlau
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Die Entdeckung von Recht und Politik durch Philosophie
E-Book, Deutsch, 386 Seiten
ISBN: 978-3-412-51377-1
Verlag: Böhlau
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Geisteswissenschaften Philosophie Sozialphilosophie, Politische Philosophie
- Rechtswissenschaften Recht, Rechtswissenschaft Allgemein Rechtsphilosophie, Rechtsethik
- Geisteswissenschaften Philosophie Rechtsphilosophie, Rechtsethik
- Rechtswissenschaften Recht, Rechtswissenschaft Allgemein Rechtsgeschichte, Recht der Antike
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1. Kapitel Einleitung Ist Leibniz der letzte Vertreter barocker Universalgelehrsamkeit, Initiator ›moderner‹ Staatlichkeit oder der erste Globaldenker und damit Vorbote einer neuen Zeit? Die Diskussionen über das Leibniz-Bild sind wieder in Fluss gekommen.1 Dabei herrscht Einigkeit, dass Leibniz mit seinen Arbeiten in den Gebieten von Philosophie, Theologie, Mathematik, Naturwissenschaften, Geschichte und Wirtschaft zu den wichtigsten Persönlichkeiten des europäischen Geisteslebens zählt. Aber gilt dies auch für seine Leistungen in den Rechtswissenschaften? Leibniz’ juristische, rechtsphilosophische und politische Schriften werden oft nur als Ergänzung seiner Beiträge zum Fortschritt in der Mathematik, Logik oder Metaphysik wahrgenommen. Dieses Bild ist schief und bedarf der Korrektur. Als Vordenker der Kodifikationsidee und des politischen Pluralismus hat Leibniz eine Methodologie des Rechts mit großer Wirkungsmacht entwickelt. In seiner Rechtsphilosophie trifft er eine kategoriale Unterscheidung zwischen Gesetz und Recht, so dass er imstande ist, Antworten auch auf aktuell diskutierte Fragen zu geben. Beispiele wären die Kontroverse um das Verhältnis von formalen und materialen Elementen im Recht oder die Diskussionen über eine Abgrenzung von Recht und Nicht-Recht. Aus unserer heutigen ›globalen‹ Perspektive muss darüber hinaus interessieren, dass Leibniz in transnationalen Größenordnungen dachte. Er gehört zu den ersten Theoretikern einer europäischen Föderation, ohne es zu versäumen, Respekt vor außereuropäischen Völkern anzumahnen. Eurozentrismus lag ihm fern. In seinen Schriften über die chinesische Kultur äußerte er einmal sogar den Wunsch, dass ihre Vertreter den Okzident bereisen, um die Europäer den richtigen Gebrauch der Vernunft zu lehren. I. Stationen seines Lebens Als Rechtsdenker kennen Leibniz selbst die meisten Juristen heute nicht mehr. Dies steht in einem eklatanten Missverhältnis zur zentralen Rolle, welche die Jurisprudenz in seinem Leben, und zwar vom Studium bis zum ›Sterbebett‹ gespielt hat: Leibniz wurde als Sohn einer Juristenfamilie zwei Jahre vor dem Ende des Dreißigjährigen Krieges 1646 in Leipzig geboren. Er studierte Rechtswissenschaften und Philosophie in Leipzig und Jena. 1667 ist er von Johann Wolfgang Textor (1638–1701) an der 1526 in Nürnberg gegründeten Universität Altdorf zum Doctor juris utriusque promoviert worden. Bereits 1665 hatte er der juristischen Fakultät in Leipzig eine zivilrechtliche Arbeit über die Lehre von den Bedingungen (doctrina conditionum) vorgelegt und 1666 mit seiner Dissertation De arte combinatoria den Titel eines Doktors in Philosophie erlangt. Angesichts dieser Vorarbeiten bot ihm der Leiter des Unterrichtswesens der Stadt Nürnberg, Johann Michael Dillherr (1604–1669), im Anschluss an seine mit Bravour bestandene juristische Promotion 1667 eine Professur an. Leibniz lehnte die Berufung jedoch ab: »Mein Geist bewegte sich in eine ganz andere Richtung.« Ob er schon damals ahnte, dass die praktische Jurisprudenz sein »eigentliches Berufsfach« werden sollte, wissen wir nicht.2 1668 findet Leibniz eine erste Anstellung am Hofe des Kurfürsten und Reichskanzlers Johann Philipp von Schönborn (1605–1673) in Mainz, dem er sich durch seine Ende 1667 verfasste »Neue Methode, Jurisprudenz zu lernen und zu lehren« (Nova methodus discendae docendaeque Jurisprudentiae) empfohlen hatte. Dort verfolgte er, 1670 zum Revisionsrat am Oberappellationsgericht ernannt, ein wahrhaft pionierartiges Vorhaben. Es handelte sich um nichts Geringeres als die Vorbereitung der ersten modernen Kodifikation, des sogenannten Corpus Iuris Reconcinnatum. In den Jahren von 1672 bis 1676 führten ihn Reisen nach Paris und London, wo er vornehmlich naturwissenschaftliche und mathematische Studien betrieb. Ende 1676 folgte er einem Ruf von Herzog Johann Friedrich von Braunschweig-Calenberg (1625–1679) auf eine Hofrats- und Bibliothekarsstelle nach Hannover. In Hannover entfaltet Leibniz in den folgenden vierzig Jahren bis zu seinem Lebensende auf fast allen Gebieten der Wissenschaften eine rege Tätigkeit, die sich besonders in seinen berühmten Schriften, der Theodizee und der Monadologie, aber auch in einem ausgedehnten Briefwechsel mit über 1000 Persönlichkeiten des europäischen Geisteslebens niederschlug. Die Beschäftigung als Hofrat brachte es mit sich, dass die Jurisprudenz abermals sein »eigentliches Berufsfach« wurde. Dabei entstanden Schriften, die, wie Relationen oder Urteile, unmittelbar der Tätigkeit in der Justizkanzlei entsprungen sind, aber auch wichtige rechtshistorische, rechtsdogmatische und rechtsphilosophische Arbeiten, von denen als Beispiele hier nur die Ausarbeitungen der Tria Praecepta, die Schrift De Jure Suprematus, der Codex Juris Gentium Diplomaticus und die aus Gesprächen mit der Königin Charlotte Sophie von Preußen (1668–1705) hervorgegangene Méditation sur la notion commune de la justice genannt seien. Hinzu kamen Reisen und Aktivitäten als Mitglied der Akademien in Paris und London, die Gründung der Akademie in Berlin und eine ausgedehnte Tätigkeit als politischer Berater, nicht zuletzt von Zar Peter dem Großen (1672–1725), der ihn 1712 zum Geheimen Justizrat ernannte. Auch sein Kodifikationsprojekt verfolgte Leibniz in Hannover weiter. Nach Berichten von Augenzeugen fand sich auf seinem Sterbebett ein Exemplar der Nova methodus, die er überarbeiten und in einer zweiten Auflage publizieren wollte.3 II. Entdeckung der Jurisprudenz durch Philosophie Warum haben Leibniz’ Rechtsideen, zumal unter Juristen, bis heute so wenig Resonanz gefunden? Die Ursachen sind vielfältig. Sie liegen wohl zunächst in der Interdisziplinarität seines Denkens, das nicht nur für viele Zeitgenossen, sondern auch für die moderne Rechtswissenschaft eine große Herausforderung darstellt.4 So ist schon die Tatsache, dass der junge Leibniz mit zwei Double-Degrees in die Welt der Wissenschaft eintrat, heute selbst den meisten Juristen nicht mehr bekannt. Den Anfang bildet eine Arbeit, mit welcher Leibniz 1664 den akademischen Grad eines Magisters der Philosophie erlangt. Sie steht bereits im Spannungsfeld von Philosophie und Jurisprudenz, was auch im Titel zum Ausdruck kommt, der in deutscher Übersetzung lautet: »Musterprobe philosophischer Fragen, die dem Recht entnommen sind«.5 Seine Entdeckung des Rechts durch die Philosophie erläutert Leibniz mit den Worten: »Von der Philosophie genährt, hatte ich meinen Geist der Jurisprudenz zugewandt.«6 Anschließend versuchte er, seine Kenntnisse in dieser Disziplin immer weiter zu vertiefen: Sobald ich nämlich eingesehen hatte, daß ich für das Studium der Rechte bestimmt war, ließ ich alles andere und wandte meinen Geist dorthin, wo sich der größte Gewinn für meine Studien zeigte.7 Das Ergebnis ist die erwähnte Monographie über das Bedingungsrecht (De conditionibus), mit der Leibniz 1665 den Grad des »Bakkalaureus« beider Rechte (iuris utriusque baccalaureus) erwirbt.8 Dass das Werk sowohl auf der Euklidischen Methode als auch auf den Lehren der klassischen römischen Juristen fußt, bedeutet für Leibniz keinen Widerspruch. Denn er erblickt in den Rechtslösungen der römischen Juristen jene Art von mathematischer Rationalität, die den Leistungen der großen Geometer durchaus gleichkomme.9 Die Philosophie bildet abermals den Auftakt, als Leibniz kurz darauf den zweiten Doppelabschluss mit der berühmt gewordenen Promotionsschrift De arte combinatoria (1666) absolviert. Auch sie führt über die Grenzen des Fachs hinaus, wenn Leibniz die Frage aufwirft, wie die »kombinatorische Wissenschaft« eine Rationalisierung des Rechts bewirken könne.10 Noch im gleichen Jahr promoviert er mit der heute weitgehend unbekannten, aber ebenfalls wichtigen Arbeit De casibus perplexis zum Doktor iuris utriusque. Der Titel ist Programm: De casibus perplexis handelt von den verwickelten, dunklen, unklaren und umstrittenen Fällen, deren Lösung nicht einfach aus den Gesetzen abgeleitet werden kann. Noch heute unterscheidet die Rechtstheorie Standardfälle von den sogenannten hard cases, in denen der Jurist eine Entscheidung jenseits der konventionellen Regeln begründen muss.11 Schon in jungen Jahren zeigt sich also die Neigung, den konkreten Fall zum Ausgangspunkt zu nehmen und vom Besonderen aus auf das Allgemeine zuzugehen. Diese Herangehensweise kommt auch in seiner Wertschätzung der Praxis zum Ausdruck: Ich merkte aber, daß meine früheren historischen und philosophischen Studien mir eine große geistige Gewandtheit für die Jurisprudenz verschafften. Ich verstand aus diesem Grunde die Gesetze ohne alle Schwierigkeit und wandte meine Aufmerksamkeit auf die Praxis des Rechts, da ich mich nicht lange bei der Theorie aufzuhalten brauchte, auf die ich als auf etwas ganz Einfaches herabsah. Ich hatte einen Freund, der am Leipziger Hofgericht Assessor Consiliarius war. Dieser nahm mich oft mit zu sich, gab mir Akten zu lesen und lehrte mich an Beispielen, auf welche Weise die Urteile abzufassen sind. So drang ich schon früh bis in das Innerste dieser Wissenschaft ein.12 Mit seinen Vorstößen »in das Innerste« der Jurisprudenz beabsichtigte Leibniz freilich keineswegs, die Philosophie zu verlassen. Im Gegenteil: »Ich sprang zur [Philosophie] zurück, sooft sich...